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Nr. 28

JUGEND

1905

könnte da ein Gräßliches zu sehen bekommen,
lähmte mich völlig. Da klammerten sich meine
Blicke an eine blasse schwarzgekleidete Frau, deren
blonder Scheitel mich an Lenchens Zöpfe erinnerte.
Ihr Gesicht war ganz still und ihre großen Augen
sahen voll tiefen Vertrauens und inniger Hin-
gebung zu dem ernsten Manne auf, der ihre Hand
in der seinen hielt. Es durchfuhr mich: das
müssen Lenchens Eltern sein, und ich wunderte
mich, warum die Leute immer so geheimnißvoll
und manchmal mit Achselzucken von ihnen redeten.
Nun drückte der Mann die Hand der blonden
Frau und trat in die Mitte des Zimmers. Meine
Augen folgten ihm und.. da sah ich — zum
ersten Male in meinem jungen Leben den Tod.

Wie schön war das! Still und weiß, mit einem
Lächeln auf den halbgeöffneten Lippen ruhte dort
das Leuchen. Der ängstlich fragende Ausdruck in
ihrem Gesichtchen war erloschen; es lag wie ein
Ja, wie eine wunderbare Zuversicht auf den reinen
Zügen- Um die Schultern schmiegten sich ihre
blonden Flechten und in den durchsichtigen blassen
Händen blühten Maiblumen.

Ein Aufathmen kam über mich, und nun hörte
ich auch die warme Stimme des Mannes sprechen:
„Du gehst nicht von uns, Lenchen; wie ein Keimchen
senken wir Dich in die Erde zu neuem tausend-
fältigem Leben. Und die Erde, die Du befruchtet
hast, wird schöner sein denn je für uns, die wir
Dich lieben. Da werden Gras und Kräuter fröh-
licher wachsen und die Blumen werden süßer duften,
denn sie sind ein Theil von Dir; und der Vögel
Stimmen werden Heller klingen, denn auch sie sind
ein Theil von Dir; und wenn im Sommer der
Wind über die blonden Aehren weht, da werden
wir denken: sieh, Lenchens Haar.. Kein Sterben,
kein Auferstehen, aber Fortleben in tausend neuen
wunderbaren Daseinssormen -.."

Ich lauschte athemlos; und mit jedem Worte
fiel die bange Schwere der letzten Stunden mehr
von mir ab. Ich fühlte dumpf, daß ich etwas so
Schönes und Einfaches gehört hatte, daß es in
mir wie wahr und selbstverständlich erschien- Das
unklare Gefühl, wie wenig ich von diesen Dingen
wußte, und wie ich nun einen Grund und Boden
hatte zum Weitergrübeln, machte mich unruhig
und zugleich still.

Ich wartete da? Andere nicht ab, sondem ging
sacht aus dem Zimmer. Draußen lief ich die
lange Pappelallee entlang bis zum Jagdhaus; ich
mußte ins Freie. Als ich beimkam, traf ich vor
unserer Hausthüre Vater. Er hob mir das Kinn
in die Höh» und fragte: „Nun, mein Mädel?"
Ich sah ihm klar ins Auge und sagte nur: „Ja,
Vater!" Wir verstanden uns immer, aber wir
machten nicht viel Worte. —

Am nächsten Morgen standen in der Klasse die
Großen beisammen und flüsterten aufgeregt mit-
einander. Ich hörte nur noch die Bäcker-Therese:
„Unsere Mamsell hat gesagt, weil kein Geistlicher
mitgegangen ist, kommt sie sicher in die Hölle."

Venedig

„Wohl zu speisen, gnädige Frau!"

„Wohl zu speisen, Herr Professor!"

„Sie kommen von Venedig, gnädige Frau?"

„Ja. Das hatte ich mir ausbedungen, daß
wir unsere Hochzeitsreise nach Venedig machten-
Es war auch zu schön dort mit Fritz. Meine
Freundin hat einen Vetter, der ist Maler, und
der hat immer erzählt, daß eS in Venedig so schön
wäre."

Haben Sie denn — etwas, was viele Reisende
leider nicht sehen — in der etwas abgelegenen
Kirche 8. Maria Formosa das wundervolle Bild
der heiligen Barbara von Faima Vecchio
gesehen?"

„Ja — ach ich weiß nicht genau. Wir haben
soviele Kirchen gesehen."

„Die herrlichen Grabmäler in 8. 8. Giovanni
e Paolo I Nicht wahr?"

„Grabmäler? Ach, das wird die Kirche ge-
wesen sein. Wir suchten eine und fanden sie nicht,
und c« war so heiß; da sind wir dann in eine

andere gegangen. Das war eigentlich langweilig,
und die Museen auch; aber wir mußten doch
dort gewesen sein."

„Die Fahrten auf dem Oanai grande sind
mir jedesmal ein Hochgenuß .."

„Auf diesem Schmutzwasser? Da sind wir
in der Nacht, wo wir angekommen sind, vom
Bahnhof nach dem Hotel gefahren — über alte
Heringstonnen — und die Spitzbuben hat man
schleichen sehen. Ach, das war so häßlich und so
unheimlich! Da habe ich gleich zu meinem Manne
gesagt: In einer Gondel fahre ich nicht wieder. —
Aber die Tauben, Herr Professor, so viel Tauben
auf dem Markusplatze. Da saß ein Mann, der
hat Erbsen verkauft. Da hat mir mein Schatz
eine Düte Erbsen gekauft, und da habe ich die
Tauben gefüttert. Da sind mir zwei auf den
Arm geflogen, die waren ganz zahm. — O, es
war zu schön in Venedig."

„Darf ich mir erlauben, auf Ihr Wohl zu
trinken, gnädige Frau?"

Malter Ehrlich

Wahre Geschichtchen

Dem Laudrathe eines hauptsächlich von Ar-
beitern bevölkerten Landkreises wird ein jnnger
Asscssc> r zur Hilfsarbeiterschaft überwiesen. Beim
ersten Zusammensein sucht sich der Vorgesetzte
über die politischen Anschauungen seines
jungen Kollegen zu orientieren und fragt ihn,
welcher Partei er angehöre. Nach einigem Zögern
antwortet der Gefragte: „Dffen gestanden, z u
gar keiner." Da erwidert der Landrath: „Sie,
Streber, Sie, — Sie wollen wohl Minister
werden!"

Der fünfjährige Hermann steht mit seiner
Mutter vor dem Bilde einer Nixe. Lr schaut das
seltsame lvesen eine Zeitlang an, dann scheint er
es glücklich in der lvelt seiner Vorstellungen unter-
gebracht zu haben. „Gelt, Mama", sagt er, „da
hat ein Fisch eine badende Dame verschlugt,
sie aber nur halb hinunterbringen können?"

Im Morgengrauen

So gern betracht ich früh im Stadtbahnwage»
Die kleinen Mädchen, die, adrett frisiert,

In Kleidchen, die ein wenig abgetragen,

Der Zwang des Lebens ins „Geschäft" entführt.

Wie sie sich in die Wagenecken schmiegen.

Ein bischen müde noch. Der jüngste» Nacht
Verschwieg'nes Glück liegt noch auf ihren Zügen:
Das Auge träumt, indeß das Mündchen lacht.

Vor ihnen liegt der Tag, einförmig, öde,

In trübem Gran. Und doch! Gedenkt sie „sein"
Und „wie er reizend war" — so wird für Jede
Der Tag zu eitel Lust und Sonnenschein.

«eorg Bötticher

F. Christoph e

3m Mai

von Hans vom Walde

Heute kommt es wieder — irgendwo liegt es
in der Lust, irgendwo singt es eine Amsel in den
blauen Frühlingstag hinaus — da kommt es
immer.

ES ist jenes Etwas, das mein Jäger mit den
Worten bezeichnet: „Heunt hat's 'nwieder!"

Sagen thut er es ja nie, daran hindert ihn
schon der Respekt, aber denken thut er sich's.

Weit liegt es zurück, ungreifbar weit, Jahr-
zehnte sind darüber hingegangen, sturnizerzaust,
wetterdurchwühlt waren sie, und doch kommt es
wieder, stiehlt es sich in die Seele das alte Lied,
das alte Märchen „Es war einmal".

Ja, cs war eben mein „Leben", damals. Ich
fühlte es erst nach Jahren. Nach dem ganzen
Glück im Unglück kam eine wilde Zeit, eine Zeit
des tollsten Rausches. Hundert rote Rosen in
jedem Eck. Schauen Sie sich einmal meine Platte
an — ja — ja_

Man sagt der Welt ja nichts Neues Man
hütet sich sogar etwas zu sagen. Uebcrall das
gleiche ironische Achselzucken: Behalten Sie Ihre
Geheimnisse für sich. Was geht das uns an? —

Dann zieht irgendwoher ein schwüler Blüten-
hauch, eine Melodie dazu, abgerissen ohne Zu-
sammenhang, ein Strauß'scher Walzer, oder ein
Motiv aus dem Ring. Das lag damals so eng
beieinander_weißt Du noch? —

Und hier im maifrohen Wald, da gibt es ja
keine Ironie, kein Achselzucken, da kann man sich
gebe», wie man ist, wie man fühlt.

Nur der Hans, der ist so einer!

„Sehg'nS da drüben am Stadel die Reh, der
Bock iS dabei von der Schmalleiten!" flüstert er.

Halt's Maul, hätte ich bald gesagt.

So aber heuchle ich zuerst Interesse, das Glas
kommt vor's Auge, nach und nach schwimmt der
Jäger obenauf... der Bock ist wirklich nicht schlecht,
wirklich nicht!

Und dann gibt es nur Rehe, nur den Bock.

Wo bleibt da die Erinnerung?

Aber sie kommt heute wieder, ich weiß es.

Hans schmunzelt befriedigt: „Er ist halt doch
der recht' Jager, den Hab' i brav aufruckt aus
sei'm Sinnieren."

Er sagt ja wieder nichts, aber sein Gesicht, —
vielleicht hat er recht. Er ist ein Stück Natur,
der hochgewachsene Kerl mit dem breiten Brust-
kasten, dem scharfgeschnittenen Kopf mit den klaren
grauen Augen unter den buschigen Braueu. Eine
rechtschaffene Lieb ist dem garnicht zuzutrauen.

Die Mirzl vom Bergangerhof drüben, sauber
war das nicht damals, da hat schon ein bisserl
Herz mitgespielt, aber das Meiste war doch der
mächtige Sinuendrang in ihni. Mein Gott, das
ist auch schon gute zwanzig Jahre her, die Mirzl
hat im Schwäbischen in einen grundreichen Hof
geheiratet, der Hans ist ledig geblieben. Ein Jager
mit seinen paar Markeln Gehalt und eine Frau
und einen Haufen Kinder! Nix is damit! Fehlet
gerade noch! —

So sind wir Beide nebeneinander alt geworden,
und trotz des großen Unterschiedes, den die so-
genannte Bildung und die dadurch hervorgerufenen
Anschauungen zwischen uns aufrichteten, sind wir
gute Freunde geblieben.

Und wenn wir inanchmal, so um Johanni
herum, vor der Jagdhütte saßen — Stern an
Stern am Himmel, smaragdenes Wiegen und
Schaukeln von hundert Käferchen im Blauschwarz
der Nacht — es war wirklich schön. Und dann
der brave Bock, der am Querbalken vor der Hütte
hing, mit den perlcudeu Rubine» im Aeser — das
war nach der Zeit von damals das Schönste.

Jetzt geht es in den Hochwald. Ganze Beete
reinweißer Maiglöckchen stehen im Moos ... da
kommt es wieder! Jedesmal einen ganzen Strauß
davon trug ich für sie heim, damals. Und später
zur Birschzeit die herrlichen Orchideen, noch be-
hängen von dem funkelnden Perlenschatz des Mor-
geuthaus. Wie da der Wald sang und jubelte.
Heute ist es lange nicht mehr so. Oder glaube
Register
Franz Christophe: Vignette
Hans vom Walde: Im Mai
Georg Bötticher: Im Morgengrauen
Walter Ehrlich: Venedig
[nicht signierter Beitrag]: Wahre Geschichtchen
 
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