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A. Geigenberger

Der stille Teilhaber

„Hoffentlich kriegt mein Leutnant diese
Weihnachten bessere Zigarren von zu Haus
geschickt, wie's letzte Mal!"

*

bemühten sich die Damen um sie. Sie wollten
ja an Aenni ihre Erziehungskunst erweisen.
Aus dem erschreckten kleinen Ding sollte ein
„gutes, artiges Kind" werden, das auf einen
Wink kuixte und das Händchen gab.

Dann reihten sie Aenni unter die anderen
Zöglinge ein, denn Aenni war verstockt und
undankbar.

Die Tretmühle nahm sie auf: Schule, Essens-
zeit, Aufgaben, Spielstunde, Gebet. Erst am
Abend, in dem schmalen, hartenPensionsbettchen,
kam sie zu sich und dachte — dachte. . .

Ihre kleine arme Seele flatterte in die Irre,
wie ein Vogel, der aus dem Nest gefallen ist
und heimwärts strebt mit nimmermüden — und
ach, so kraftlosen Flügelschlägen. Und flatterte
immer um einen Punkt herum. Und klammerte
sich an eine Hoffnung in ihrem Heimweh.

Wenn sie das eine wüßte, das eine — dann
dürfte sie wieder zu ihrer fröhlichen Mama.
'Könnte mit ihr spielen und Schmetterlinge jagen
daheim im Gartenschatteu, der voll von goldenen
Sonnenkringeln ist, und Rosen pflücken und
Mamas pfirsichweiche Wangen küssen.

Sie maß die Vorsteherinnen mit prüfenden!
Blick. Aber diese zerknitterten Gesichter mit
den stechenden Augen und Hakennasen flößten
ihr Furcht ein. — Die Köchin war unfreundlich
und schob die Kinder sich aus dem Weg. —
Nein, da in ihrer Umgebung war niemand . . .

Eines Tages drückte sie sich in dem dunkeln
Vorsaal herum. In der Küche saß die dicke
Wäscherin und trank den Nachmittagskaffee.

„Ja, es ist ein hartes Brot — so Tag ein
Tag aus ins Waschen zu gehn. Aber kann
mau was machen? Der Mann hat keinen
Verdienst, und ich Hab' acht Kinder."

„ „Gott im Himmel, acht Kinder !" rief die
Köchin und schenkte ihr noch einmal den Kaffee-
tovi voll. Dabei drehte sie sich zierlich hin und
her und dachte nicht daran, daß auch ihr dies
Schicksal einmal blühen könnte: arm zu sein,
acht Kinder zu haben und mit rotgedunseneu
Händen „ins Waschen" zu gehen.

Die Wäscherin lachte. — „Du lieber Gott,
so oft ich ein Kleines krieg', ruh' ich mir
wenigstens ein bißchen die Knochen aus."

Dann ging sie zurück in die dampferfüllte,
dunkle Wafchstube.

Ein halbes Stündchen später schlich Aenni
herein. Sie stand eine ganze Weile unent-
schlossen da, ehe die Wäscherin sie bemerkte.

„Was willst Du, Herzchen? Soll ich Dir
was waschen? Hast Dir einen Fleck ins Kleid
gemacht? Gib nur her — ich verrat's schon
nicht."

Aenni sah die Frau mit flehenden Augen
an. „Nein... ich möchte. .

„Was möchtest Du denn?"

Noch ein prüfender Blick Aennis. Ja, die
Frau sah freundlich aus — fast wie die
Gärtnerin daheim.

„Ich möchte Sie etwas fragen."

Aenni kam näher. Die Wäscherin spülte
den Seifenschaum ab und strich mit der feuchten
Hand Aenni übers krause Haar.

„Na?"

„Sagen Sie, wo — wo kommen die Babies
her? Sie müssen's doch wissen, Sie haben acht."

Die Wäscherin lachte auf. „Der Kuckuck!
Sieh mal an — so ein Guckindiewelt!"

„Sagen Sie, bitte, sagen Sie es mir!"

Und die gute Waschfrau sagte es ihr, und
Aenni verließ in neuen schweren Sorgen die
Waschstube.

Eines Morgens war im Institut große Auf-
regung. Fräulein Schellrich waren drei Taler
gestohlen worden. Jawohl, gestohlen. Gestern
abend staken sie bestimmt noch in den Falten
der Geldbörse, und am Morgen, als Fräulein
Schellrich selbstsicher darnach griff, waren sie
verschwunden.

Die Stubenmädchen hatten rotgeweinte Lider
und wehrten sich gegen jede Schuld. So ordneten
die gestrengen Damen denn eine Suche in den
Spielschränken und Schubladen der Kinder an.

Die Großen fügten sich maulend der be-
schämenden Maßregel, die Kleinen, die noch
keinen Sinn für beleidigte Ehre hatten, räumten
frohgemut ihren Krimskrams aus.

Bis auf Eine.

In ihrem Schränkchen fand man die drei
Taler säuberlich in Papier gewickelt.

Die Eine war Aenni.

Die Fräulein nahmen sie allsogleich mit in
den Salon. Da pflegten sich die festlichen
Empfänge und auch die hochnotpeinlichen Ver-
höre abzuspieleu.

Aenni zeigte keine Reue. Sie stammelte
nur irgendwas: sie hätte das Geld der Wasch-
frau geben wollen — von der hätte sie er-
fahren, woher die Babies kommen. . .

Die Damen blickten einander entsetzt an
und brachen das Gerichtsverfahren ab.

Aenni wurde auf ihr Zimmer verwiesen,
getrennt von den anderen Kindern. Die sollten
diese Nacht im großen Saal schlafen. Bei
Aenni blieb Fräulein Eleonore Schellrich.

Aenni war erstaunt, wirklich erstaunt. Was
hatte sie denn getan, daß man ihr so böse war?

Als ihr das Fräulein eröffnete, daß ihre
Eltern kommen würden, da — Fräulein Schellrich
begriff es nicht — spiegelte sich eine herzinnige
Freude auf ihrem Gesicht. Nicht ein Schatten
von Schrecken.

„Ein ganz verdorbenes Kind," urteilte das
Fräulein.

Aber Aennis Freude sank Grad um Grad
und machte langsam einem dumpfen Unbehagen,
der Furcht vor etwas Unbekanntem, Platz. Das
hatten die Damen mit halben Worten und
geheimnisvollen Anspielungen zustand gebracht.

Die Fräulein empfingen den Herrn Baron
und die Frau Baronin herzlich, aber mit jener
Schonung, die man für unglücklicheMenschen hat.

„Es tut uns unendlich leid, Herr Baron, daß
wir Sie bitten müssen, Ihr Töchterchen aus
unserm Haus zu nehmen. Wir haben uns alle
Mühe gegeben, ihr Vertrauen zu gewinnen —
aber diese Kinderseele ist verstockt in ihren be-
dauernswerten Trieben."

„Ich muß doch bitten . . .", versuchte Papa
einzuwenden.

„Herr Baron, Frau Baronin — es'tut uns
unendlich leid, aber — nicht wahr? — ein Kind,
das sich an fremdem Eigentum vergreift
ein Kind, dessen Phantasie lüstern um Fragen
streift, die —"die erst Erwachsene interessieren . . .
Wir haben die Verantwortung für andere Kinder
übernommen. . .für ihre Unschuld . .."

„Ich bitte Sie," rief die junge Mama, „Aenni
ist ja ein heiteres, kindliches Wesen."

„Augenschein. . . Die Frau Baronin sind auf
dem Gebiet der Pädagogik unerfahren — was ja
bei solcher Jugend" — Fräulein Schellrich machte
eine kleine verbindliche Verbeugung — „selbst-
verständlich ist. Aenni muß eine strenge, intelli-
gente Erzieherin bekommen. Einer sehr erfah-
renen, sorgsamen Person wird es vielleicht ge-
lingen, die Charakteranlage des armen Kindes
einigermaßen zu bessern."

„Ich möchte Aenni sehen," sagte Mama.

Es schien, als wollte Aenni auf Papa und
Mama zulaufen. Wenigstens streckte sie die
Aermchen aus. Wars der Blick des Fräuleins
oder die Zornesader auf Papas Stirn? Aenni
ließ die Arme sinken und stand blaß und ver-
wirrt vor ihren Richtern.

„Hast Du mein Geld genommen?" fragte
Fräulein Schellrich.

„21 i- hast Du das angestellt?"

„Ja) ... ich ging in Ihr Zimmer und nahm
cs aus der Börse." .

„Warum hast Du es getan? Weißt Du nicht,
daß das Diebstahl ist?"

„Ich wollte das Geld der Wäscherin geben."

Fräulein Schellrich fragte nicht weiter — sie
genierte sich vor dem Mann.

„Komm zu mir, Aenni!" Mama zog die
Kleine an sich und sah ihr forschend in die
Augen.

„Mami, liebe Mann!"

Vor dem sehnsüchtigen Ton schmolz ein böses
Gefühl in Mamas Herzen. Aenni kletterte
auf Mamas Schoß und umschlang ihren Hals.

„Willst Du mir nicht sagen, warum Du das
getan hast? Es ist häßlich, zu stehlen."

Aenni brach in Weinen aus.

„Ich ... ich habe... es ja nicht... ge-
stohlen — ich habe es nur... indessen genommen.
Die Kinderfrau sagte immer, ich werde einmal
eklig viel Geld haben, dann hätte ich es schon
wieder hingetan."

„Wozu wolltest Du denn das Geld, Aenni?"

„Für die Waschfrau. Die gibt es dem
Raben vor der Stadt, der bringt Dir dafür
ein Baby — so ein Baby, wie das Brüderchen
war. Das Stück kostet drei Taler, und ich
möcht' nach Haus. Mama, ich möcht' so gern
nach Haus, und wenn Du kein Baby hast,
kannst Du mich nicht sehen — die Trine hat's
gesagt."

Eine halbe Stunde später verließen Mama
und Papa das Institut der Damen Schellrich
und das verdorbene Kind nahmen sie mit.

M. Roda Roda

Das Borkenhaus

Weiß überschneit steigt eine Waldesecke
Wie ein Erinnerungsbild aus stiller Hast —
Spärliche Kiefern unter Neuschneedecke,
Slot abgeblättert ragt manch stummer Schaft.

Und mittendrin, gedeckt mit winzigen Ziegeln,
Fein zierlich aus der Eiche Holz geschnitzt,
Ein Borkenhaus, die Tür in festen Riegeln,
Und übern Eingang dieser Spruch geritzt:

„Wohlangetan mit Bast von roten Rinden
Und ausgesüttert mit vergilbtem Moos,
Trotz' ich dem Schnee, dem Regen

und den Winden
Und berg das Winterglück in meinem Schoß."

Ludwig Scharf
Register
August Geigenberger: Der stille Teilhaber
Ludwig Scharf: Das Borkenhaus
 
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