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Nr. 29

JUGEND

1907

Und fic ließ ihn in den Garten kommen und
pflückte ihm einen ganzen Strauß dunkelroter
Rosen. Und als er sie freudig umfing, sagte sie:
„Junge, du wirst einmal noch ganz glücklich
werden l"

Aber das wollte nicht kommen.

Der Vater starb, als er gerade die schule ver-
laffen sollte, pinrich hatte Gärtner werden wollen;
aber die Mutter und die vielen jüngeren Geschwister
mußten einen Verdiener haben.

„Er ist ein guter Junge, doch gelernt hat er
nicht viel," sagte sein Lehrer. „Für schwere Arbeit
ist er zu schwach, aber er hat eine wunderschöne
Handschrift, ich werde ihm eine -teile bei einem
Recktsanwalt verschaffen."

Und nun schrieb er tagaus, tagein, uiib jeden
Groschen seines Lohnes brachte er der Mutter.
Nach fahren wurde er Viätar bei der Vormund-
schaftsbehörde. Da stand das Glück vor seiner
Türe. Er war so stolz auf seinen Titel, daß er
es wagte, eine langgehegte stille Neigung zu ge-
stehen. „wenn die Geschwister erst versorgt sitld,
heiraten wir."

Aber das dauerte seinem Lieschen viel zu
lange, und sie freite einen anderen, der die Hoch-
zeit nicht so lange hinauszuschieben brauchte.

So blieb er allein. Und als alle Geschwister
endlich flügge waren und sich ihr eigenes Nest
gebaut hatten, war er ein alter einsamer Jung-
geselle. Er hätte nun aus dem Gang wegziehen
können, in breitere hellere Straße::; aber es hielt
ihn etwas fest, er wußte nicht was, was er nir-
gends anderswo fand.

Seine Handschrift war noch viel schöner ge-
worden, und in seinen freien Stunden schrieb er
sich oft Gedichte ab, nicht weil er an ihnen eine
besondere Freude gehabt hätte, nein, weil ihr
Klang ihm Wohltat, und weil sie so viele große
Buchstaben hatten, die er mit allerhand Laub-
und Blunlengeratike verzieren konnte. Durch ein
solches Blatt wurde er mit dein Lehrer seiner
kleinen Nichte bekannt, einem frischem: wander-
frohen Mann. Lines Tages machte ihm dieser
den Vorschlag, mit ihm eine Alpenreise zu machen.
Er erschrak über die Kühnheit eines solchen
planes und wies ihn weit von sich. Aber acht
Tage später fragte er doch, was das wohl kosten
könne, und nach abermals acht Tageil sagte er:
„Ich gehe mit."

Die Vorbereitungen zur Reise versetzten ihn
in eine fieberhafte Aufregung. Bei jedem Stück,
das er sich zu seiner Ausrüstung kau te, kämpfte
er einen geheimen Kampf. Ls sei ja eine Sünde,
so viel Geld für sein Vergnügen auszugeben.
Seine Schwestern, seine Neffen, seine Nichten hättet:
eher Anspruch darauf. So alt zu werden und
noch so töricht zu sein, eine Schande sei es!

Und dann saß er auf einmal im Ferienzuge
mitten zwischen den vielen Lehrern und Lehrerin-
nen. Lachen und Scherzet: und Singen rings um
ihn her. Eil: Heller Glanz lag auf den Gesichtern,
als ob aller Schulstaub auf ewig abgeschüttelt sei
utid die jungen frohen Kinderseele:: mit ins Freie
flögen. Er drückte sich schuldbewußt in eitle
Ecke. Du bist ein Eindringling, du gehörst nicht
dazwischetl. Aber was half's? Der Zug nahm
Um mit, mit in den übermütigen Lärm des Abends,
mit in den Halbwachen Schlummer der
Nacht, mit in der: leuchtenden Schimmer
des Morgens. Nahm iht: mit an Städten
und Dörfern vorbei, durch taufrische Felder,
durch nebelduftige Berge, ttahn: ihn mit
und setzte ihr: gerade wie alle anderen in
München auf den Bahtlsteig.

wie in: Traum folgte er seinem Führer
durch die Museen. „Ist das ::icht schön?"

.Ja."

wie im Traum fuhr er am Starn-
berger See vorbei nach Garmisch und wun-
derte mit ihm durch die partuachklamm.

„Ist das nicht großartig?" „Ja!"

Und dant: ging es gleich weiter über
den grütien Eibfee zum Thörle hinauf :n:d
hinunter irach Ehrwald. Früh am atlderen
Tag über dei: ganzen Fernpaß, vorbei an

dunkelblanet: und lichtgrünen Seen, weiter und
weiter. „Ist das nicht herrlich!" „Ja!" „Ist
das nicht wunderbar?" „Ja!"

Er hielt tapfer aus, wein: er auch manchmal
tiefaufatmend hinter seinem Gefährten herkeuchte
in:d mm erst verstand, warum man liefen im Ferien-
zuge als Siebenineilenstiefelmann begrübt hatte.

So jagten sie vergnügt durch die Täler, durch-
rannten die päffe, stiegen über die Joche ^und
kletterten auf die Berge und am achtel: <l.age
kamei: sie von St. Ulrich her auf die Seiffer Alpe.

Auf schmalem Fußsteig zogen sie zur l^eißbeck-
Schwaige Ulld stärkten sich in: kühlen Schatten an
einem Trunk frischer Milch. Draußen in: Grase
auf plaids, Decken, Mänteln lagen die wander-
mätmlein und Wanderweiblein ul:d babeten sich
in den glühheißen Sonnenwellen.

Der Lehrer mahnte nach kurzer Rast zum Auf-
bruch. „Sehen Sie, da, quer über die Alpe, da
wo die rote wand aufsteigt, das ist der Schleri:,
da müssen wir heut noch hinauf, es ist nur ein
Katzensprung. Und dann gehts in die Dolomiten.
Vorwärts!"

„Aber, k^err Melkers, hier ist doch gar kein
weg, wir zertreten ja die Blumen."

„Hier ist alles weg. vorwärts!"

Ui:d sie gingen und gingen durch Gras und
Blumen, durch Blumei: und Gras.

Eii: Heller Schimmer legte sich auf das faltige
Gesicht des alten Diätars, und seine Seele zitterte
wie eil: Schlnetterling, der die Flügel heben will.

Eine kleine weile ging er mit vorsichtig ge-
setzten Schrittei: dahill, dann blieb er plötzlich
stehen. „Lassen Sie mich hier, Herr Melkers, ich
kann nicht weiter."

„Silld Sie erschöpft, petersen? Fehlt Ihnei:
etwas?"

„Nein, ich möchte nur noch hier bleiben."

„Das Schöllste kommt ja l:och, die Doloiniten.
Vorwärts I"

„Ich habe gellug gefehenl Laffei: Sie mich
hier." —

„was wollen Sie denn auf der langweiliger:
bunten wiese?"

l^inrich petersen schwieg.

„wollen Sie mir denn Nachkommen, petersen?"

„Nein, ich will noch einen Tag hierbleiben
und dani: wieder nach Hause fahrer:."

„M Sie unverständiger Meirsch, Sie verlaufen
sich ja beim erster: Schritt, den Sie allein tun."

„Lassei: Sie mich nur. Sie haben keine Ver-
arrtwortullg. Ich danke Ihnen, Herr Melkers,
daß Sie mich mitgenoinmer: haben. Seiei: Sie
nicht böse, aber ich bleibe hier!"

Das karn so fest heraus, daß der Lehrer mit
einem halb bedauernder:, halb unwilligen: „Na,
alt genug sind Sie ja, dani: adjö!" ihm die Hand
reichte ur:d weiterschritt.

Hinrich petersen blieb stehen und sah ihm
lange nach, urrd als er seinen Augen entschwunden
war, stieß er einen Schrei aus, so laut, so jubelr:d,
daß er über sich selber erschrak. Dann warf er
sich nieder ins Gras und schloß die Auger:.

wars denn wirklich wahr? Er, Hinrich petersen,
aus dem kleirien Schuhmachergang in Hamburg
war in diesen: unermeßlich großen Garten? Er
durste hintreten, wohin er wollte? Um ihn her

blühten tausend Blumen, tausenderlei blühten in
allen Farbe,: und Formen, und er durfte pflücken
was er wollte, alles war sein, er war ein Herr
ein großer Herr! war's denn wirklich wahr? '

Noch fester schloß er die Augen. Ls sollte
ihm nicht entrinnen. Eine purpurleuchtende Glut
braimte ihm ins Gesicht, aber wie eine weiche
Kinderhand fuhr der wind kühlend hinterher
und eii: leises Klingen und Summen stieg vom
Boden auf und es war, als ob tausend kleine
Stimmchen riefen: Da ist er! Da ist er!

So lag er lange da, träumend, schauend, fühlend
mitten in: Arn: des Glücks.

Dann tat er ein klein wenig die Augen auf:
„Da nickt eine Glockenblumei" dann öffnet er sie
noch ein bißchen weiter: „Das sind primeln," dann
noch mehr: „Das ist Storchschnabel und Vergiß,
meinnicht und Zittergras und — und —"

Dann riß er sie ganz auf, sprang auf seine
zwei Beii:e, breitete die Arme aus und rief: „Es
ist wahr! es ist wahr! es ist ganz sicher wahr!"

Und dann ging er weiter. Nein, ging nicht,
sprang, hüpfte wie ein Kind von Blume zu
Blume, sah sie an, betrachtete die seltsamen
Formen der nie gesehenen, betastete sie und sprang
weiter hügelauf, hügelab, pflückte auch einige,
aber nur bekannte.

Da horch I was plaudert da unten? Ein
Wässerchen, und Büsche und Bäun:e drängei: sich
um es heran, als wollten Sie es beschützen. So
mag die Elbe aussehen, wenn sie noch eil: Kind
ist, dachte er. . .

Und so zieht er hin und her und wird nicht
müde, sein weites, blühendes Reich zu durchwandern.
Da flammt es vor ihm auf. Auf den roten
Dolomitei:felsen liegt der Schein der Abendsonne,
und tief unten aus dem Tale, aus der Decke des
Halbdämmers heraus, guckei: Städte u::d Dörfer
wie neugierige Kindergesichter hervor. Vom Hügel
über ihm klingen die Herdenglocken in die tiefe,
friedliche Stille hernieder. Er hat nie gelernt zu
beten, aber nun verschränkt er doch die Hände.
Eine leise, sehnsüchtige Andacht durchschauert ihil,
und wortlos jauchzt seine Seele: M Welt, wie
bist du schön!

Die Nacht bricht an. Er benFt nicht daran,
ein Haus aufzusuchen. Er ist ja zu krause. Sein
Rucksack gibt ihm Speise und Trank. Er streckt
sich unter einen Busch und schläft ein. Da stehen
seine Kameraden aus der Schulzeit bei ihm.

„Dunnerslag, Hein, un dat is all dien?"

Er grient sie vergnügt an: „Dat's all mien!"

Und da kommt Lieschen und schlägt die Hände
zusammen: „Hinrich, Hinrich, nee, wo kann dat
man angan l"

„All mien!"

Und er schaut sich glückselig um in seinem
Besitztum und streckt wie schützend die Arme aus.

Und plötzlich sieht er jene bleiche Frau aus
dem Gartenhaus wieder vor sich stehen. Sie lächelt
ihn au und fragt: „Nun, Junge, hatte ich nicht
Recht, daß Du noch einmal ganz glücklich sein
würdest?"

Er nickte und wollte auf sie zuschreiten, um
ihr den Strauß reichei:. den er in der Hand hielt:
Da war sie verschwunden, und er erwachte.

Der Mond schien ihm hell ins Gesicht.
Er sprang auf und blickte erstaunt um
sich her. Das ganze weite Gefilde lag vor
im in einem weichei: milden Schein. Es
war, als ob eine leuchtende Riesenblume
sich geöffnet, und Mond und Sterne waren
die goldenen Staubbeutel, die au den Hellen
Strahlenfäden hingen.

Mit seinem Strauß in der Hand schritt
er langsam der kommende:: So::ne entgegen.

Noch einen ganzen Tag schwelgte er in
Glanz und Duft, in Licht und Farbe.

Dann zog er heim und brachte das
Glück dieser Stunde mit in sein dunkles
Stübchen im kleinen Schuhmachergang, all-
wo es ihm leuchtete bis an sein Ende.

I. Loewenberg

H. nisle t
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Heinrich Nisle: Vignette
 
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