Nr. 52
1907
zu Raufe zu wissen. Die „alte bteFe
Frau mit Spuren ehemaliger Schön-
heit" wie's einmal in den Akten
der Geheimpolizei hieß, als man
ein Weib suchte, das mehrerer
Beate der Unterschlagung und des
Betrugs verdächtig schien. Jetzt wo
sie ihre Strafe abgesessen, lebt sie
vom Betteln. Und sie bettelt nicht
nur für sich, dann und wann auch
für uns . . .
Leiter, strahlenden Antlitzes em-
pfängt mich Gertrud. Ihre erste
Frage: Gb ich etwas „gehabt habe?"
Sie meinte, ob ich etwas zu essen
gehabt hätte. wir hatten Beide
seit fast vierundzwanzig Stunden
nur je eine Tasse Milch genossen.
Und wie viele Tage des Hungers
und der Bot lagen scholl hinter
uns! Fast ängstlich berichtet sie mir
dann, daß die Alte nichts heimge-
bracht habe. Sie habe Niemand
zu Raufe angetroffen, da Sonntag
sei. Der Pfarrer von St. Bonifaz
habe ihr zehn Pfennig geschenkt.
Damit es reiche, habe sie dafür ein Runde-
freffen gekauft, „Rundsfressen" sagte Gertrud.
„Raft Du was davon gegessen?"
„Ja, ein paar Bröckeln; das Beste Hab' ieh mir
'rausgesucht. Aber ich wollt', ich hätt's nicht
gegessen."
Ich scbweige und durchmesse einige Male inein
Atelier. Ich weiß, daß die Alte ohne zwei bis
drei Maß Bier nicht zu Bett geht. Doch ich
bleibe ruhig, vollkomnlell ruhig. Ich lächle fast.
Vielleicht werd' ich die Alte uocR einmal ermorden;
ich weiß nicht, was aus dieser lächelndeir Buhe
noch herauswachsell kann. — Gertrud war mir
mit den Augen nachgegangen. Nun stehe ich vor
ihr. Ihr Gesicht ist auffallend schmal. Von
der Nasenwurzel zu den Wangen hin ein leichter
gelblich-grüner Rauch. Ihre Augen größer als
sonst und mehr Glallz darin. Diese Augen, die
zu Trost und Roffnung verführen wollen! — Ich
küsse sie. Mehr kann ich llicht sagell. Sie küßt
lnehrfach zurück und klammert sich fest um meinen
Rals. Ich drücke mich sanft an ihren Leib, der
den Reim zu neuem Leben birgt. Ich liebe sie,
vielleicht mehr als ich weiß. Aber in diesem Augen-
blick Hab ich die Empfindung, als ob ich ihr nicht
so gehöre, wie sie mir; als ob ich etwas anderes
inehr liebe. Etwas anderes. Etwas in mir.
Vielleicht meinen Gott, wenn wir das Röchste, was
wir empfinden, nennen wollen, sagen wir „Gott."
„Gelt," sagte sie, „küssen föutteu wir doch!
wenn wir auch nichts zu effeit haben" ...
Ich sitze allein auf dem Diwan des Ateliers.
Meines Ateliers! Auch die Studien dort an den
wänden und die Skizzen und Entwürfe sind
meines. Fast hätte ich's vergessen. Auch die
Leinwand auf der Staffelei mit meinem halb-
fertigen Paradies in den Farben des Begenbogens.
Dem Paradies aus der Zeit, da die Menschen noch
nicht die Menschen von heute waren, und die
Schätze der Erde noch nicht verteilt waren, mit
dem Werdejauchzen aus Augen und Rehlen. Das
alles ist mein es. . .
Dort drüben ist die Sonne hinunter gegangen.
Ein modrig gelblich-grüner Rauch liegt noch an
der Stelle, wo sie hinunterging. Dort drüben
hinter den Räuserwürfeln und Pappelbäumen.
Ein langgestreckter aschgrauer wolkeuleib, wie
von ungefähr am Rorizont heranfgekrochen, schiebt
sich langsam heran, fast unbeweglich, als ob er
stille stehe. Und doch kriecht er leise, ganz leise
über das urodrige gelbliche Grün. Ein unsichtbares
Vor- und Nachschieben seiner Flaumteilchen. .. .
Es will dunkel werden. Aus einer nahen
Soldaten - Spelunke wirbelt Musik in kreischend
anfbriugltcReu Rlängen. wie leicht ich geworden
bin! Als wär ich voller Roffnung, Zuversicht
und Gewißheit! Nichts von Schwere mehr in
mir, nichts, das zusainmenzieht, hinunterzieht!
Als wiegte ich mich auf einer Wolke. Nur eine
leise Wehmut hält inein Auge noch zur Erde.
Und die Erde selbst — tanzt sie nicht, jetzt rechts,
jetzt links — zum Takte der Musik? Und dabei
fliegt sie ihre Bahnen unaufhaltsam weiter, leicht
und geräuschlos, einer Seifenblase gleich, hinaus-
geblasen von einem kindlichen Gotte. . .
Nicht von ungefähr ist diese Stille und leichte
Buhe über mich gekommen. Diese Herz- und
hirnlösende Buhe. wie lange ist's her — da lag
ich auf demselben Diwan mit gelähmten Gliedern,
wie angeschmiedet, und aus meiner Brust drückte
es und drückte und zog langsam hinunter, daß
ich in das Innere der Erde zu versinken glaubte.
Und dann zuckte mir etwas durchs Rum, und ich
sprang auf: „Lustig! Luftig!" rief ich mir zu,
und in regellosen Sätzen tanzte ich über den Bo-
den meines Ateliers. „Reisal Reisal" rief ich
mir zu und wirbelte mit den Armen: „Das ist
ja Alles mir Leben, nur Leben!"
Und ein andermal — das ist freilich schon
lange her — ich glaube, daß das der Wahnsinn
war! denn ich klammerte mich krampfhaft fest
an die Lehne des Diwans und bohrte mein Gesicht
in ihre Polster und schrie und griff mit der Rand
um mich her, ob ich keinen Strick fände, mich
festzubinden. Denn es riß mich mit Allgewalt
zum offenen Fenster hin, als ob da drunten, da
drunten auf den Steinplatten mein Reil wäre.
Und nicht eher war ich ruhig, bis Gertrud kam
und mich mit ihren Tränen und Rüssen über-
deckte. wie lange das schon her war!
Aber heute bin ich ruhig und so leicht und
so frei! Und es ist um kein Raar besser ge-
worden. . . .
Bei Gertrud freilich ist an Stelle der früheren
Angst, Verzweiflung und Trostlosigkeit — neue
Roffnung getreten und neue Ausblicke in die Zu-
kunft. Und es scheint zu wachsen, je näher sie
der Entbindung entgegengeht. Sie hofft ans ihre
Arbeit, auf die 50 bis 75 Pfennige, die sie sich
am Tage verdienet: kam: — jetzt wo die Saison
wieder da ist! Morgen will sie zwei gehäkelte
Spitzentnuster in Geschäfte tragen und vorzeigen,
um Arbeit zu bekommen! 0, ich kenne diese Roff-
nnng und ihre Ursache viel zu gut und die matten
ausgehungerten Füße, auf denen sie steht, wenn
sie Wirklichkeit wird . . .
Gertrud war inzwischen hereiilgekoinmen und hat
sich, fast utibeinerkt von mir, neben mir auf dem
Sofa niedergelassen. Vorsichtig hat sie die Tür
hinter sich geschlossen.
„Sie weint drauß nub flucht und sakramentiert",
sagt sie, „als wenn damit etwas gebessert wäre."
Ich schweige. Es ist vollständig dunkel ge-
wordem Drüben in den Räuserwürfeln, bereu
Umrisse noch zu sehen sind, entzünden sich da und
dort fTeine lichte Punkte. Aus der Soldaten-
spelunke herüber wirbeln kreischende
walzerklänge. Sonst ist alles still.
Und diese Buhe in mir, diese furcht-
lose, hoffnungslose Buhe! Diese
Stille der Seele, die mein Sein
wiegt! wo ist mein Schmerz hinge-
kommen und mein Mitleid mij
Gertrud, das mich einst zu vernichten
drohte? Und die Rälte und Rärte,
die Rärte der erkannten Notwendig-
keit, die meinen Schmerz gemordet,
aber so schwer in mir lag wie ein
Stein — wo ist sie hingekommen?
— Und doch is?s um nichts, um
gar nichts besser geworden. Wahn-
witz dünkt es mich heute, zu hoffen,
Erlöst hätte mich lange der Tod,
wär ich allein gewesen, — so aber
mußte das Leben mich erlösen ...
Plötzlich berühren sich unsere
Rände, Gertruds linke und meine
rechte. Ich drücke die ihre, sie
drückt wieder, lange. Dann beuge
ich mich über sie und suche ihre
Lippen.
„Rast du Runger, Rind?"
„Nein, ich müßte lügen, wenn ich schon nichts
gegessen als die Taffe Milch am Mittag und den
Lacao an: Morgen und an: Abend das Runds-
freffen."
Ich denke daran, daß sie auch gestern nur zwei
Eier hatte und eh: Stückchen Wurst am Abend.
„Rast du Ropf schmerz?"
„So schlecht ist mir. Ich glaub, ich Hab mich
geekelt und muß mich erbrechen."
Ich denke au i>as Rind in ihrem Leibe. Einen
Augenblick ist mir, als laufe es mir über die
Wangen herab. Zwei dicke Tropfen. Es klebten
sogar die unteren Augenlider. Aber ich kam: nicht
geweint haben. Ich weiß, daß ich nicht weinte.
Ich bin völlig ruhig. Eii: leichtes wiegen von
Ropf und Brust.
„wenn ich gewußt hätte, daß die Alte nichts
bringt, hätte ich mir heute was geben lassen für
dich, da wo ich zu Besuch gewesen. Mbwohl ich
weiß, daß sie selbst brauchen was sie haben, und
auf die Gefahr hin, daß mir auch diese letzte Türe
verschlossen wird."
„Nein, das kannst du nicht, das darfst du nicht
tun . . ."
Gertrud ist ins Schlafzimmer gegangei:. Ein
herzliches Umarmen, dann ging sie hinaus. Ich
sitze noch einige Zeit im Dunkeln. Der Gedanke
beschäftigt mich, ob die Liebe schon mit dem Tod
aufhöre. Es mußte doch nicht richtig fein, daß
mit dem Tod alles aufhöre. Die Liebe nicht!
Ich fühle das jetzt deutlich. . . .
Ich habe den Best einer Rerze entzündet und
mir einen Rrug Wasser hereingeholt, aus den: ich
mehrmals trinke. Dann lösch ich das Licht wieder,
um es in der Nacht für alle Fälle noch gebrauchen
zu können, und lege mich rücklings auf mein Sofa.
Ich bi:: nicht müde, aber irgenb etwas schließt
mir die Augen. Eii: herzliches Lächeln muß mir
auf den Lippen gelegen Habei: in diesem Augen-
blick. Nach einiger Zeit wache ich auf. Ich hatte
nicht geträumt, aber ich glaube, ich wurde wach,
als eben die Musik in der Soldatenspelunke auf-
hörte.
Es ist Alles ruhig und dunkel. Eii: Mensch
kommt die Straße herunter. Mir ist, als ob jeder ictuer
Schritte eine:: leichten Eindruck in meinem Rin:
hinter lasse. Leise heb ich mich iu der Dunkelheit
von meinem Sofa auf und bewege mich lang-
sam dem offenen Fenster zu. Die körperliche Be-
wegung des Sich-Emporreckens ii: die sternerhellte
Dunkelheit und die leichte, luftgetragene Verfassung,
in der meine Seele sich befindet, wachsei: zu einer
Vision zusammen, zu der Vision eines sterbenden
Prometheus-Ehristus, welche fast gleichzeitig m
Wort und Rhythmus sich auslöst. Lauschend still,
eii: Empfangender, stehe ich einen Augenblick m
geistesabwesei:der Verzückung. Hub dann schreibe
ich, der lUaler — beim entzündeten Rerzenrest —
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zu Raufe zu wissen. Die „alte bteFe
Frau mit Spuren ehemaliger Schön-
heit" wie's einmal in den Akten
der Geheimpolizei hieß, als man
ein Weib suchte, das mehrerer
Beate der Unterschlagung und des
Betrugs verdächtig schien. Jetzt wo
sie ihre Strafe abgesessen, lebt sie
vom Betteln. Und sie bettelt nicht
nur für sich, dann und wann auch
für uns . . .
Leiter, strahlenden Antlitzes em-
pfängt mich Gertrud. Ihre erste
Frage: Gb ich etwas „gehabt habe?"
Sie meinte, ob ich etwas zu essen
gehabt hätte. wir hatten Beide
seit fast vierundzwanzig Stunden
nur je eine Tasse Milch genossen.
Und wie viele Tage des Hungers
und der Bot lagen scholl hinter
uns! Fast ängstlich berichtet sie mir
dann, daß die Alte nichts heimge-
bracht habe. Sie habe Niemand
zu Raufe angetroffen, da Sonntag
sei. Der Pfarrer von St. Bonifaz
habe ihr zehn Pfennig geschenkt.
Damit es reiche, habe sie dafür ein Runde-
freffen gekauft, „Rundsfressen" sagte Gertrud.
„Raft Du was davon gegessen?"
„Ja, ein paar Bröckeln; das Beste Hab' ieh mir
'rausgesucht. Aber ich wollt', ich hätt's nicht
gegessen."
Ich scbweige und durchmesse einige Male inein
Atelier. Ich weiß, daß die Alte ohne zwei bis
drei Maß Bier nicht zu Bett geht. Doch ich
bleibe ruhig, vollkomnlell ruhig. Ich lächle fast.
Vielleicht werd' ich die Alte uocR einmal ermorden;
ich weiß nicht, was aus dieser lächelndeir Buhe
noch herauswachsell kann. — Gertrud war mir
mit den Augen nachgegangen. Nun stehe ich vor
ihr. Ihr Gesicht ist auffallend schmal. Von
der Nasenwurzel zu den Wangen hin ein leichter
gelblich-grüner Rauch. Ihre Augen größer als
sonst und mehr Glallz darin. Diese Augen, die
zu Trost und Roffnung verführen wollen! — Ich
küsse sie. Mehr kann ich llicht sagell. Sie küßt
lnehrfach zurück und klammert sich fest um meinen
Rals. Ich drücke mich sanft an ihren Leib, der
den Reim zu neuem Leben birgt. Ich liebe sie,
vielleicht mehr als ich weiß. Aber in diesem Augen-
blick Hab ich die Empfindung, als ob ich ihr nicht
so gehöre, wie sie mir; als ob ich etwas anderes
inehr liebe. Etwas anderes. Etwas in mir.
Vielleicht meinen Gott, wenn wir das Röchste, was
wir empfinden, nennen wollen, sagen wir „Gott."
„Gelt," sagte sie, „küssen föutteu wir doch!
wenn wir auch nichts zu effeit haben" ...
Ich sitze allein auf dem Diwan des Ateliers.
Meines Ateliers! Auch die Studien dort an den
wänden und die Skizzen und Entwürfe sind
meines. Fast hätte ich's vergessen. Auch die
Leinwand auf der Staffelei mit meinem halb-
fertigen Paradies in den Farben des Begenbogens.
Dem Paradies aus der Zeit, da die Menschen noch
nicht die Menschen von heute waren, und die
Schätze der Erde noch nicht verteilt waren, mit
dem Werdejauchzen aus Augen und Rehlen. Das
alles ist mein es. . .
Dort drüben ist die Sonne hinunter gegangen.
Ein modrig gelblich-grüner Rauch liegt noch an
der Stelle, wo sie hinunterging. Dort drüben
hinter den Räuserwürfeln und Pappelbäumen.
Ein langgestreckter aschgrauer wolkeuleib, wie
von ungefähr am Rorizont heranfgekrochen, schiebt
sich langsam heran, fast unbeweglich, als ob er
stille stehe. Und doch kriecht er leise, ganz leise
über das urodrige gelbliche Grün. Ein unsichtbares
Vor- und Nachschieben seiner Flaumteilchen. .. .
Es will dunkel werden. Aus einer nahen
Soldaten - Spelunke wirbelt Musik in kreischend
anfbriugltcReu Rlängen. wie leicht ich geworden
bin! Als wär ich voller Roffnung, Zuversicht
und Gewißheit! Nichts von Schwere mehr in
mir, nichts, das zusainmenzieht, hinunterzieht!
Als wiegte ich mich auf einer Wolke. Nur eine
leise Wehmut hält inein Auge noch zur Erde.
Und die Erde selbst — tanzt sie nicht, jetzt rechts,
jetzt links — zum Takte der Musik? Und dabei
fliegt sie ihre Bahnen unaufhaltsam weiter, leicht
und geräuschlos, einer Seifenblase gleich, hinaus-
geblasen von einem kindlichen Gotte. . .
Nicht von ungefähr ist diese Stille und leichte
Buhe über mich gekommen. Diese Herz- und
hirnlösende Buhe. wie lange ist's her — da lag
ich auf demselben Diwan mit gelähmten Gliedern,
wie angeschmiedet, und aus meiner Brust drückte
es und drückte und zog langsam hinunter, daß
ich in das Innere der Erde zu versinken glaubte.
Und dann zuckte mir etwas durchs Rum, und ich
sprang auf: „Lustig! Luftig!" rief ich mir zu,
und in regellosen Sätzen tanzte ich über den Bo-
den meines Ateliers. „Reisal Reisal" rief ich
mir zu und wirbelte mit den Armen: „Das ist
ja Alles mir Leben, nur Leben!"
Und ein andermal — das ist freilich schon
lange her — ich glaube, daß das der Wahnsinn
war! denn ich klammerte mich krampfhaft fest
an die Lehne des Diwans und bohrte mein Gesicht
in ihre Polster und schrie und griff mit der Rand
um mich her, ob ich keinen Strick fände, mich
festzubinden. Denn es riß mich mit Allgewalt
zum offenen Fenster hin, als ob da drunten, da
drunten auf den Steinplatten mein Reil wäre.
Und nicht eher war ich ruhig, bis Gertrud kam
und mich mit ihren Tränen und Rüssen über-
deckte. wie lange das schon her war!
Aber heute bin ich ruhig und so leicht und
so frei! Und es ist um kein Raar besser ge-
worden. . . .
Bei Gertrud freilich ist an Stelle der früheren
Angst, Verzweiflung und Trostlosigkeit — neue
Roffnung getreten und neue Ausblicke in die Zu-
kunft. Und es scheint zu wachsen, je näher sie
der Entbindung entgegengeht. Sie hofft ans ihre
Arbeit, auf die 50 bis 75 Pfennige, die sie sich
am Tage verdienet: kam: — jetzt wo die Saison
wieder da ist! Morgen will sie zwei gehäkelte
Spitzentnuster in Geschäfte tragen und vorzeigen,
um Arbeit zu bekommen! 0, ich kenne diese Roff-
nnng und ihre Ursache viel zu gut und die matten
ausgehungerten Füße, auf denen sie steht, wenn
sie Wirklichkeit wird . . .
Gertrud war inzwischen hereiilgekoinmen und hat
sich, fast utibeinerkt von mir, neben mir auf dem
Sofa niedergelassen. Vorsichtig hat sie die Tür
hinter sich geschlossen.
„Sie weint drauß nub flucht und sakramentiert",
sagt sie, „als wenn damit etwas gebessert wäre."
Ich schweige. Es ist vollständig dunkel ge-
wordem Drüben in den Räuserwürfeln, bereu
Umrisse noch zu sehen sind, entzünden sich da und
dort fTeine lichte Punkte. Aus der Soldaten-
spelunke herüber wirbeln kreischende
walzerklänge. Sonst ist alles still.
Und diese Buhe in mir, diese furcht-
lose, hoffnungslose Buhe! Diese
Stille der Seele, die mein Sein
wiegt! wo ist mein Schmerz hinge-
kommen und mein Mitleid mij
Gertrud, das mich einst zu vernichten
drohte? Und die Rälte und Rärte,
die Rärte der erkannten Notwendig-
keit, die meinen Schmerz gemordet,
aber so schwer in mir lag wie ein
Stein — wo ist sie hingekommen?
— Und doch is?s um nichts, um
gar nichts besser geworden. Wahn-
witz dünkt es mich heute, zu hoffen,
Erlöst hätte mich lange der Tod,
wär ich allein gewesen, — so aber
mußte das Leben mich erlösen ...
Plötzlich berühren sich unsere
Rände, Gertruds linke und meine
rechte. Ich drücke die ihre, sie
drückt wieder, lange. Dann beuge
ich mich über sie und suche ihre
Lippen.
„Rast du Runger, Rind?"
„Nein, ich müßte lügen, wenn ich schon nichts
gegessen als die Taffe Milch am Mittag und den
Lacao an: Morgen und an: Abend das Runds-
freffen."
Ich denke daran, daß sie auch gestern nur zwei
Eier hatte und eh: Stückchen Wurst am Abend.
„Rast du Ropf schmerz?"
„So schlecht ist mir. Ich glaub, ich Hab mich
geekelt und muß mich erbrechen."
Ich denke au i>as Rind in ihrem Leibe. Einen
Augenblick ist mir, als laufe es mir über die
Wangen herab. Zwei dicke Tropfen. Es klebten
sogar die unteren Augenlider. Aber ich kam: nicht
geweint haben. Ich weiß, daß ich nicht weinte.
Ich bin völlig ruhig. Eii: leichtes wiegen von
Ropf und Brust.
„wenn ich gewußt hätte, daß die Alte nichts
bringt, hätte ich mir heute was geben lassen für
dich, da wo ich zu Besuch gewesen. Mbwohl ich
weiß, daß sie selbst brauchen was sie haben, und
auf die Gefahr hin, daß mir auch diese letzte Türe
verschlossen wird."
„Nein, das kannst du nicht, das darfst du nicht
tun . . ."
Gertrud ist ins Schlafzimmer gegangei:. Ein
herzliches Umarmen, dann ging sie hinaus. Ich
sitze noch einige Zeit im Dunkeln. Der Gedanke
beschäftigt mich, ob die Liebe schon mit dem Tod
aufhöre. Es mußte doch nicht richtig fein, daß
mit dem Tod alles aufhöre. Die Liebe nicht!
Ich fühle das jetzt deutlich. . . .
Ich habe den Best einer Rerze entzündet und
mir einen Rrug Wasser hereingeholt, aus den: ich
mehrmals trinke. Dann lösch ich das Licht wieder,
um es in der Nacht für alle Fälle noch gebrauchen
zu können, und lege mich rücklings auf mein Sofa.
Ich bi:: nicht müde, aber irgenb etwas schließt
mir die Augen. Eii: herzliches Lächeln muß mir
auf den Lippen gelegen Habei: in diesem Augen-
blick. Nach einiger Zeit wache ich auf. Ich hatte
nicht geträumt, aber ich glaube, ich wurde wach,
als eben die Musik in der Soldatenspelunke auf-
hörte.
Es ist Alles ruhig und dunkel. Eii: Mensch
kommt die Straße herunter. Mir ist, als ob jeder ictuer
Schritte eine:: leichten Eindruck in meinem Rin:
hinter lasse. Leise heb ich mich iu der Dunkelheit
von meinem Sofa auf und bewege mich lang-
sam dem offenen Fenster zu. Die körperliche Be-
wegung des Sich-Emporreckens ii: die sternerhellte
Dunkelheit und die leichte, luftgetragene Verfassung,
in der meine Seele sich befindet, wachsei: zu einer
Vision zusammen, zu der Vision eines sterbenden
Prometheus-Ehristus, welche fast gleichzeitig m
Wort und Rhythmus sich auslöst. Lauschend still,
eii: Empfangender, stehe ich einen Augenblick m
geistesabwesei:der Verzückung. Hub dann schreibe
ich, der lUaler — beim entzündeten Rerzenrest —
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