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Nr. 29

JUGEND

1904

Heinikekr

Von HmeÜa Rosselli

„Mir find schon unserer Zwölf hier drinnen! Zwölf!
wir sollen wohl krepiren, bei dieser kjitze?" schrie erbost ein
Alter und neigte sich zu der engen Wagenthüre heraus.
„Da, seht mal her, ob ich lüge!" Und er bog sich zurück,
damit der Schaffner sich von der Wahrheit seiner Worte
überzeugen könne.

„Rann nicht helfen, Platz muß ihr gemacht werden,"
versetzte dieser gleichmüthig. Und indem er sich an Jemanden
wendete, der, ohne sich zu rühren, hinter ihm stand, sagte er:
„Steigt nur ein. Da, geb^ mir dieses Bündel Herl" und er
streckte die pand nach demselben aus.

„Nein, nein!" wehrte die Frau fast angstvoll ab, „es
geht schon." Und sie stieg ein, mit der einen pand fest den
Griff umklammernd, mit der anderen ein unförmliches, in
Lumpen und Tücher gewickeltes Pack an sich pressend. Dann
blieb sie stehen, als warte sie auf etwas.

pintcr ihr klappte die wagenthüre mit dumpfem Ton
zu, der Zug setzte sich in Bewegung und sie wäre gefallen,
wenn der Alte, der vorhin gesprochen, sie nicht gehalten hätte.

Der plötzliche Stoß hatte einem kleinen, reglosen Arm aus
seinen kappen und Tüchern herausgeholfen.

„Na, Iungens, macht ein wenig Platz!" sagte der Alte
zu den Reisegefährten. „Sie kann nicht die ganze Fahrt
über stehen."

„Die dort sollen Platz machen I" meinte sein Nachbar,
auf die gegeuübersitzeuden Reisenden deutend, doch Reiner
rührte sich. Und inzwischen versuchte die Frau, sich an dem
mit Reisegepäck vollgepfropften Netz im Gleichgewicht zu
halten und schwankte bei jedem Ruck hin und her.

„Ihr auf Eurer Seite seid alle mager," fügte Jener
hinzu, mit stumpfsinnigem Lachen nach dem dicken Bauche des
Mannes hinüberblinzelnd, der neben ihm saß und schnarchte.

„Der ksunger!" erwiderten zwei oder drei Stimmen und
einige Gesichter wandten sich voll stummen Hohns einander zu.

„Kommt, wir rücken ein Bischen zusammen, so gut cs
geht, wir müssen ihr ein Plätzchen schaffen, 's ist Ehristen-
pflicht I" murmelte jetzt eine 2tltc, die plötzlich ein mensch-
liches Rühren fühlte. „Und hübsch warm hält's auch," setzte
sie mit gutinüthigem Spott hinzu.

Nun rutschten alle ein wenig nach links, bis auf den
letzten auf der rechten Seite, der nicht auf seine Ecke ver-
zichten wollte und sich nur etwas mehr zusammenduckte.

„Danke", flüsterte die Frau, die sich neben der Alten
niederließ und nachdem sie äußerst behutsam das steife Aerm-
chen hcrvorgesncht, anfing, dasselbe zu dehnen und zu recke»,
das Bändchen hin und her zu biegen, um die erstarrten
Muskeln zu strecken.

„Eine schlimme Sache, das Reisen mit kleinen Rindern",
bemerkte die Nachbarin, die zngesehen hatte.

„Gho, geben Sie gefälligst Acht — eine Heulerei wollen
wir nicht", rief verdrießlich ein blasser, junger Mensch.

„Ls weint nicht, haben Sie keine Angst", antwortete
die Mutter mit einem seltsamen Lachen.

„Ist es krank?"

Sie zögerte einen Augenblick. „Ein wenig — ja",
sagte sie daun, rothwerdend und mit einem leisen Zittern
in der Stimme.

„Rommt Ihr weit her?"

„von Amerika, Heute früh haben wir gelandet."

Zwei ihrer Nachbarn waren ihre Reisegenossen gewesen
und seufzten.

„So allein?"

„Mein Mann ist drüben geblieben — leider", versetzte
sie traurig, und deutete auf ihr schwarzes Rleid.

„Armes Ding!"

„Und jetzt, wohin geht Ihr?"

„In meine Heimat." Und sie nannte einen kleinen
Marktflecken an der Linie Genua-Pisa.

„Habt Ihr wenigstens etwas Geld auf die Seite ge-
bracht?"

Statt aller Antwort ließ sie den Daumennagel gegen
die Zähne schnellen.

Und nun erhob sich, innerhalb dieser vier Wände mit
ihrem Armeleutgeruch ein eintöniger, trübseliger Thorus:
Rurze, tragische Schilderungen entströmten den müden, hoff-
nungslosen Lippen.

„Ich hatte mir 300 Frauken zusammengespart — sie
sind für den Arzt und Arzneien draufgegangen", erzählte
der bleiche, junge Mensch und seine Blässe sprach deutlich
genug von der Nutzlosigkeit der Ausgabe.

„Ich habe mein Baus und zwei Aecker verkauft, »M
über's Wasser zu gehen und alle sind mir am Fieber go-
storben." „Hier ist mein ganzes vermögen! “ rief ein dritter
mit höhnischem Auflachen, einen Fünflireschcin vorzeigend.

Und währenddessen schien der Zug mit seinem pfeife»
all' diesen Elendes spotten zu wollen, das vergeblich sein
Rlagelied durch die schmalen Fenster entsandte und das sicb-
ohne ein Echo zu finden, draußen in der weiten, reglose»
und stummen Landschaft verlor.

„Wir beide kommen aus Frankreich," sagte ein anderer,
auf sich und seinen Nebenmann weisend, Wir mußten uns
aus dem Staube machen, sie hätten uns sonst noch das Fell
über die Dhren gezogen."

Aber diese Worte stießen auf gleichgültiges, fast feind'
seliges Schweigen. Das Interesse war bereits wieder er-
schöpft, ein Jeder meinte nur seine eigene Geschichte zu hören-

Nur der Mann mit der üppigen Leibesfülle regte sich
von Zeit zu Zeit im Schlafe und murmelte undeutliche
Worte.

„Wie brav das Rindchen ist," bemerkte die Alte.

Die Mutter lächelte matt.

„Ist es ein Junge oder ein Mädchen?"

„Ein Junge," lautete die mit Ueberwindnng gegebene
Antwort.

„Wie viele Monate ist er alt?"

„Neun."

„Unser Herrgott mög' ihn behüten! "

Die Mutter schauerte zusammen.

„Laßt ihn mal sehen," fuhr die Alte fort, neugierig
näherrückend.

„Nein, nein," rief diese erschrocken. „Er schläft," flüsterte
sie dann leise.

Es war Mittagszeit. Alles schwieg, von der Hitze über-
manut. Einer oder der Andere traf Anstalten, feinen In''
biß zu nehmen. Aus den abgenützten Taschen, der halb'
offenen Hemdeubrust tauchten Papierhüllen auf, mit zu>»
Theil sehr fragwürdigem Inhalt. Der Mann mit dein
dicken Bauch war mittlerweile aufgewacht und kaufte sich
Brot und Wurst an einer der Baltestellen. Auch die Fra»
mit dem Rinde begann mechanisch von einem Stück trockene»
Brotes herunterzubeißen.

„Und dem armen Würmchen gebt Ihr nichts?" fragte
die Alte mitleidig. „Es sind doch schon fünf Stunden her,
ieit cs nichts mehr bekommen hat."

Die Mutter schreckte auf.

„Gleich, gleich", stammelte sic. Und als sic gcgeste»
hatte, fing sie an, langsam, langsam ihr Rleid aufzuknöpfc»
wobei die Alte ihr mit jenem Ausdruck von Verklärung z»'
sah, den die Frauen angesichts des feierlichen Aktes aw
nehmen. — Die Mutter hob nur einen kleinen Zipfel dc^
Guches in die Höhe, stemmte den einen Fuß gegen die Ba»b
ihr gegenüber und sich ein wenig über das Rind nieder-
neigend, legte sic dieses an die Brust.

Die Männer machten ihr Platz, forderten ne auf, sicb
bester zu stützen, von einer instinktiven Hochachtung für diese
Mutter erfüllt, die sie an das eigene junge Weib, die eigene»
Rleinen, an alle Freuden und Leiden der fernen £?eiinft»,t
gemahnen mochte.

„Ihr scheint nicht viel Milch zu haben", flüsterte die Alte-

„Nur zu viel, viel zu viel", gab die Andere zurück u»b
ein Schluchzen brach ihre Stimme.

Die Mitreisenden verstummten allmählig wieder unter
der Bruthitze dieser Tagesstunden. Einer oder der andere
rauchte, einige nickten ein. Die Luft war drückend schwer- .
von keinem leisesten Windhauch bewegt. Der Zug eilte
seiner Bestimmung entgegen.

„Schlaf, Rindchen, schlaf", summte die Mutter und ihre
Rechte schlug sanft, wie liebkosend den Takt dazu auf de»'
regungslosen Rörxerchen. „Schlaf, Rindchen, schlaf."

Und die Männer schlossen müde ihre Augen unter dieser»
leisen Singsang. — — —

Ein pfiff, ein Ruf, ein Name — die Mutter sprinö i
in die Höhe, stürzt an die Thllre und versucht zu öffnen-

„Ich komme schon — komme schon", schreit der Schst^'
ner und sie wendet sich jetzt den Reisegenoffen zu: ,,Gli>» I
liche Reise allerseits", murmelt sie hastig. Und rasch ist l" I
unten und während der Zug sich von neuem in Beweg»»'- ^
setzt, bleibt sie stehen und starrt ihm mit gläsernen Augen rt»*j |

„Nein, was stehen Sie denn da wie ein Rlotz!" tb»
plötzlich eine Stimme hinter ihr.

Erschreckt kehrt sie sich um und geht eilends davon, b»"
Rind fest an sich pressend. Sie läßt den Bahnhof hinter f»»'
biegt rechts um eine Ecke, wo ein verlaffencs, so»»e»

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Register
Walter Caspari: Zierleiste
Amelia Rosselli geb. Pincherle: Heimkehr
 
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