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Nr. 27

JUGEND

1905

Fremden willen, seine edle Auffassung von Bc-
rufstreue und Pflicht zu vergessen? Nein, er wird
es nicht thun und standhaft bleiben. Um zwanzig
Mark und die paar Empfehlungen aus Berlin
ist ihm seine Pflicht doch nicht feilI

Und um der unliebsamen Scene ein Ende zu
machen, ging er zur nächsten Thüre — es war
die, die in sein Schlafzimmer führte — und sagte:

„So leid es mir thut. Gnädige Frau, ich kann
Ihrem Wunsche nicht entsprechen. Ich darf nicht.
Wir verlieren beide nur unsere Zeit."

Da trat die Fremde dicht zu ihm hin und
faßte seine Hand:

„Um Gottes willen, Herr Doktor, geben Sie
mir das Mittel. Ich flehe Sie an, ich beschwöre
Sie."

„Ich kann nicht."

„Gibt es denn gar nichts, was Sie dazu be-
wegen könnte . . ?"

„Ich bedauere. Sie sehen selbst, daß ich es
nicht thun kann." lieber das blasse Gesicht der
jungen Frau glitt eine plöhliche Röthe. Sie knieete
vor deni Arzte hin, umfaßte seine Füße und brach
in ein krampfhaftes Weinen ans.

Er spürte das gewaltsame Schluchzen, das
ihren Körper erschütterte, fühlte den Druck ihrer
Arme an seinen Knieen und fühlte, wie ihre Lippe»
in stammelnder Bewegung an diese sich preßten.
Weicher geworden, bückte er sich, uni die Kniecnde
aufzuheben. Weiß Gott, diese junge Frau-

Sie richtete sich mühselig an seinen Händen
in die Höhe. Als sie aufrecht stand, ließ sie die
Last ihres Körpers auf ihn sinken und barg ihren
Kopf an seine Brust.

Der Arzt begann schwer zu athmcn. Einen
Augenblick öffnete er weit die Angen, um zu sehen,

wo er sei. Er horchte.-Das ganze .Haus

still.-Er ist allein mit dieser jungen Frau,

die in seinen Armen liegt.

Da vernimmt er, wie sie leise zu ihm sagt:

„Geben Sie mir das Morphium! Eher geh'
ich nicht von Ihnen — und wenn ich die ganze
Nacht hier bleiben müßte!"

Ihm schwindelt.

Das ganze Haus still — niemand erfährt es
— Er ist jung — seit drei Monaten hat er kein
Weib mehr geküßt-

Er zögert noch einen Moment.-Dann

öffnet er rasch das Wandschränkchen und entnimmt
ihm ein kleines, halbgefülltes Fläschchen.

Gedanken

Menschenverachtung ist Selbstüberschätz-
ung. »

In der Politik ist’s wie im Schach. Man
muss warten können, bis der Andere eine
Dummheit macht. ciarin

kleine Leutnants, die mit achtzehn Jahren „eine
sociale Stellung" haben.

Die vereinigten Garnisonen von Protzdorf-
Bombenau sind ans reichen Häusern und die heilige
Barbara wird cavaliersmäßig gefeiert. Freudig
und mit Behagen ißt man sich durch das Menü,
trinkt sich vom Bier zum Champagner, toastet sich
vom Kriegs- und Landesherrn zur Schutzpatronin.

Es ist schon Mitternacht, als die heilige Bar-
bara an die Reihe kommt. Der Oberleutnant bringt
den Trinkspruch auf sie aus: „Die Heilige, die mit
der Zunahme der Civilisatio» ihrem Namen immer
mehr Ehre macht, die durch die Vervollkommnung
der Geschosse zu immer destructiverer Wirkung
kommt, die... ."

Ein Lärmen an der Thür, verstörte Odonnanzen
stammeln, stottern. „Fader Nocken!" hört man
rufen und in den Dunst des Weins, den Qualm
des Tabaks tritt ein strammes, derbes Weib, Sanct
Barbara. —

„Grüß Gott, Kameraden, da Hab' ich doch richtig
Lunte gerochen; seid ja alle versammelt, mich zu
feiern. — Platz gemacht, ihr herzigen Schnecken,"
ruft sie den kleinen Leutnants zu, setzt sich mitten
unter sie, ergreift ein volles Glas und ruft: „Die
Podgorzer Kameraden grüßen euch, ich komme aus
Italien, aus Galizien, da feiern sie mich mit gar
kräftigen Getränken und muß heut' noch über den
Rhein zu meinen feschen anüleurs fran$ais, also
munter voran, was starrt ihr wie die Salzsäulen?"

Der Oberleutnant ist aufgestanden, verbeugt
sich vor der Schutzpatronin, bietet ihr den Arm,
sie soll beim Kommandeur am Ehrenplätze sitzen.

„Ich danke, Kamerad," sagt Barbara und
schlägt ihm mit freundlicher Liebkosung beinahe
das Schulterbein entzwei, „ich bleib' hier bei den
Kindern, — bin ich zwar eine Heilige, so Hab' ich

Die heilige öarbara

Eine mockerne Legencke

Don Käthe 8chirmscher

Vierter Decembcr. —

Die militärische Welt feiert die heilige
Barbara, Schutzpatronin der Artilleristen
und Pioniere, all derer, die das Pulver, wenn
nicht erfunden, so doch zu ihrem Handwerk-
zeug erkoren haben.

Die vereinigten Garnisonen von Protz-
dorf und Bombenau sind in dein gemein-
schaftlichen Casino zu Fest- und Tafelfreude
versammelt. Fahnenschmuck, Tanuenreisig,
glänzende Uniformen, steif stramme Ordon-
nanzen. —

Um den großen Casinotisch die streng
hierarchisirte Welt- und Gesellschaftsordnung
der Rangliste. Oben die Gewaltigen und
Besternten, unten die reine Kinderstube,

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Unternehmungslustig A- v- Kubinyi
»»Wenn sieb meine Waden nicht bet Ter entwickeln, dann
werde ich Beetboven-Gänzerinl“

doch auch Mutterqefühle. Laßt mich nur bei der
Jugend."

Die Heilige ist so familiär, so herzlich, daß bald
jedes Unbehagen ob der Störung verfliegt. —
Den Gewaltigen und Besternten am oberen Ende
des Tisches erscheint die Schutzpatronin, durch den
qualmigen Dunst gesehen, bald nur noch wie ein
stattlich Marketenderweib, ein handfestes Soldaten-
liebchen aus der Schwedenzeit. Die Jugend an
des Tisches unterem Ende aber wird ganz aus-
sätzig. Unter Barbaras Leitung machen sie Brod-
kugeln, die sie nach allen Seiten schlendern, und
der Oberleutnant, den die Heilige in meinem Toast
unterbrach, murmelt vor sich:

Lupus in fabula

Da ist die Barbara. . .

Refrain, der sich bald wellenförmig durch den
Raum ansbreitet und den Barbara mit kräftigem
Faustschlag auf dein Tisch begleitet.

Lupus in tabula

Ich bin die Barbara....

Ein Glas wird angeschlagen, der alte Oberst
steht auf: „Meine Herren . .."

Allgemeines, resignirtes Seufzen, der alte Oberst
ist ein Dauerredner und sein Toast allen längst
bekannt. — Als Säugling war des Obersten erstes
Wort ein Complimeut an seine Amme, als Gpm-
nasist ließ er, mit des Vaters Vorbild, „die holden
Frauen" leben, später nahm er's auch mit den
unholden nicht so genau und jetzt vergeht kein
Fest ohne des Obersten Toast auf die Damen,
Frauen, Mütter...

Barbara hört diesen Toast zum ersten Male.
Durch den Rauch vernimmt sie: „Das Höchste,
Herrlichste und Heiligste, die Frau .. die Mutter,
die Erhalterin der Menschheit.... die Erlöserin
der Mannes .. Die Reine, Gute.. würdig aller
Liebe... aller Hochachtung, aller Verehr-
ung, — ja Verehrung, meine Herren. . .
wie können wir je den Frauen unsere
Dankbarkeit beweisen, wie ihnen jemals ....
ja, meine Herren, tiefste Verehrung ... die
Frauen sollen leben, sollen leben, sie leben
hoch." —

Und „hoch, hoch, hoch" brauste es durch
den Saal.

Und „Blech, Blech, Blech," tönte es
von Barbaras Lippen.

Tiefe, bange Stille. Ein fürchterliches
Beispiel von Insubordination. Der Oberst
beugt sich vor: „Wer hat da — Blech ge-
rufen?"

„Ich, Kamerad." Ruhig kreuzt Bar-
bara ihre drallen Arme ob der vollen Brust.
„Weib, du!" zischt der Oberst.

„ Ja, ja, ich kenne deine Frauenverehrnng,"
sagt Barbara und legt die schwere Hand
fest auf den Tisch.

„Du bist wohl .Feministin', Barbara?"
näselt der Oberleutnant.

„Du, was glaubst du denn," entgegnet
Barbara, „wir sind im Himmel, doch auch
nicht von gestern, die heilige Katharina
hält die „Frauenbewegung" in fünf Exem-
plaren, ich bin himmlischer Oberkanonier,
Jeanne d' Are leitet die Engelkadettenschule
und als es neulich zwischen Charlotte Corday
und Napoleon zur Kanonade kam, hat er
den Kürzeren gezogen."

„Ich will wissen, weshalb du.Blech'
gesagt hast," faucht der Oberst.

„Da setz dich," entgegnet Barbara und
drückt den alten Herrn auf seinen Sessel.
Sie selbst steht in ihrer ganzen Länge und
Kraft auf und beginnt:

„Himmelkreuzdonnerwetter, Bomben und
Granaten, da soll doch das Schockschwerenoth
drein schlagen. Was schwätzt ihr da von
Frauenverehrnng? Das sind ja Phrasen,
Phrasen, hohle Phrasen, die könntet ihr doch
füglich den Gehirnmenschen, den Scribi-
saxen und den Civilisten lassen.

Daß i net lach! Frauenverehrnng l
Register
Alexander (Sandor) v. Kubinyi: Unternehmungslustig
Paul Garin: Gedanken
Käthe Schirmacher: Die heilige Barbara
 
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