enganschließenden Stoff barg sich ein gut ge-
wachsener, beinahe üppiger Körper- Der Kopf
mit dem braunen schweren Haar war schöngeformt.
Aber ihr Gesicht hatte einen unsäglich leidenden
Zug und bekam durch die ruhelos bewegte Mimik,
Heben und Senken der Brauen, Verziehen der
Mundwinkel einen krankhaft verquälten Ansdruck.
Sie mochte nicht mehr als siebenundzwanzig Jahre
zählen, höchstens dreißig. Als sie die Portiere sich
öffnen und den Arzt sah, erhob sie sich hastig und
ging ihm entgegen.
„Gut, daß Sie endlich kommen, Herr Doktor.
Ich kann es nicht mehr anshalten. Verzeihen Sie
übrigens, daß ich so bei Ihnen eindrang. Mein
Name ist Sophie von Kellen. Mein Mann ist
Bankier in Berlin." Sie unterbrach sich nervös.
„Das thüt übrigens nichts zur Sache. Ich bin
auf der Durchreise."
„Bitte, nehmen Sie Platz. Was führt Sie
zu mir?"
„Um Sie gleich zu informieren: Ich bin
Morphinistin. Sehr hochgradig sogar. Seit zwei
Jahren nehnie ich ununterbrochen das Mittel, zu
dessen Gebrauch mich damals ein nervöses Kopf-
leiden geführt hat. Nun komme ich von der Riviera.
Mein Mann reiste vor drei Tagen nach Hause. Ich
blieb noch zurück und fuhr über den Gotthard hicher.
Auf der Fahrt kam mir durch ein Versehen, oder war
es Diebstahl — mein Gott, ich weiß nicht — die
Handtasche, die meine Morphinmlösung und die
Spritze enthielt, abhanden. Das war heute früh.
Um zehn Uhr. Seither habe ich kein Morphium
mehr bekommen können. Ich bin elend. Fühlen
Sie meinen Puls!"
Und während der Arzt ihre Rechte ergriff, fuhr
sie erregt fort: „Als ich endlich hier ankam, war
mein erster Gang in eine Apotheke, um mir das
Mittel zu holen. Der Apotheker verweigerte es
mir, da ich kein Rezept besaß: auch das ist mir
mit der Handtasche gestohlen worden. Da ent-
schloß ich mich denn in meiner Noch, zu einem
Arzt zu gehen, und, da ich Ihren Schild las, kam
ich hieher. Leider waren Sie nicht zu Hause. Tie
Magd sagte mir, Sie kämen bald, Sie müßten
bald kommen. Ich wartete. Wieder fortzugehen
und in der fremden Stadt, in der ich mich nicht
zurecht finde, einen anderen Arzt aufzusuchen, dazu
hatte ich nicht mehr die Kraft."
Sie schwieg einen Augenblick wie erschöpft.
„Nun machen Sie schnell, lieber Herr Doktor,
und geben Sie mir eine Injektion, daß ich meine
gräßlichen Schmerzen los werde und die Reise
fortsetzen kann!"
„Es thut mir leid, Gnädige Frau, aber ich
kann Ihnen kein Morphium geben."
„Warum?" fragte sie erschreckt. „Sie als Arzt
dürfen es doch thun?"
„Durchaus nicht. Da täuschen Sie sich. Man
ist bei uns nicht so freigebig mit dem entsetzlichen
Morphium. Und ich. versichere Sie, wenn alle
Aerzte so dächten, gäbe es nicht die schreckliche Sucht
nach diesem Gift."
„Aber um Himmelswillen, Herr Doktor. Ich
bin doch schon gewöhnt daran. Ich nehme es seit
zwei Jahren. Tag für Tag. Bedenken Sie. Ob
Sie mir nun die einzige Spritze geben, darüber
brauchen Sie sich doch keine Sorge zu machen. Sie
sind ja nicht der erste Arzt, der mir Morphium
gibt und verordnet."
„Das mag sein. Es gehen eben nicht alle
korrekt vor. Ich denke darüber strenger. Einer
Fremden, die mich darum angeht, Morphium zu
verschreiben, ohne daß ich sie kenne, das geht gegen
mein Gewissen."
„Weshalb sind gerade Sie, zu dem mich ein
Zufall in höchster Noth führt, so hart? Ich leide
unaussprechlich."
„Es ist mein Prinzip, niemandem Morphium
zu verabreichen, außer wenn die strengste Noth-
wendigkeit es verlangt."
„Und diese Nothwendigkeit sehen Sie bei mir
nicht ein?"
„Nein; wenn Sie Schmerzen haben, werde ich
Ihnen ein anderes, unschädliches Medikament geben,
Phenacetin zum Beispiel."
„Hören Sie mir auf mit diesem Zeug! Nichts
von all diesen Pulvern nützt mir. Kein einziges
dieser Mittel kann meine rasenden Schmerzen
lindern."
„Weil Sie es nicht versuchen wollen. Ich
will Ihnen ein halbes Gramm Pyramidon geben.
Darauf lassen Ihre Schmerzen sicher nach."
„Gott, wie Sie mich quälen. Verstehen Sie
denn nicht, daß es nicht allein die Schmerzen sind.
Wegen der Schmerzen käme ich doch nicht in der
Nacht zu Ihnen. Bewahre! Aber es ist ja die
Morvhiumsucht selbst, die nach diesem Mittel ver-
langt und ruft und — hören Sie! — es haben
Max Bernuth (Elberfeld)
muß, koste es, was es wolle. Haben Sie doch
Erbarmen I"
Or. Elsner zuckte die Schultern. „Es nützt
nichts. Ich darf es nicht thun, so sehr ich bedauere,
Ihnen nicht helfen zu können. Es geht gegen
meine Vorschrift, gegen mein Prinzip."
Die Fremde, von Morphiumhunger verzehrt
und gequält, gab den Kampf nicht auf. Sie ent-
nahm ihrem Portemonnaie ein Zwanzig Mark-Stück
und schob es denr Arzte hin:
„Lassen Sie mich doch nicht so leiden! Wenn
es zu wenig ist, sagen Sie, was Sie verlangen.
Aber seien Sie barmherzig!"
Der Arzt rührte das Geld nicht an und erhob sich.
„Verzeihen Sie, Gnädige Frau, wenn Sie mir
noch so viel bieten, darum kann ich doch nicht
gegen meine Dienstpflicht handeln."
Die junge Dame ließ sich nicht irre machen.
„Nehmen Sie das Geld, . . und bedenken Sie,
— wir sind viel bekannt in der Gesellschaft Ber-
lins — ich sende alle meine Bekannten, die an
den See hierher komme», zu Ihnen. Sie sind
ein junger Arzt, der gewiß um eine schöne Praxis
froh sein wird."
Sie stand auf und trat dicht zu ihm hin. Ihr
erregter Athem berührte ihn, als sie fortfuhr:
„Ich bitte Sie inständig, seien Sie nicht hart-
herzig! Erweisen Sie mir diesen Dienst, um den
ich Sie anflehe I"
Er wurde ganz matt von diesem stürmischen
Drängen.
Gewiß, die schöne Frau'that ihm leid. Er sah,
daß sie litt, und konnte auch nicht übersehen, daß
sie ihm viel dafür bot, wenn er ein einziges Mal
von seinem Prinzip, Morphium nur in dringend-
sten Fällen zu geben, abwiche. Was lag schließ-
lich daran, ob er dieser durchreisenden Fremden
da? Gift gäbe oder nicht? Doch, — sein Rezept
muß er mit dem Namen zeichnen! Nein, nicht
einmal! Sie verlangte ja gar nichts Schriftliches,
sie wollte nur eine einzige Injektion. Und mit
einer einzigen Injektion würde er sie losbringen.
Und erhielte für diese Kleinigkeit ein schönes
Honorar und, weiß Gott, wie viele Patienten. —
— Nein. Trotzdem wird er es nicht thun. Er,
der immer so streng darauf gehalten, daß der Arzt
nur nach seinem Ermessen, nie nach den Wünschen
und Zumuthungen der Patienten handeln sollte,
er wäre imstande, jetzt um einer unbekannlen
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wachsener, beinahe üppiger Körper- Der Kopf
mit dem braunen schweren Haar war schöngeformt.
Aber ihr Gesicht hatte einen unsäglich leidenden
Zug und bekam durch die ruhelos bewegte Mimik,
Heben und Senken der Brauen, Verziehen der
Mundwinkel einen krankhaft verquälten Ansdruck.
Sie mochte nicht mehr als siebenundzwanzig Jahre
zählen, höchstens dreißig. Als sie die Portiere sich
öffnen und den Arzt sah, erhob sie sich hastig und
ging ihm entgegen.
„Gut, daß Sie endlich kommen, Herr Doktor.
Ich kann es nicht mehr anshalten. Verzeihen Sie
übrigens, daß ich so bei Ihnen eindrang. Mein
Name ist Sophie von Kellen. Mein Mann ist
Bankier in Berlin." Sie unterbrach sich nervös.
„Das thüt übrigens nichts zur Sache. Ich bin
auf der Durchreise."
„Bitte, nehmen Sie Platz. Was führt Sie
zu mir?"
„Um Sie gleich zu informieren: Ich bin
Morphinistin. Sehr hochgradig sogar. Seit zwei
Jahren nehnie ich ununterbrochen das Mittel, zu
dessen Gebrauch mich damals ein nervöses Kopf-
leiden geführt hat. Nun komme ich von der Riviera.
Mein Mann reiste vor drei Tagen nach Hause. Ich
blieb noch zurück und fuhr über den Gotthard hicher.
Auf der Fahrt kam mir durch ein Versehen, oder war
es Diebstahl — mein Gott, ich weiß nicht — die
Handtasche, die meine Morphinmlösung und die
Spritze enthielt, abhanden. Das war heute früh.
Um zehn Uhr. Seither habe ich kein Morphium
mehr bekommen können. Ich bin elend. Fühlen
Sie meinen Puls!"
Und während der Arzt ihre Rechte ergriff, fuhr
sie erregt fort: „Als ich endlich hier ankam, war
mein erster Gang in eine Apotheke, um mir das
Mittel zu holen. Der Apotheker verweigerte es
mir, da ich kein Rezept besaß: auch das ist mir
mit der Handtasche gestohlen worden. Da ent-
schloß ich mich denn in meiner Noch, zu einem
Arzt zu gehen, und, da ich Ihren Schild las, kam
ich hieher. Leider waren Sie nicht zu Hause. Tie
Magd sagte mir, Sie kämen bald, Sie müßten
bald kommen. Ich wartete. Wieder fortzugehen
und in der fremden Stadt, in der ich mich nicht
zurecht finde, einen anderen Arzt aufzusuchen, dazu
hatte ich nicht mehr die Kraft."
Sie schwieg einen Augenblick wie erschöpft.
„Nun machen Sie schnell, lieber Herr Doktor,
und geben Sie mir eine Injektion, daß ich meine
gräßlichen Schmerzen los werde und die Reise
fortsetzen kann!"
„Es thut mir leid, Gnädige Frau, aber ich
kann Ihnen kein Morphium geben."
„Warum?" fragte sie erschreckt. „Sie als Arzt
dürfen es doch thun?"
„Durchaus nicht. Da täuschen Sie sich. Man
ist bei uns nicht so freigebig mit dem entsetzlichen
Morphium. Und ich. versichere Sie, wenn alle
Aerzte so dächten, gäbe es nicht die schreckliche Sucht
nach diesem Gift."
„Aber um Himmelswillen, Herr Doktor. Ich
bin doch schon gewöhnt daran. Ich nehme es seit
zwei Jahren. Tag für Tag. Bedenken Sie. Ob
Sie mir nun die einzige Spritze geben, darüber
brauchen Sie sich doch keine Sorge zu machen. Sie
sind ja nicht der erste Arzt, der mir Morphium
gibt und verordnet."
„Das mag sein. Es gehen eben nicht alle
korrekt vor. Ich denke darüber strenger. Einer
Fremden, die mich darum angeht, Morphium zu
verschreiben, ohne daß ich sie kenne, das geht gegen
mein Gewissen."
„Weshalb sind gerade Sie, zu dem mich ein
Zufall in höchster Noth führt, so hart? Ich leide
unaussprechlich."
„Es ist mein Prinzip, niemandem Morphium
zu verabreichen, außer wenn die strengste Noth-
wendigkeit es verlangt."
„Und diese Nothwendigkeit sehen Sie bei mir
nicht ein?"
„Nein; wenn Sie Schmerzen haben, werde ich
Ihnen ein anderes, unschädliches Medikament geben,
Phenacetin zum Beispiel."
„Hören Sie mir auf mit diesem Zeug! Nichts
von all diesen Pulvern nützt mir. Kein einziges
dieser Mittel kann meine rasenden Schmerzen
lindern."
„Weil Sie es nicht versuchen wollen. Ich
will Ihnen ein halbes Gramm Pyramidon geben.
Darauf lassen Ihre Schmerzen sicher nach."
„Gott, wie Sie mich quälen. Verstehen Sie
denn nicht, daß es nicht allein die Schmerzen sind.
Wegen der Schmerzen käme ich doch nicht in der
Nacht zu Ihnen. Bewahre! Aber es ist ja die
Morvhiumsucht selbst, die nach diesem Mittel ver-
langt und ruft und — hören Sie! — es haben
Max Bernuth (Elberfeld)
muß, koste es, was es wolle. Haben Sie doch
Erbarmen I"
Or. Elsner zuckte die Schultern. „Es nützt
nichts. Ich darf es nicht thun, so sehr ich bedauere,
Ihnen nicht helfen zu können. Es geht gegen
meine Vorschrift, gegen mein Prinzip."
Die Fremde, von Morphiumhunger verzehrt
und gequält, gab den Kampf nicht auf. Sie ent-
nahm ihrem Portemonnaie ein Zwanzig Mark-Stück
und schob es denr Arzte hin:
„Lassen Sie mich doch nicht so leiden! Wenn
es zu wenig ist, sagen Sie, was Sie verlangen.
Aber seien Sie barmherzig!"
Der Arzt rührte das Geld nicht an und erhob sich.
„Verzeihen Sie, Gnädige Frau, wenn Sie mir
noch so viel bieten, darum kann ich doch nicht
gegen meine Dienstpflicht handeln."
Die junge Dame ließ sich nicht irre machen.
„Nehmen Sie das Geld, . . und bedenken Sie,
— wir sind viel bekannt in der Gesellschaft Ber-
lins — ich sende alle meine Bekannten, die an
den See hierher komme», zu Ihnen. Sie sind
ein junger Arzt, der gewiß um eine schöne Praxis
froh sein wird."
Sie stand auf und trat dicht zu ihm hin. Ihr
erregter Athem berührte ihn, als sie fortfuhr:
„Ich bitte Sie inständig, seien Sie nicht hart-
herzig! Erweisen Sie mir diesen Dienst, um den
ich Sie anflehe I"
Er wurde ganz matt von diesem stürmischen
Drängen.
Gewiß, die schöne Frau'that ihm leid. Er sah,
daß sie litt, und konnte auch nicht übersehen, daß
sie ihm viel dafür bot, wenn er ein einziges Mal
von seinem Prinzip, Morphium nur in dringend-
sten Fällen zu geben, abwiche. Was lag schließ-
lich daran, ob er dieser durchreisenden Fremden
da? Gift gäbe oder nicht? Doch, — sein Rezept
muß er mit dem Namen zeichnen! Nein, nicht
einmal! Sie verlangte ja gar nichts Schriftliches,
sie wollte nur eine einzige Injektion. Und mit
einer einzigen Injektion würde er sie losbringen.
Und erhielte für diese Kleinigkeit ein schönes
Honorar und, weiß Gott, wie viele Patienten. —
— Nein. Trotzdem wird er es nicht thun. Er,
der immer so streng darauf gehalten, daß der Arzt
nur nach seinem Ermessen, nie nach den Wünschen
und Zumuthungen der Patienten handeln sollte,
er wäre imstande, jetzt um einer unbekannlen
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