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Julius Diez (München)

normale Organismus findet die sogenannte Liebe
oder die Freundschaft. Aber es gibt andere narkot-
ische Mittel, die denselben Wahn erzeugen: z. B- die
Manie des Heldenthums oder die Manie des For-
schens ... Dieser letzteren war ich verfallen."

Er verzog die Lippen, als ob er einen unange-
nehmen Geschmack im Munde habe.

„Ich habe davon zu viel genossen, das hat mir
Uebelkeit erzeugt. Heute kann ich dieses Mittel nicht
mehr vertragen."

Dann sprach er in abgerissenen Sätzen, als ob
die Gedanken sich verirrten:

„Menschen? — Was ist der Mensch für den mit
Thatsncheu rechnenden Forscher? — Das raub-
gierigste, ekelhafteste, falscheste Thier. . Das Weib?
Kinder?.. Ich war eine fleißige, nützliche Arbeits-
biene. Die Aufgabe, die. Gattung zu erbalten, habe
ich den Brutbienen überlassen. . Die Welt? — ein
großer Wald! Die Gemeinschaft? — ein Rudel hung-
riger Wölfe! Der Himmel? — eine Glasglocke auf
eine Schüssel mit Fliegengift gestellt. Gott?"--

Er schwieg und sah mit erloschenen Blicken seine
langen vielfarbigen Bücherreihen an.

„Bon dieser Substanz," sprach er nach einigem
Nachdenken, „hat mir keines meiner Bücher ge-
sprochen. Ehemals las ich in der Bibel von Gott,
denn ich brauchte die Bibel zu uminen ethnograph-
ischen Studien. Später habe ich diesen Gott zu-
sammen mit der Bibel meiner alten Amme vermacht.
Uebrigens will ich seine Existenz garnicht leugnen;
ich hatte nur noch keine Zeit, dieselbe persönlich fest-
zustellen. Und mit unbestätigten Thatsachen vermag
ich nicht zu rechnen."

Er senkte den Kopf und seufzte schwer.

„Ueberall Finsterniß . . . überall Leere ... es
ist Zeit zu sterben."

* 4: 4:

Die Glocken der heiligen Johanniskirche ertönten,
und der Klang strömte über die engen, alterthüm-
lichen Straßen hin, es war als ob die Mauern er-
schauerten; das Echo brach sich i.n Schnörkeln, Ver-
zierungen und Winkeln. Durch die offenen Kirchen-
thüren fiel das Licht der hell erleuchteten Altäre
und mächtiger Chorgesang erscholl in Freudenklängen:
„Uesurrexit sicut dixit — Halleluja!"

Sogleich läuteten auch die Augustiner Glocken,
die Dominikaner, der Pauliner Thurm, alle Glocken
antworteten der freudigen Botschaft. Die Häuser,
die Straßen, in denen Menschenmassen wogten, auf
den Plätzen, in den Gärten, wo der drängende
Frühlingssaft die Knospen sprengte, überall ertönte
der eherne Klang der Glocken, und sie riefen eine
nach der andern:

..Halleluja! . . . Halleluja!

Auch in das Zimmer des Einsamen drangen die
Töne, dort versanken sie wie Tropfen eines Frühlings-
regens in trockener, verdurstender Erde. Anfangs
schien er sie gar nicht zu hören, plötzlich erzitterte
er, erhob den Kopf und hörte erstaunt, fast er-
schrocken zu.

„Ach!"^ sagte er, wie aus einer Lethargie er-
wachend, „Ostern .. . Auferstehung! . . . Gott ist von
den Todten erstanden."

Ein Lächeln umspielte seine Lippen.

„Von den Todten erstanden, obgleich die Weisen
ihn für unsterblich erklärten."

Die Klänge wurden immer stärker. Aus der
nächsten Kirche ertönte Orgelklang und die Worte
des Chorgesanges drangen deutlich an sein Ohr:
„L68uri'6xit 8ieut dixit — Alleluja!"

Der Einsame richtete sich auf und wurde sehr
ernst.

„Diese Gelehrtenstube", flüsterte er und blickte
aufmerksam umher, „diese Orgeltöne, das Aufer-
stehungslied, wie alles dies an den ersten Theil
des „Faust" gemahnt. Da fehlen nur noch die Engel-
chöre und Mephisto. Aber der Faust fehlt ja auch,
denn ich habe zu dieser ungereimten Rolle keinerlei
Anlagen. Der Teufel könnte mich wahrlich nicht
in Versuchung bringen. Auf Grethchenscenen war
ich nie versessen und Ausflüge auf den Blocksberg
taugen besser für alte Weiber, die an Schlaflosigkeit
leiden. Und wenn Lueifer meine Seele verlangte,
ich wäre ein nicht zahlungsfähiger Schuldner. ."

Er wollte gern noch einmal lachen, aber er ver-
mochte es-nicht. Die feierlichen Töne, die in der
stillen Nacht erbrausten, wirkten ganz eigenthümlich
auf ihn. Ihm war, als kröchen Ameisen über seinen
Rücken und über seine Kopfhaut. Er stand auf und
ging mit großen Schritten durch das Zimmer, um
seine Nerven zu beruhigen. Aber der Zauber der
Töne verfolgte ihn unablässig und die Tonwellen
umflutheten ihn immer mächtiger.

„Ich bin krank...", flüsterte er, „mir ist schlecht
und dumpf zu Muthe . . ."

Er öffnete das Fenster, um frische Luft herein-
zulassen. Aber gleichzeitig mit der Luft drang ein
mächtiger, tausendstimmiger Schrei in sein Ohr:

„Halleluja! . . . Halleluja! . . ."

Schnell schloß er das Fenster und stand wie be-
täubt da. Er fühlte, daß ein sonderbarer Krampf
ihm den Hals zuschnürte und daß sein Kopf vom
Schwindel erfaßt sei. Er mußte sich an der Sessel-
lehne festhalten, um nicht Hinzustürzen. Und der
Gesang hörte nicht auf, im Gegentheil, er strömte
dahin, wie ein Fluß, der Alles auf seinen Wogen
mit sich riß. Es war, als ob nicht nur Tausende,
sondern Millionen sängen, als ob die ganze Stadt
— die ganze Welt mitsünge . . .

Und plötzlich schwankte der Einsame wie ein Be-
trunkener, verbarg den Kopf in beiden Händen und
rief mit thränenerstickter Stimme:

„O, meine Kindheit! ... Ach Mutter, liebe Mut-
ter !"....

Er bebte am ganzen Körper; seine Brust hob sich
in schweren, heiseren Seufzern. Es war, als kämpfe
er mit einem unsichtbaren Feinde. Endlich fiel er
erschöpft auf seinen Sessel, nahm die Hände von
seinen Augen, die roth aber trocken waren und
stöhnte: „Nein, ich kann nicht weinen!"

Er blieb einige Augenblicke bewegungslos. Aber
der innere Sturm hatte sich nicht beruhigt. Von
Zeit zu Zeit schüttelte ihn ein Schauer und er flüsterte:
„Wenn ich die alten Kindergefühle wieder in mir
erwecken könnte, vielleicht wäre ich dann zu retten . .
ich weiß, daß ich ein gutes, zärtliches, herzliches Kind
war, ich grübelte nur zu viel und wurde menschen-
scheu! .... Ohne die Bücher wäre ich stets ein un-
aufgeklärter, ruhiger, schlichter Mensch geblieben . . .
Mir wäre besser als jetzt... Ich willls versuchen,
vielleicht ist noch nicht Alles verloren . . ." Er schloß
die Augen und sprach wie träumend: .

„Der Ocean der Menschheit floß vor mir her.
In diesem Ocean war Einer vom Anderen nicht zu
unterscheiden. Alle waren wie auch ich — zweifüßige
Thiere ohne Gefieder. In den Frauen sah ich nur
Geschöpfe mit kleinerem Gehirn, allen nervösen
Reizungen zugänglich, unfähig, Begriffe zu unter-
scheiden und größtentheils krank.... Sie erweckten
mein Mitleid und Abscheu — wie Krüppel... Einst
hatte ich einen Hund; noch in meinen Studenten-
jahren theilte er mein Elend mit mir und verließ
mich nicht, obgleich Andere ihn mit guten Bissen
lockten. An diesem Hunde machte ich eine Vivisektion,
weil ich damals durchaus das Gangliensystem stu-
dieren mußte. Der Hund winselte, aber er ertrug
die Pein: ich trieb ihn dann auf die Straße hinaus,
weil ich ihn nicht bei mir krepieren lassen wollte.
Als ich in später Nacht heimkehrte, lag er zusammen-
gekrümmt vor meiner Thür; ich beugte mich nieder,
um ihn am Genick zu packen und auf den Hof zu
werfen. Da begann er leise, ganz leise zu winseln
und leckte meine Hand, und als hätte er nur dar-
auf gewartet, starb er sogleich. Ick) war bewegt;
ich erinnere mich, daß meine Hand zitterte, als ich
ihn sezierte. Aber die Sektion ernüchterte mich voll-
kommen. Es zeigte sich bei dem Hunde Bluterguß
iüs Gehirn, er hatte also ganz bewußtlos gehandelt.
Das, was ich im ersten Moment für Ueberlegung
gehalten hatte, war nur — Reflexbewegung."

Er bedeckte seine Augen mit den Händen, ließ
den Kopf sinken und sprach in dumpfer Verzweiflung:
„Nein, ich kann nicht lieben!"

Augenscheinlich tobte ein Etwas in ihm, das mit
Gewalt nach außen drängte. Sein noch tiefer er-
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Julius Diez: Landschaft
 
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