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Nr. 2

JUGEND

1908

schmerzt mich, und mein Atem geht tiefer. Die
Türe schließt sich hinter meiner Last, die Treppen
gehe ich still und behutsam hinunter, unten öffnet
sich daZ Tor.

Es hat aufgehört zu regnen. Die Erde im
Stadtgarteu ist satt, hat ihren Durst gelöscht, sie
hat getrunken. Nun steigt ein zufriedener Duft
aus ihren Poren, warm, voll, fast schwül. Von
den Gestirnen ist nichts zu sehen. Nur hinter den
trüben, schweigend ruhenden Wolkenwänden brennt
der Mond. Er ist nicht sichtbar, und doch ahne
ich sein milchiges Licht, das himmelan schwimmt.

Am Ende des Gartens, an der Ecke der ersten
Straße begegne ich Leuten. Es sind zwei Man-
ner in meinem Alter, ich kenne sie nicht. Aber
wie ich vorüber will, sehe ich, daß einer den an-
deren anstoßt und auf mich zeigt:

„Da trägt einer sein Kreuz."

Er sagt es lachend und auch der andere b/chert.
Mir ist es nicht zum Scherzemachen, ich sage kein
Wort und trage meine Last.

Da höre ich wieder hinter mir die beiden.
Und der jüngere macht kein Hehl daraus, wie es
ihn belustigt, daß er mich erkannt hat, und sagt
zum anderer::

„Das ist der Hans. Weißt, der Blonde von
der dritten Klasse."

Nun fällt mir ein, wer der Spötter ist, und
ich suche aus der Erinnerung seinen Namen.
Aber ich sage ihn nicht und schleppe mein Kreuz,
und das Kreuz drückt und ist schwer.

Aus der nächsten Straße kommt Maria auf
mich zu. Ich kenne sie von weitem, kenne sie an
ihrem flinken, geschmeidigen Gang, an den Hüften,
die sie leise wiegt, und an der schönen lieben
Brust. Sie ist schon nahe, sie hat mich erkannt und
bleibt lächelnd, dicht vor mir stehen. Ich keuche.

„So schwer, Hansl? Geh, laß das dumme
Ding. Komm mit. Mein Zimmercken ist warm."
„Nein, nein, meine Liebe, mein Vorsatz ist fest.
Geh du allein m dein Bettchen. Ich gehe meinen
Weg. Ein reines Herz will ich wieder haben.
Das gehe ich mir holen."

S:e lockt, nennt flüsternd meinen Namen. Aber
ich fühle die Last, die eine Verheißung ist, und
denke an die Seligkeit des reinen Herzens und
stehe keinen Augenblick und gehe Schritt für Schritt.
Als ich mich einmal umwende, ist die Straße
hinter mir leer.

Da atme ich auf.

Der Weg dehnt sich. Ich gehe mühselig, es
ist, als ginge ich Tage so hin, Monate und Jahre.
Als änderte sich unter diesen: trüben Himmel die
Stadt. Ich durchmesse Entfernungen, die wie
große Zeitspannen sind, ja Monate, Jahre. Ich
bin nicht immer klar. Manchen Schritt tat ich
wie betäubt. Er führte doch über jeden Stein,
nur Stein, von einem Stein zum anderen.

An einer Ecke bleibe ich vor einem Manne
stehen. Der ruft meinen Namen. Er sagt ihn
so, wie er ihn hundertmale gerufen. Mein Herz
wird unruhig dabei. Ich denke an tausend Dinge.

„Du, Hermann?"

„Ja, ich."

Er ist nicht erstaunt mich zu sehen. Es ist,
als sähen seine Augen an dem Kreuz vorüber.
Ich selbst muß mich besinnen, daß ich es noch
trage. Er gibt mir die Hand, wie er es immer
tat, und lacht und sagt, daß wir wohl denselben
Weg haben, hinauf zum Platz. Dort seien die
anderen, ich wisse wohl — der ganze Kreis.

Noch fühle ich mein Kreuz. Ich gehe zwei
Schritte. Er folgt. Das Laternenlicht fällt auf
sein Gesicht, und das sieht rot aus und vom
Trunk gedunsen. Es würgt mich an der Kehle
und ich mache einen verzweifelten Versuch, auch
dieser Verführung zu widerstehen.

Das Kreuz rutschte mir von der Schulter, ein
paar Augenblicke spüre ich seinen Druck nicht
mehr und lehne es an die Wand. Schwarz,
schwer steht es da. Da besann ich mich doch der
Verheißung, nahm es ächzend auf die Schulter
und lief, keuchte und lief.

Ich lief drei Gassen aus, wollte um mein
letztes laufe!:, aber ich war verwirrt, ich lief im
Kreise. Drüben taucht ein helles, starkes Licht aus
dem Dunkel, in das die Strafen münden. Ich

bin schon so nahe, so nahe . . . Musik klingt an
mein Ohr, mein Blut fängt an, mir in den
Schläfen zu klopfen, fängt an zu kreisen.

Da ist das Haus. Das Tor ist in der Angel,
hinten öffnet sich die Tür. Drinnen sind sie alle.
Die Paare drehen sich im Tanz. Robert hat Lisa
im Arm, die ich ihm im zweiten Jahre nahm.
Ich werde unruhig darüber, wie sie ihren Kopf
an seine Schulter lehnt, über die Art, wie er sie
hält, hält und dreht.

Und ich trete ein. Und wie ich über der
Schwelle bin, spielen die Geigen heller auf, die
Clarinetten locken, die Oboe singt ein Liebeslied
für sich. Zehn Hände strecken sich mir entgegen,
warme Freundeshände und schlanke, heiße von
Frauen. Zurufe: „Der Hans!"

Mein Zögern ist nur mehr matt. Die Schulter,
auf der mir die Last liegt, schmerzt. Dann fühle
ich sie nicht mehr. Das Kreuz lehnt in einem
Winkel. Es steht breit und drohend da, es sieht
mich an, es ist, als wären Augen darauf, hundert
Augen, die mich anglotzen. Ich weiche ihrem
Blicke aus. Ich bin feig . . . Nun sehe ich sie
nicht mehr. Das Kreuz ist verschwunden. Wo
es stand, steht Inge und lächelt mir zu.

Sie hat einen Kelch in der Hand, den sie mir
bietet. Ich leere ihn, das Glas fliegt zur Seite.
Und im nächsten Augenblicke liegt mir das Mäd-
chen im Arm — und die Geigen singen so wun-
derschön in die Bässe, so verführend, sie singen
jedes Denken nieder, so süß.

Alle Vorsätze sind vergessen. Wein schäumt
in den Kelchen, die Musik rauscht, das Spiel geht
hoch, an den grünen Tischen rollt das Gold.
Inge ist bei mir. Ihre Augen rufen mich, sie
machen mich selig, immer wieder faßt ihre Hand
nach der meinen- Ihr Mund grüßt.

Und später, mit einenunale sind wir beide
allein. Wir sitzen iu ihrem Mädchenzimmer. Das
Bett ist drüben im Winkel, versteckt hinter blauen
Gardinen. Es lockt. Inge zeigt es mir. Sie
wird blaß und rot. Sie löscht das Licht.

Ihre Stimme: Liebling, Dir zu willen.

Ich fühle einen weichen Arm.-

Es ist Morgen draußen. Amselruf aus dem
Garten weckt mich.

Ich habe die Augen noch geschlossen. Dann,
als ich sie öffne und gerade aussehe, hebt sich das
Fensterkreuz schon grau gegen den tagenden Himmel.

Es steht an seinem Platz. Ich liege daheim
in meinem Bette. Alles so wie gestern und alle
die Stunden vorher, alle die Stunden, die ich
geschlafen und geträumt. Alles beim alten.

Das Fensterkreuz nicht mehr eine Verheißung,
nicht mehr drohend wie in der Nacht, nur ein
Fensterkreuz, aller wundertätigen Kraft beraubt.
Nüchtern, ein paar Bretter glatt polierten Holzes,
mit Haken daran aus Messing, um die großen
Scheiben zu öffnen und zu schließen.

Rudolf Wilke

Schwabinger Dichterin »Hrf), ich wollte- es würde mich
endlich jemand aus der Literachrgeschichte ,rau$öeiraten!“

Alles gewöhnlich. Für das praktische Leben,
in das ich nun wieder traurig sehe . . . alles
nüchtern wie ich.

Denn ich bin gleich, wie ich gestern war, mit
aller Schuld und allen Erinnerungen und allen
Gewissensbissen und Lasten, mit aller Vergangenheit.

*

$d)äfcrttunde

Nach Paul Verlaine von Richard Schaukal

Der Mond ist rot, der Himmel trüb und schwer.
Schon schläft die Wiese in dem blassen Rauch,
Der schleiernd steigt. Vom Schilf,

das weich ein Hauch
Durchschauert, kommt der Ruf der Unken her —

Nun schließt den Kelch die weiße Wasserrose,
Die Pappeln wandern steif, bis unbestimmt
Im weiten Land ihr schmaler Schatten schwimmt.
Es glüht im Strauch, funkelt im fenchtenMoose.

Die Fledermäuse wachen auf und gleiten
Lautlos durchs Dunkel mit den schweren

Schwingen.

Ein fahles Leuchten zögert durchzudringen:
Da taucht mein Stern aus den Unendlichkeiten —

*

Liebe Jugend!

Auf dem Kasernenhof üben die Rekruten Pa-
rademarsch in Korporalschaften. Oer Unteroffizier
detailliert noch einmal alle Geheimnisse dieser Kunst
und schließt seine Erläuterungen mit dem Befehl:
„Also, alles sieht beim Vorbeimarsch mir an!"
Oer Hauptmann führt die Aufsicht. Er kann den
grammatischen Fehler nicht ungerügt lassen und
korrigiert: „Nein, mich, Unteroffizier!" Dienst-
eifrig wie er ist, wendet sich dieser sofort wieder
an seine Schäflein: „Also Ihr seht nicht mir,
sondern den Herrn Hauptmann an!" Unwillig
wendet sich der Kompagniechef wieder an den
Korporalschaftsführer: „Nein, Sie sollen die

Leute ansehen!" Oer Unteroffizier schüttelt seinen
Kopf und gibt den Befehl an die Rekruten weiter:
„Nun sieht mir doch alles wieder an!" Oer
Haupt mann hat es aufgegeben, sprachliche Fehler
zu berichtigen.

*

Zn einer Klinik unterhalten sich zwei stillende
Ammen über ihr Unglück. Oie Jüngere will gegen
den Vater ihres Kindes klagen, wovon ihr die
pleitere abrät: „Z'erscht habb i klagt unn e paar
Mool uffs G'richt gemiest unn do hawwe se ge-
sächt, dr vadder tnteft zahle. Oer Hots awwer
net gedann. No habb i wedder klagt unn do
Hots geheese: der Mann wird gepfändt. Oo druff
isch des Mos zu mer gekomme — unn jetz habb
i's zweet."

*

In einer höheren Mädchenschule war das Auf-
satzthema gegeben: „was wißt Ihr von wallen-
stein zu sagen?"

Die Kenntnisse der kleinen Mathilde erschöpften
sich in dem Satze:

„wallenstein trug zwar hohe gelbe Lederstiefel
und einen weißen Spitzenkragen, war aber trotz-
dem ein düsterer Charakter."
Register
Richard v. Schaukal: Schäferstunde
[nicht signierter Beitrag]: Liebe Jugend!
Rudolf Wilke: Schwabinger Dichterin
 
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