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ballschlacht ausgekochten, sodaß wir schon morgens
um acht Uhr mit nasien Schuhen, rothflcckigen
Gesichtern und zerzausten Zöpfen auf unseren
Plätzen saßen und kleinlaut auf Fräulein Schütts
Strafpredigt warteten. Die aber schien nichts zu
merken. Sie sprach langsam und ernst das Morgen-,
gebet und blieb einen Augenblick mit gesenktem
Kopfe stehen, dann sagte sie: „Ich habe Euch die
traurige Mittheilung zu machen, daß unsere liebe
Mitschülerin Helene Weigert gestern Abend ge-
storben ist. Wir werden morgen zu den Trauer-
seierlichkeiten in ihrer Eltern Wohnung gehen."

Sie sagte noch eine Menge Andere?, aber ich
hörte nichts mehr; mir war, als hätte ich einen
Schlag bekommen. Ich saß ganz still da und die
Kälte rieselte mir den Rücken herauf und herunter.
Da fang ich an zu denken: „Todtl — Was ist
das? Wie ist das nun? Liegt sie nun ganz
steif und still und athmct nicht niehr? Und kann
nicht mehr sehen? Weiß nicht, daß jetzt draußen
Schnee liegt und die Sonne drauf scheint? Und
hört nicht mehr die Vögel singen? Und fühlt
nicht, wenn die Mutter sie küßt? Ja, aber was
denn nun?" — Ich fror und die Zähne schlugen
mir aufeinander. Jetzt rief Fräulein Schütt meinen
Namen. Ich wußte nicht, was sie wollte; in der
Klasse war es ganz still. Da sagte Fräulein
Schütt: „Geht nach Hause, Kinder; ich sehe, wir
können heut nicht arbeiten."

Als sie hinaus war, blickten wir einander an.
Wir sahen Alle so merkwürdig aus, so ganz
anders als sonst. Die Größten stellten sich zu-
sammen und flüsterten, wir andern traten hinzu.
„Hu, das ist gräßlich," sagte die eine, „der Tod,
da? ist ein fürchterliches Gerippe. Das kommt
und würgt den Menschen niit seinen Knochen-
händen, bis er nicht mehr athmen kann." —
„Ja," sagte eine Andere, „ich Hab mal so ein
Bild gesehen, und er lachte noch dazu." — „Und
manchmal," sagte eine Dritte, „da sind die Men-
schen gar nicht ganz todt und wachen dann im
Grabe auf; das nennt man scheintodt, und dann
möchten sie gerne wieder heraus." — Ich wollte
davonlaufen, mir die Ohren zuhalten, um nichts
zu hören» und blieb doch, gierig all das Grausige
förmlich einsaugend. Dann rannte ich nach Hause,
athemlos, als ob mir etwas Schreckliches auf den
Fersen sei.

Die Mutter hatte schon von dem Todesfall
gehört, sah mir besorgt in's Gesicht, strich über
mein Haar und sagte: „Lenchen wird nun ein
schönes Englein im Himmel werden." — Ein
Englein!? Die gemalten Engel in den Bilder-
büchern, Gedichte und Geschichten von allerlei
Engeln fielen mir ein. Aber das waren ja doch
Märchen I Lenchen Weigert sollte nun plötzlich
so ein paar steife weiße Flügel bekommen und
da oben hinter den Wolken bernmfliegen? —
Nein, ich konnte nicht d'ran glauben! — Bei
Tisch siel mir ein: nun kann sie auch nichts mehr
essen und trinken und ich brachte keinen Bissen
hinunter. Der Vater sagte: „Besser, daß es jung
gestorben ist." — Ich dachte: besser? Gibt es
etwas Besseres als umherspringen zu können und
lachen und singen? Jeden Morgen jauchzend
aus dem Bett und dann hinaus in die Sonne,
in's Grün oder in den Schnee? Was wird denn
nun mit dem Lenchen? —

Die Frage ließ mich nicht los; ich grübelte
und sann und in dem Gefühl, daß die Großen um
mich her mir doch nicht die rechte Antwort geben
würden, kam ich mir unsäglich einsam und elend
vor. Ich hörte die Mutter im Nebenzimmer sagen:
„Willi sieht so verstört aus; ich möchte sie ani
liebsten nicht zu Weigerts schicken; du keimst ja
auch sonst meine Gründe dagegen." Vater aber
antwortete: „Laß sie ruhig gehen; unser Mädel
wird sich schon zurecht finden."

Mit einem unbeschreiblichen Grauen trat ich
in das große, von dunkel gekleideten Menschen
erfüllte Zimmer. Das Halbdunkel, der betäubende
Geruch von Blumen machte mich beinah schwin-
deln. Krampfhaft vermied ich, auf das weiße,
schimmernde Etwas zu blicken, das da in der
Mitte des Raumes erhöht war; eine Angst, ich

Km Waldbach

Iiudwig v. ßofmann (Weimar)
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