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Weltchronik der „Jugend"

vieles hört jetzt der Chronist,
was der Meldung würdig ist!
Erstens etwas, das erfreulich:
Nämlich, daß in Lippe neulich
Jener Erbst reit ward erledigt,
Der die Drdnung dort geschädigt.
Und das weise Reichsgericht
Dahin jetzt sein Urteil spricht,

Dag die Linie Biesterfeld
Lippe's stolzen Thron erhält
Und auf dieser« Throne itzt
Leopold III. sitzt,

Der als Graf-Rcgent bis jetzt
Sich nur mühsam durchgesetzt.

Als der Erste gratulierte,

Wie man diesen proklaniicrte,

Ihm sein Gegner Schaum-

burg-Lipxe,

Als ein Mann aus edler Sippe,
Durch ein herzliches Billet —
Bravo Durchlaucht, das war

nett! l —

Immer giftiger und wüster
kfetzt der Brite Tag für Tag
lvider i entschland, daß man düster
In die Zukunft blicken mag.

Wie vom dösen Geist besessen
Beult das preßbanditen-pack
In den „Times" und ungemessen
Thut's uns Tort und Schabernack.
Nichts ist ihnen mehr zu dumm
Für ihr Lesepublikum,

Reine Lüge zu großmäcbtig
Und kein Schimpf zu niederträchtig,
Und der Tory wie der Whig
Wünscht uns eines nur: den Rrieg!
B»pderttauscnd Menschenleben
Sollen ihren lsandcl heben,

Bringen sollen Ströme Blutes
Ihrer Industrie was Gutes,

Einen Berg von deutschen Leichen
Wählen sie als Waarcnzeichen,
Wenn vom ckuwnsck German nur
Ausgctilgt ist jede Spur
In der Weltmarktsconcurrenz —
Mag davon die Conscquenz
Jammer häufen grenzenlosen,

Auf die Freunde, die Franzose»,
Auf d.n ganzen Continent,

Der im Völkerkrieg entbrennt!
Menschlichkeit und Recht sind Sachen,
Die dem Britenvolk nichts machen,
Worte, die es nicht versteht,

Wenn's um feinen „Rebbach" geht!
Deutschland! Deutschland: es

wird Ernst!

vor dem allerschwersten lsarme
Schützen Dich blos starke Arme
Und es geht um Ropf

und Kragen,

Wenn Du nicht in diesen

Tagen

Wieder kräftig hassen

lernst! —

Vorreden „vorwärts"-

Redaktören

Baben sechse, wie wir hören,
Ihre Feder weggelegt —

Nicht genügend unentwegt.

Nicht genügend wüst und blutig,
Nicht genug zerstörungsmuthig
Waren die entlaffuen Mannen
Eben den Parteityrannen!

Nicht so ethisch und ästhetisch,
Treuer ihrem Narx'schen Fetisch,
Scharf und salzig gleich dem Bering,
Wie der Kautsky und der Mehring,
Wünscht jetzt die Partei den Ton
In des „vorwärts" Redakiion,
wer nicht mitthut, fliegt hinaus I —
Sicht Euch das wie Freiheit aus?
Mir, betracht' ich mir es kritisch,
Scheint es äußerst moskowitisch
Und mißfällt mir wirklich sehr!

Da gefällt es mir schon mehr,
Was gemeldet wird aus Baden,
Wo dem Lande schwerer Schaden
Durch das Ce nt rum hat gedroht,
Wie er jetzo Bayerns Noth.

Aber bei den Landtagswahlen
Bat sich mit den Liberalen
Schnell geeinigt, wie noch nie
Die Sozialdemokratie
Und das Pfaffenthum gebracht
Um die absolute Macht l
Vivat sequens! ruf ich — so
Macht es bald auch anderswo!
So ist's jedem Land zum Beile
Und gesund für beide Th eile! —

Alles scheint im Russenland
Beute außer Rand und Band:
Bier verübt die Polizei
Eine rohe Schlächterei,

Dort zerstört der wilde Pöbel
Dann Fabriken, Bänser, Möbel,

Da thut man der Eisenbahn
Irgend was perfides an,

B>er stört man die Gasbercitung
Dder auch die Kabelleitung,

Die das Dunkel soll erhellen;

Man vernichtet Erdölquellen
Und Millionen sind dann futsch —
Schlag um Schlag und Putsch

um Putsch!

Alles streikt, vom Eiserrbahuer
Bis zum Untersekundaner —

Auf die Iiiiigens, welche streiken
Bau'« Kosaken mit Nagaiken,

Aber auf die Polizisten
Schmeißen Bomben Anarchisten,
Apotheker streiken auch,
was noch nirgends war der Brauch,
Abgesperrt durch grimme Baffer
wird dem Volk sogar das Wasser,
Ja sogar der Schnaps — und der
Gilt bekanntlich dort noch mehrl
Alles schießt und Alles haut,

Alles tobt, daß Eineur graut —
Gegen wen und gegen was

Sich das richtet, weiß inan das?
Manchmal scheint's: in diesem Falle
Kämpfen Alle gegen Alle!

Selbst in Allerhöchsten Kreisen
Ist's — entsetzlich! — nachzuweisen,
Daß die Disziplin schon litt da:
Großfürst Kyrill nahm Melitta,
Die verflosi'ne Schwägerin
Seines Zaren, zur Gemahlin,

Wie bekannt, in Tegernsee —
Ungeniert mit frevlem Sinn,

Doch da traf de; Bannes Strahl ihn:
„Aus den Listen der Armee
Streicht ihn wegen Perfidie mir!"
Rief der Zar entrüstet da,

Doch sein Dnkel, der Wladimir,
Welcher Kyrill sein Papa,

Sagte: „Schickst Du meinen Sohn,
Geh' ich selber in Pension!"

Also schwinden Zucht und Sitte
Allenthalben. Schafft nicht Witte
Sc! lcuiligstBrdnung durchReformen,
Gibt es Krach noch, ganz enormen! —

— Uebrigens, trotz der modernen
Stürme in des Dstens Feinen,
Scheint an unfern deutschen

Grenzen

Alte Moskowiter-Art

Noch iin schönsten Glanz zu glänzen,

wie ein Vorfall offenbart:

Neulich wagtens Grenzkosaken
Gar, auf preußischen: Gebiet
Frech zwei Deutsche

aufzupacken —
Lama hießen sie und Schmidt.
Allem Rechte sprach man Bahn,
Führte sie zum Grenzkordon,
wo man sie mißhandelt hat
Und sodann zur nächsten Stadt,
wo sie zwischen schinutzberußten
Gaunern wolle zupfen mußten.
Endlich, nach zwei langen Tagen
wurden beide, ganz zerschlagen,
Transportiert nach Kattowig,
Preußischer Behörden Sitz,
was Unglaubliches —

o hört! —

wurde ihnen dort erklärt:

„Ueber ihre Arretierung
Ginge zwar an die Regierung
Ein Bericht mit Nächstem weg,
Doch er habe wenig Zweck,

Es verlaufe dortzulande
Ja die Sache doch int

Sande!" —

Ist dem so? Dann gute Nacht,
vielgerühinte deutsche Macht!

Läffcst du es ohne Sühne,
was die Schurken sich erlaubt,
Dann verzieh dich von der Bühne,
Deutscher Michel, überhaupt!

Leg' die waffeti nieder, geh
Schlafen, als Nation a. v. l

Ilerodot

Optimismus

Dem Zaren wurde getueldet, daß
die ausständischen Arbeiter dem
Fürsten Chilkow die Lokomotive
ausgespannt hätten.

„welche Gvation!" rief der
Beherrscher aller Reußen aus, „wenn
das Ernst von Possart erfährt,
wird er vor Neid platzen!"

*

Saum cnique. Die Straße an
dem neuen evangelischen Gottes-
hanse in Innsbruck ist Luther-
straße genannt worden. Man kann
sich die Empörung der ultramvn-
tanen Presse hierüber denken. In
der Hauptstadt des glaubens-
starken Tirols eine Luther-
straße! In anderen Hauptstädten,
in denen die Gunst zwischen Russen
und Japanern, zwischen Protestanten
und .Katholiken mit ängstlicher Ge-
nauigkeit gleichmäßig vertheilt wird,
sintit man daraus, die Parität wieder
herzustellen. Mau will deshalb in
der unmittelbaren Nähe des Berliner
Domes folgende Namen ändern: Der
Lustgarten soll Inquisitions-
Platz, die Kaiser Wilhelms-
Brücke soll Jggnatius von Lo-
hola-Brücke, die Schloßbrücke
Spahnbrücke und die Schloß-
sreiheit Gedankensreihet ge-
nannt werden.

*

Vetriebsmittelgemeinschast.
Die sogenannten württemberg-
ischen Punktali onenund das Ge-
meinschaft samt sind von Bapern
abgelehnt worden, weil diese Ein-
richtungen nicht föderalistisch
genug sind. Gott sei Dank, Bayern
ist wieder einmal der Gesahr der
Verpreußung entgangen. Das
neue föderalistische Programm
für die Betriebsmittelgemeinschaft ist
folgendes: die sämmtlichen deutschen
Eisenbahnverwaltungen liefern ihre»
Wagenpark, ihre Lokomotiven, ihre
Materialien und vor allen Dingen
ihre baren Betriebsmittel an die Ge-
ncraldirektion der bayrischen
Eisenbahnen ab. Jede außer-
b syrische Verwaltung, die Wagen,
Lokoniotiven, Materialien oder Geld
braucht, wendet sich einen Monat
vorher mit einer schriftlichen, aus-
führlich begründeten Eingabe an die
Generaldirektio», die, falls das bay-
rische Bedürfnis gedeckt ist, der Bitte
ganz oder theilweise entspricht. Am
Ende eines jeden Betriebsjahres wird
derG es ammtg e wi nn unter die ein-
zelnen Staaten verteilt, und zwar
je nach dem Berhültniß ihres
Bierkonsums.

Oer Nürnberger Hugenclbrunnen

E. Wilke

Jur 3rtt Aibrecht Dürers gab es einen Jungbrunnen, in dem die alten häßlichen Meiber badeten und also wieder zu holdseligen
Jungfräuleins wurden. Beute planen Oberbaurath von Kramer und Prof. Dr. Hie einen Brunnen, bei dem der Vorgang um-
gekehrt ist: Die schönen nackten Jungfrauen steigen hinein und kommen als alte, häßliche Weiber wieder heraus!
Register
[nicht signierter Beitrag]: Optimismus
Herodot [Pseudonym]: Weltchronik der "Jugend"
[nicht signierter Beitrag]: Suum cuique
Erich Wilke: Der Nürnberger Tugendbrunnen
[nicht signierter Beitrag]: Betriebsmittelgemeinschaft
 
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