Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
er König

H. Wilm

Allem

(An meinen Hund)

Seit du mir fehlste ward's in den Arbeitsnächten
So lautlos still. . .

Sonst fühlt^ ich treu gesellt
Dein Leben doch in all der Totenruhe,

In der die Nacht nur mit sich selber sprach.

Wie fragend hob dein mächtiger Kopf sich wohl
Und stieß mich an. Und lässig fiel die Hand,

Bog sich vertraut um deines Ohres Muschel
Und schrieb noch warm von deiner Wärme fort.

Heut griff sie tastend durch den leeren Raum . . .

Larl Buffe

Herbst

Komm, es ist spät: Der lohe Sommerbrand
Hat abgeglüht. Das Jahr war schwer und groß,
Nun siehst du deutlich jeden Pfad ins Land
Und alle Ferne klar und gnadenlos.

Und weißt es kaum noch, wie im frühen Jahr
Die Tage glitten, übervoll beschwert.

Und jeder Weg ein Morgenwunder war,

Von Nebelsilber tauend und verklärt.

Und wie der Abend uns ins Dunkel trug,

Das blühend um uns seine Schatten hing —

Die Blatter sind nun gelb. Es ist geinig.

Komm, löse deine Hand: Der Sommer ging . . .

Ernst 21. Bertram

Der Gchlafhändler

von Oscar A. H. Schmitz

«eine Freunde hatten mir zu meinem hundertsten
Geburtstage ein kleines Fest gegeben. Spät nach
Mitternacht verließ ich das Montmartre-Restaurant,
in dem seit 75 Jahren die Ueberlebenden einer fröhlichen
jugendlichen Tafelrunde immer wieder von Zeit zu Zeit
zusammenkamen. Trotz meines Alters bin ich der Ge-
wohnheit treu geblieben, die nächtlichen Straßen von
Paris zu Fuß zu durchwandern.

Ich war an jenem Abend von den großen Boule-
vards auf den Boulevard Sebastopol gekommen und
befand mich vor dem Thatelet, als mich die Müdigkeit
zwang, einen Augenblick auf einer Bank zu ruhen. Ich
liebe es, den Heimweg in die Länge zu ziehen, um
die Bettruhe möglichst abzukürzen, denn ein Fluch des
Alters ist es, daß es so wenig Schlaf braucht, daß ihm
jenes Allheilmittel für die Sorgen, Verstimmungen,
Melancholien und die Langeweile des Daseins fehlt.
Ts wäre mir wie eine Rückkehr der Jugend erschienen,
wenn ich wieder einmal jene tierhafte Müdigkeit hätte
spüren dürfen, die einen jungen Körper wie einen toten
Gegenstand, alles vergessend, ins Bett wirft. Aber das
Alter kennt keine wahre Müdigkeit, von der es immer
ein Ausruhen gibt, es kennt nur Schwäche und Gebrech-
lichkeit, die keine Nacht heilt.

Plötzlich kam mir ein unbestimmtes Gefühl, als
hätte ich den jetzigen Augenblick schon einmal erlebt.. .
die Bank. .. der: Blick unter die Bäume des Platzes . . .
die fast menschenleere Straße, die auf die Brücke mün-
dete ... In diesem Augenblick setzte sich jemand zu mir;
genau so war es damals gewesen. Ohne mich bestimmter
Einzelheiten entsinnen zu können, war mir, als ob ich
an süße, glückliche Erinnerungen meiner Jugend rührte,
und dann entsann ich mich eines unbekannten Mädchens,
das sich damals neben mich auf die Bank gesetzt und mir
halb weinend eine Geschichte von einem Liebbaber erzählt
halte, dem sie mitten in der Nacht davongelaufen sei.

Und dann erinnerte ich mich wieder, wie sie mit
der natürlichen Dialektik der Leidenschaft und der unan-

greifbaren Logik des Gefühls ein plaidoyer ihrer Hand,
lungsweise entwickelte, das immer wieder in den Worten
gipfelte, sie sei ein gutes, ja ein nur allzu gutes Mädchen
das vieles von einem geliebten Manne hinzunehmen im
Stande sei, bis ein bestimmtes Maß erreicht ist, dann
verwandele sich all ihre Güte und Fügsamkeit in
plötzliche Wut und beleidigten Stolz. Diesen Augenblick
hatte sie lange kommen sehen, aber trotz ihrer flehent-
lichen Warnungen habe ihr Geliebter heute im Ueber-
mut die Szene verschuldet, die sie zur endgültigen Flucht
von ihm bewog.

„Und was wollen Sie jetzt tun?" fragte ich, hin-
gerissen von der natürlichen Beredsamkeit und mutigen
Entschlossenheit des jungen Geschöpfes. Es war dann
eine Nacht gefolgt, in der ich sie durch Vergnügungen
zu betäuben und ihren Schmerz zu verscheuchen suchte.

Auf diese Nacht folgten andere ähnliche. Das un-
ruhige, lebhafte Wesen zwang mich, den in Paris noch
fast fremden Jungen, mit ihr die ganze Stadt zu durch-
kreuzen und ihre nächtlichen Seltsamkeiten aufzusuchen.
Aus den spiegelhellen Luxusrestaurants trieb sie mich in
die unterirdischen Verbrecher- und Zuhälterkeller. Ein-
mal führte sie mich zu ihrer Familie in ein kleines
Arbeiter-Interieur in Menilmontant und dann wieder
in das pompöse Atelier eines Modemalers, wo sie ebenso
zu Hause war, wie bei beit Generalproben der Boulevard«
Theater oder auf dem Sattelplatz beim Rennen.

Ich hatte bisher nur die dürftigen Freuden des
Quartier latin-Studenten genossen, das große Paris rechts
der Seine war mir wie ein purpurner Traum gewesen,
aber paulette riß mich mit mächtigem Griff in dieses
Leben hinein, um mich eines Tages mit eben solcher
Plötzlichkeit zu verlassen, wie meinen unglücklichen Vor-
gänger.

Ich brauchte Jahre, um den Schmerz meiner Ein-
samkeit ganz zu überwinden, ich hätte ihn vielleicht nie
überwunden, wenn ich fortgefahren hätte, andere Frauen
an Paulette zu messen, aber bald wurde sie mir in der
Erinnerung wie ein immaterielles Wesen, wie der Dämon
dieser Stadt Paris, den ich wie im Traume umarmt hatte,
und ich lernte mich begnügen, in andern Frauen nur
einen Abglanz von ihr zu sehen. Oft besuchte ich in
Nächten des Vergnügens, mit andern Frauen am Arm,
die Orte, wohin mich einst paulette geführt, ich lebte in
der nicht ganz eingestandenen Hoffnung, ihr einmal zu
begegnen.

Aber niemals sah ich sie wieder, nur einmal glaubte
ich sie unbestimmt zu erkennen. Ls war in einem Haus
in dem Gassengewirr der Altstadt. Dort hielt ein gewisser
Sirotin ein Parterrelokal offen, in dem er für drei Sous
Stühle an Obdachlose vermietete; die konnten dort, mit
den Armen und dem Kopf über lange Tische gebeugt,
von Mitternacht bis vier Uhr schlafen. Um vier Uhr
läutete eine Glocke und scheuchte die Schläfer auf. Dann
kamen andere, die für denselben Preis den Rest der Nacht
hier verbringen durften. Mancher zog in der Schlaf-
trunkenheit weitere drei Sous hervor, um seinen Platz
behalten zu dürfen, ein ökonomischer Exzeß, den er vielleicht
während eines hungrigen Tages zu bereuen hatte.

Die Jugend, die sich amüsiert, gönnte sich manchmal
den Ritzel, um vier Uhr zu Sirotin, dem Schlafhändler
zu gehen, um die Ablösung der Schläfer zu beobachten.
Oft hatte mich Paulette hierher geführt, vielleicht um
ihr schönes, weiches Bett nachher um so mehr würdigen
zu können. Dort hatte es mir später einmal nachts
geschienen — ich hatte ein kleines indifferentes Mädel
bei mir, das noch nie hier gewesen war —, als ob
Paulette am Arme eines Herrn an dem entgegengesetzten
Ausgang hinauseilte in dem Augenblick, als ich eintrat.
Sonst hatte ich nie mehr eine Spur von ihr gefunden;
wenn sie noch lebte, mußte sie wie ich fast hundert Jahre
alt sein.

während ich diesen Gedanken nachhing, bemerkte ich,
daß sich ein altes Mütterchen neben mich auf die Bank
gesetzt hatte, das offenbar den günstigen Augenblick ab-
wartete, um ein Almosen zu bitten. Ich weiß nicht
mehr, wie wir in ein Gespräch kamen, sie wunderte sich
nicht wenig, einen alten Herrn wie mich zu dieser Nacht-
stunde auf einer Boulevardbank sitzen zu sehn, da es mir
an einem Obdach doch wohl nicht fehlen konnte.

Mit der Vertraulichkeit, die das Alter — ebenso
wie die Kindheit — schafft, erzählte ich ihr, daß der
Schlaf mein Lager schon lange floh.

1082
Register
Carl Busse: Allein
Ernst August Bertram: Herbst
Hubert Wilm: Der König
Oskar Adolf Hermann Schmitz: Der Schlafhändler
 
Annotationen