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1908

JUGEND

Nr. l


Juristen A- Weisserber

„wenn der § 7 des Vereinsgesetzes durchgeht, dürfen wir Juristen überhaupt nicht
mehr in öffentlichen Versammlungen reden!" — „wieso?" — „Via, dann darf doch

nur deutsch gesprochen werden!"

Jeunesse doree

(Ein Thanson)

0 Gott, wie ist das Dasein ödel
Man hat's wahrhaftig riesig schwer
Das Leben war mir längst zu blöde,

Wenn nicht Absynth und Morphium war'!

Tie Gicht, die bringt mich gänzlich 'runter,

An Altersschwäche sterb ich bald,

Und das ist absolut kein Wunder:

Ich bin schon dreiundzwanzig Jahre altl

Theater, Kunst sind für den Pöbel,

Ich finde sowas schauderbar!

Ich Hab für solchen Quatsch kein faible,

Ich sitze lieber in der Bar.

Musik, die reizt mein Trommelfell nicht:

Mich macht's nervös nur, wenn sie schallt,

Und Bücher les' ich prinzipiell nicht:

Ich bin schon dreiundzwanzig Jahre altl

Mein Vater meint: ich soll was machen,

Was treiben, daß ich Geld verdien'I —

Ich könnt mich schief darüber lachen!

Der gute Mann hat ja den SpleenI
Die Zeit ist aus, daß ich was tue,

Ich pfeif' auf Arbeit und Gehalt,

Ich setzte mich schon längst zur Ruhe:

Ich bin schon dreiundzwanzig Jahre alt!

Karl £ttltn£er

-ft

Streiflichter der „Jugend"

Eourdes

Ja, die Zeit schreitet vorwärts!

Kürzlich hat der Papst der gesamten katho-
lischen Welt den Kultus der Madonna von
Lourdes nachdrücklichst anbefohlen. Und damit
dieser Stätte der Gnaden die Weihe seines heiligen
Siegels verliehen.

Die Legende der kleinen Bernadette ist nun
allerdings nicht gerade das geistige Leitmotiv
unserer Kultursehnsucht.

Emile Zola steht uns näher. Und den vielen
Hunderttausenden, die seinen Lonrdes-Roman ge-
lesen, ist die Massenpsychose der Pilgerfahrten zur
heiligen Grotte in allen ihren Erscheinungen und
Suggestionswirkungen kein Rätsel mehr. Vor
soviel irdischer Skepsis den Glauben an das „höhere
Wunder" herüberzurelten ins XX. Säkulum, zog
nun freilich, die mystisch befangene Seele m-it dem
Arsenal literarischer Virtuosität gewappnet, Joris
Karl Huysmans zu Felde — und schrieb „Lea
foules de Lourdes.“

Oh, ein katholisches Buch! An allerlei Wunder
wird darin geglaubt — und als das staunens-
werteste mit sinnreicher Naivität verzeichnet, daß
in jener Bazillen-Atmosphäre nicht alle Gesunden
krank werden und nicht alle Kranken draufgehen.

Der Gesamteindruck aber: was ist der Wunder-
gnadcnort Lourdes diesem gläubigsten der Gläu-
bigen? „Ein Riesenhospital inmitten einer Riesen-
kirmeß; Schaurigkeitsessenz, in eine Tonne feister
Lustbarkeit geträufelt: alles schmerzvoll, lächerlich
und blöd zugleich. Nirgends sonst herrscht solch ge-
meine Frömmelei, gleicher Fetischismus. Nirgends
schließlich hat sich das Teufelswerk der Häßlichkeit
so cynisch breit gemacht." (S. 299.)

So Huysmans der Bekenner, der auszog,
8ola den Ketzer Lügen zu strafen!

£o§

Die jährliche Niederlage

Unter diesem Titel veröffentlicht der Leiter
des Statistischen Amtes von Paris Dr. Jacques
Bertillon eine herzzerreißende Klage über den
Rückgang der Geburten in Frankreich. Man
sieht allgemein ein, daß es so nicht weitergehen
kann; aber die Meinungen, wie dem Uebelstand
abgeholfen werden kann, gehen weit auseinander.

Man hat J u n g g e s e l l e n st e u e r n vorge-
schlagen: Jeder Mann von 30 Jahren, der noch
Junggeselle ist, soll mit einer drückenden Steuer
belastet werden. Line solche Steuer wäre aber
schon deshalb ungerecht, weil mancher Junggeselle
weit mehr bemüht ist, die Geburtsziffer zu heben,
als mancher Ehemann I Nein, mit einer Jung-
gesellensteuer ist es nichts!

Man hat ferner an Kinderprämien gedacht.
Aber niedrige nutzen nichts und hohe laufen zu
sehr ins Geld. Dieses Geld könnte man nutz-
bringender zur Errichtung staatlicher Storch-
pensionen verwenden; man müßte durch staat-
liche Zuwendungen den Störchen das Leben in
Frankreich so angenehm machen, daß sie nicht

bloß, wie jetzt, im Sommer, sondern auch im
Winter dableiben; dadurch ließe sich ihre Tätig-
keit verdoppeln!

*

6in Wiederaufnahmeverfahren?

Der Prozeß war nach langer wechselvoller
Dauer zu Ende; das Todesurteil war gesprochen.
Aber die überzeugten Anhänger des Angeklagten
gaben sich nicht überwunden; wie sie schon vor
dem Urteil nicht müde waren, immer und immer
wieder die Unschuld des Angeklagten zu versichern,
so kämpften sie, ohne zu ermatten, auch nach dem
Urteil für ihre Ueberzeugung. In Reden und
Zeitungsartikeln wiederholten sie die Versicherung,
daß der Angeklagte das Todesurteil nicht ver-
dient habe, daß er jeder bösen Tat unfähig sei,
daß er im Gegenteil große Verdienste habe.

Sie betreiben jetzt das Wiederaufnahme-
verfahren, sie wollen den verurteilten retten, be-
vor das Urteil vollstreckt, bevor es also zu spät ist.
Und darum kämpfen seine Freunde unter Führung
des Grafen Kanitz dafür, daß der zum Tode ver-
urteilte Taler wieder in den Verkehr gesetzt wird,
bevor er eingeschmolzen und umgeprägt ist.
Register
Karl Ettlinger: Jeunesse dorée
[nicht signierter Beitrag]: Die jährliche Niederlage
[nicht signierter Beitrag]: Ein Wiederaufnahmeverfahren?
Albert Weisgerber: Juristen
Eos: Streiflichter der "Jugend"
 
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