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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 9.1904, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 48
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Nr. 4S

JUGEND

1904

Gin halbes Jahr später erhielt ich einen langen
Brief von ihm Zu seiner „Rechtfertigung" (deren
. eS gar nicht bedurft hätte) sandte er mir das
Billct doux von rosafarbenem Papier, das sie ihm
am Tage vor ihrer Entlassung ans dem Institut
geschrieben. Es lautete etwa: „Liebster, zucker-
süßer Herzenspapa! Seit einem Jahre weiß ich,
daß Du das gar nicht bist! Anfangs kostete es
mich viele Tbränen, dann mußte ich Dich noch
immer mehr bewundern und lieben, und nun muß
ich Dir sagen, was ich vorhabe: ich will Deine
Frau werden. Ich glaube, daß ich Dich viel
mehr liebe, als meine arme Mama Dich lieben
konnte, denn damals warst Du doch noch sehr
jung, aber ich habe Dich als Papa so sehr lieben
gelernt, und nun sollte sich auf einmal meine
ganze Liebe zu Dir in bloße Dankbarkeit auflösen v
O nein, Du kannst und darfst das Deinem Kinde
nicht anthun! Du warst schon immer mein
Schwarm, weißt Du, wie alle tapferen Mädchen
zuerst für ihren lieben, schonen Papa schwärmen.
Doch seit dem Tage, an dem mir unsere Vor-
steherin auf meine inständigen Bitten ganz die
Augen öffnete, ist in mir eine Wandlung vor sich
gegangen, und wenn Du mich nicht als Deine
Frau uehmcn willst, was ganz abscheulich von Dir
wäre, so kannst und darfst Du mich doch nicht
verstoßen, und ich werde Dich so lange küssen
und Herzen, bis Tu endlich „ja" sagst und mich
zu Deiner Frau nimmst. Bitte, bitte, bitte, liebes
Herzenspapachcn. mache keine Dummheiten, nimm
mich, — heute Nachmittag mache ich meinen letzten
Spaziergang mit dem Institut; wenn Du uns
begegnest und aus Deiner Brusttasche ein rothes
Taschentuch heransschaut, dann ist es ein Zeichen,
daß ich Deine Braut bin. Willst Du? Aber
dann stelle Dich fest, daß ich Dich nicht umrenne...
nein, nein, ich will mich beherrschen. Aber bei
dem Gedanken an das rothe Taschentuch will mir
das Herz zerspringen. Tausend Millionen Küsse
von Deiner Dich leidenschaftlich liebenden Tochter."

--Seit einem Vierteljahrhundert hatte

ich nichts mehr von ihnen gehört. Ist das mög-
lich? wird der Leser fragen. Ja, es ist möglich,
heutzutage ist alles möglich. Vor Kurzem aber
erhielt ich eine Ansichtspostkarte von einer Farm
Tausende von Meilen weit. Vor dem Hause, malerisch
gruppiert, die Familie, siebzehn Köpfe stark; und
auf den Rändern dies: „Lieber Schorsch! Freuen
uns riesig auf jede neue Nummer der „Jugend",
auch Kinder, Schwiegerkinder und Enkel.

Meine Frau fragt, warum Du nicht ein-
mal unser Stuttgarter Zusammentreffen er-
zählst. Ja warum nicht? Wir sind sehr
glücklich, 1600 herzliche Grüße von uns
Allen I Dein getreuer Zahnbürstenonkel."

Georg Ijirtl»

Schatten

Nun trinkst Du doch tagaus, tagein
Den rothen, dunkelrothen Wein
Und bleibst so bleich, so todtenbleich,

Als blicktest Du ins Schattenreich.

Weh Jedem, der mit Schatten lebt
Und nachts an ihrem Munde bebt,

In ihren engen Armen ruht
Und sie ernährt mit seinem Blut.

Weh Dir, daß Du die Todtcn liebst
Und ihnen Herz und Hilfe gibst,

Schon halten alle Nacht für Nacht
Rings um Dein Bette böse Wacht.

Dienstbarkeit

So spricht das Land zu meiner Thräne:
Wie weit ich mich auch flüchtig dehne —
Der Zwinger eilt mir nach: die Stadt!
Schon siehst Du ihre Hauset fließen,

Die Weite steinern einznschließen;

Bald ist die Wiese hart und glatt.

So tönt — Du mußt es tönen lassen —
Dein Sehnsuchtslied auf allen Gassen
Zur Arohnde der unwerthen Lust.

Und sei es Dir auch schwer zu tragen:

Auch Du mußt einstens Münzen schlagen,
Aus dem Geheimniß Deiner Brust!

Wilhelm Michel

klie Krslljilijlc uom JJriunltiosriitni Mm

Als Meier, der schon auf der Universität der
gute oder der slcißige Meier genannt wurde, sein
medizinisches Schlußcxamen gemacht hatte, sah er
mit Verachtung auf seine Studiengenossen herab,
die sich sofort in die Praxis stürzten. Er wollte der
Wissenschaft treu bleiben. Seit dem ersten Semester
war es ihm klar gewesen, daß er berufen sei, ein
Stern am Himmel der medizinischen Wissenschaft
zu werden.

Da der Professor für innere Medizin ihm im
Examen nach einigen glänzenden Antworten liebe-
voll auf die Schulter geklopft hatte, so beschloß er,
sich der inneren Medizin zu widmen. Er wurde
Assistent an der Klinik für innere Krankheiten. Hier
kurierte, büffelte, streberte er und rückte langsam in
fünf Jahren bis zum ersten Assistenten auf.

Dann endlich ging sein Jugendtraum in Er-
füllung: er wurde als Privatdozent für innere
Medizin in den Kreis der Universitätslehrer aus
genommen.

Es kam jetzt eine Zeit, in der die wissenschaftliche
Welt, soweit sie etwas von der Medizin verstand,
erbebte und vom blöden Staunen in die tiefste Ver-
wunderung versiel. Meier entdeckte neue Gesetze.
Meier gelang es, Bazillen, die schon zehnmal vor-

bei entdeckt waren, endgültig zu entdecken. Meier
ersann verschmitzte Apparate von so unglaublicher
Feinheit, daß man mit ihnen den Puls des Flohs
zählen konnte. Meier stürzte, wie ein wilder Sim-
son, Hypothesen um, die im Laufe der Jahrzehnte
fast geheiligte Wahrheit geworden waren. Meier
entdeckte neue Heilmittel und gleich daraus auch die
neuen Krankheitsbilder, die unfehlbar damit kuriert
werden konnten.

„Dieser junge Meier ist ein phänomenaler Kerl,"
seufzten die alten graubärtigen Professoren, schüttelten
den Kops und zitterten mit den dünnen Beinen.

Zehn Jahre vergingen für Meier in rastloser
Arbeit: aber noch immer war er, der gute, fleißige,
berühmte Meier Privatdozent und Assistent an der
Klinik für innere Krankheiten mit hundert Mark
monatlicher Gage: denn also entlohnt der Staat
diese jungen Ritter der Wissenschaft. Er bewahrt
sie so vor einem herunterbringenden Prasserthum,
erhält sic dünn und ihren Geist beweglich.

Allmählich verlor Meier seinen heiteren Lebens-
muth und ungebändigten Schaffensdrang; denn ein
zehnjähriges Privatdozentendasein pflegt die Galle
zu vermehren und die Nerven, die in beständiger
Erwartung vibrieren, abzunutzen. Alle Privat-
dozenten haben nämlich vom ersten Tage ihres
wissenschaftlichen Daseins an nur eine Sehnsucht,
Professor zu werden und zwar wirklicher; denn cs
gibt auch noch eine Titulalurprofessur. Diese Würde
vertheilt der Staat, etwa wie den rothen Adlerorden
vierter Güte, für treues Aushalten auf dem ange-
wiesenen Platze.

Meier schielte sehnsüchtig nach jedem Lehrstuhle,
dessen Inhaber abgestorben >var. Seine wissen-
schaftlichen Verdienste mußten schließlich doch belohnt
toerden. Aber der Staat schien den guten, fleißigen
Meier ganz vergessen zu haben.

Er hatte einen guten Bekannten, der Hilfsarbeiter
im Ministerium war An ihn schrieb er; denn er
mußte wissen, weshalb man ihm oben grollte.

„Mein lieber Meier," schrieb ihm dieser zurück,
„man schätzt hier Ihre wissenschaftlichen Verdienste
sehr. Aber — Sie wissen ja! Ein Professor ist
nicht nur ein Mann der Wissenschaft, sondern auch
Lehrer der Jugend und Staatsbeamter. Und da
Sie „Meier" heißen und außerdem noch sich der
inner» Medizin gewidmet haben, so hat der Herr
Ministerialdirektor es für selbstverständlich gehalten,
daß Sie — mir fehlt der Ausdruck — nun, daß Sie
nicht zur richtigen Kirche gehören! re. — re!"

Meier schrieb umgehend zurück, daß er
sich sofort, als er Privatdozent geworden,
das vorschristsmäßige Bekenntniß angeeignet
hätte.

Es verging ein Jahr; wieder starb ein
Ordinarius, wieder wurde Meier über-
gangen.

Er fuhr diesmal felbst nach Berlin und
sprach mit seinem Bekannten.

„In," sagte dieser, „lieber Meier! Ter
Herr Ministerialdirektor schätzt Sie als Mann
der Wissenschaft sehr. Ganz ohne Einschränk-
ung! Er hat auch Kcnntniß von Ihrer
Religion genommen. Aber in Ihrem Per-
sonalbogen scheint etwas nicht in Ordnung
zu sein. Der Herr Ministerialdirektor warf
ein paar Aeußerungen hin, — hm — aus
denen ich zu entnehmen glaube, daß Sie
im Verdachte allzu freier politischer An-
schauungen stehen. Solche Leute aber sind
total unbrauchbar für den Staat. Sie ver-
stehen mich doch, mein lieber Meier! Selbst-
verständlich glaube ich, daß man Ihnen

Unrecht thnt, aber-!"

Meier verstand. Und da die Landtags-
wahlen gerade vor der Thüre standen, ließ
er sich als konservativer Wahlmann aufstellen.

Aber auch das half ihm nicht zu der
ersehnten Professur.

Eines Tages traf. Meier einen alte»
Professor, bei dem er als junger Student
Anatomie gehört hatte. „Nun, College
Meier," fragte er, „noch immer nicht Pro-
Register
Walther Unus: Schatten
Julius Diez: Aqua
Wilhelm Michel: Dienstbarkeit
Ernst Aristo: Die Geschichte vom Privatdozenten Meier
 
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