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Sommermorgen

Die Karyatiden

Ton Josefa Mey

Line Villa im Garten. An der Vorderseite, unter
dem Dach zwei Karyatiden. Am Fuße der Freitreppe
ein großes Beet mit Iris.

Die eine Rarpatide: Athmest Du, Schwester?
Die andere Raryatide: Ich athme.

Die eine: Blickst Du?

Die andere: Ich blicke.

Die eine: Spürst Du den Duft der blauen
Iris, die zu unfern Füßen sich Hinbreiten?

Die andere: Ich spüre ihn.

Die eine: So Hai auch Dich der Dollmond
erlöst nach zehn Jahren toten Daseins?

Die andere: Ja, auch mich hat er erlöst.
Er läßt mir das Herz schwellen, er läßt es
schwellen vor Stolz, daß ich noch immer Trägerin
des Dauses bin gleich Dir, meine Schwester.

Die eine: wir tragen das Haus nicht, wir
schmücken es. O süßes Glück: schmücken zu
dürfen!

Die andere: wir sind nicht sein Schmuck,
wir sind seine Kraft. Ohne uns würde es Her-
niederbrechen: Das Haupt des Dauses ruht auf
unfern Armen.

Die eine: (verzückt hinabblickend) In tiefen:
Blau blicken sie zu uns empor, die Irisblüthen.
Goldene Flammen schlagen aus ihrem Schoße.
Könnte ich mich herabbeugen zu ihnen, ihren
Duft zu trinken wie wein aus der Schale.
Könnte ich mich zwischen sie Hinstrecken, daß sie,
blauen Schwertern gleich, mich umstarrten, meine

Ruhe zu hüten, wie sehne ich mich nach den
Irisblumen, die ihren Teppich uns zu Füßen
breiten.

Die andere: Ich blicke herab auf das
schmeichelnde Blau der Blüthen und ihr Duft
steigt empor zu meiner Höhe.

Die eine: Dollmond, erlöse mich zur Be-
wegung! Nimm die Starrheit von meinen
Gliedern, daß sie in freiem Spiele sich regen.
(Der Vollmond taucht sie in hellstes Licht.)

Die andere: Hier ist unser Platz, auf unserer
Kraft ruht das Haus.

Die eine: Schwester, siehe, er umfängt mich
mit seinen silbernen Armen. Meine Hände, starr
über dem Haupt verschränkt, wollen hernieder-
sinken. . .

Die andere: Rühre Dich nicht vom Platze!...

Die eine: Sie binden nicht, seine silbernen
Ketten, sie lösen. . .

Die andere: Schwester, rühre Dich nicht!...

Die eine: Er leitet mich an seinen zarten
Ketten. —

Die andere: Halt fest, halt fest, wir stützen
das £)aus.

Die eine: Zehn Jahre stelle ich starr auf-
gerichtet, ich will mich Hinstrecken auf das blaue
Bett der Iris, auf das der Mond silberne Kränze
wirft.

Die andere: wenn Du Deine Hände lösest,
stürzt das Dach zusammen. Zehn Jahre steht
das Haus, ein junges Haus noch, es darf nicht
stürzen.

Otto Selgsriberger (Wasserburg)

Die eine: Nie noch habe ich meine Arme
ausgebreitet. Ich will sie ausbreiten in die laue
Luft der Sommernacht hinein. Meine Finger
sehnen sich nach dem kühlen Thau auf den Sammet-
blättern. — Ich fühle, wie der Mond meine
Hände küßt ... sie wollen sinken. . .

Die andere: Schwester, Schwester ziehe Deine
Hände nicht fort! das Haus zu stützen ist unsere
Pflicht!

Die eine: Ehe der Blitz mich zerschlägt, ehe
die Zeit mich zerbricht, will ich einmal zwischen
den blauen Blüthen gekniet haben. . .

Die andere: Unser Dasein ist Pflicht!

Die eine: Unser Dasein ist Sehnsucht. . .

Die andere: Thu Deine Pflicht I

Die eine: Erfülle-Deine Sehnsucht.

Die andere: (ausschreiend) Schwester, was thust
Du?l . . .

Die eine: Er küßt mich frei, ich folge meiner
Sehnsucht. (Sie löst sich langsam von der Säule
und gleitet in den Garten hinab.)

Die andere: Schwester! . . .

(Pause. — Die eine Karyatide schreitet mitten in
das Blumenbeet hinein und kniet nieder.)

Die eine: (die Arme breitend) Ach. . .

Die andere: (tief erstaunt) Sie hat das Haus
verlassen . . . und es ist nicht zusammengebrochen.
Sie hat sich von ihm gelöst und es hat nicht ge-
wankt ! . . .

Die eine: (ihr Gesicht in die Blüthen ver-
grabend) O Ihr Blauen, Duftenden! . . .

Die andere: Zehn Jahre glaubte ich, es mit
der Kraft unserer Arme zu tragen, und nun. . .

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Josefa Metz: Die Karyatiden
 
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