Den weinenden Philosophen
Ach, was macht ihr Bängcrlinge
Vor der Zeit euch miserabel?
Wohl, wir sind nur Engerlinge
Für den großen Nabenschnabcl:
Doch was ist, das kann genieren
Nur, so lang wir's nicht vergessen —
Was uns frißt, vom Ignorieren
Wird es selber anfgesressen!
Hunderttausend Flnminenstunden
Führen hunderttausend Schnäbel:
Und der Rabe ist verschwunden
Wesenlos im Fcuernebel.
Hanns vs» Gumppenberg
Kämpfer
Ich stand im Todesschatten
Und sah die Ferne weit erhellt,
Da lag in grünen Matten
Des ewigen Friedens weißes Zelt.
Ein Wächter ließ da sinken
Sein Schwert von Gold und Steinen licht:
Wo ewige Quellen winken,
Tritt ein, du Kämpfer, zaudere nicht!
Tritt ein! Du ivirst gesunden,
Hier duftet Narben jeder Krug! —
—- Mich schmerzen nur die Wunden,
Die heiß mein Haß den anderen schlug.
Viktor Hardung
^embrandts Iudenbraut
Zaghafter Schwelger, nicht gewohnt, zu prassen,
Ergötz' ich mich mit einer frechen Hand
Am Busen hier der Lieblichsten der Frauen.
Kaum aber fühl' ich diese Herrlichkeit,
Wird meine Hand von einer Schuld verkrümmt,
Gleich einem Hunde, der die Strafe fürchtet.
's ist eines Juden Hand, was wollt ihr mehr?
Doch schon eilt dieser blassen Zagnis auch
Das rasche Wehren ihrer Hände nach,
Das meine Scham unfrei und schuldig inacht.
Da Hab ich mich besonnen meines Rechtes,
Das mir erlaubt, Gast ihres Leibs zu sein.
Dem Wehren widersteh' ich, und mit Willen
Schmeck' ich die Lust der ungeküßten Brüste.
Der Bissen ward von ihrer Scham gewürzt;
Mit Lächeln fühl' ich, wie er mir soll munden.
Jedoch noch eh' ich dieses Lächeln wage,
Besinnt auch sie sich, hemmt der Scham Geberde
Und weiß erglühend, daß sie dulden muß,
Was sonst zu wehren Scham und Pflicht befahl.
„Du mußt. Du Arme?"
„Liebster/ nein, ich will!"
„Und was ist Wollen Andres denn ein Müssen?
Ist alle Willkür nicht umhegt von Zwang,
Dem mitten in der Freiheit wir erliegen?
Jetzt fühl ich: Du und ich, wir beide opfern;
Unfrei ist meine Gier, unfrei Dein Wehren,
Wir sind im Ghetto dieser Welt gefangen,
Das nur der Mauerbrecher Tod zerbricht!"
Und während lüstern noch mein feiger Mund
Den Anblick naher Sättigung belächelt,
Verdunkelt meine Augen Qual und Gram.
Weh, daß ich lebe! Meine schöne Braut,
Weh, meine Braut, daß Du mir Schwester bist!
\ViIj>clm Michel
Sclilopsnies
Wie der Oberlehrer Lotterhos fiel)
beinahe vergessen hätte
von Gustav Rlitschcr
Der Oberlehrer Lotterhos haßte alles das,
was er den erbärmlichen Tand des seichten
Lebens nannte. Und zu diesem erbärmlichen
Tand rechnete er auch der Minne selige Lust.
Die Liebe hatte er aus seinem Dasein ansge-
schaltet. Nicht als ob er, der magere, ein wenig
gichtische Junggeselle, dessen pockennarbiges Ge-
sicht niit dem rötlichen, ungepflegt wilden Ten
tonenbart keiner Schönheit Reiz verklärte, durch
die Gunst der Frauen allzu sehr belästigt worden
wäre. Nein, das Uebermaß beglückender Genüsse
hatte ihn nicht erdrückt. Aber vielleicht mar dies
gerade der Grund, warum er das Weib von
seiner Schwelle wies. Er zwang sich, zu ver-
achten, was seinen Wünschen doch unerreichbar
schien, und war stolz darauf, ein Erzieher und
Bildner der Jugend zu sein: ein Erzieher zur
Sitte, Reinheit und Tugend.
Ihn, den Verächter aller lockeren Freuden,
führte der Zufall eines schönen Tages aus seinem
kleinen niederrheinischen Provinznest nach Eöln,
und dieser schöne Tag war der Rosenmontag.
— Karneval! — Die ganze Stadt pulste wie in
einem glücklichen Fieber. Der Oberlehrer Lotter-
hos haßte auch dies laute Karnevalstreiben, das
ihm albern und sündhaft erschien. Er war fest
entschlossen, allen Lockungen zu widerstehen.
Mißmutig strebte er abends nach getaner ernster
Arbeit durch das wilde ausgelassene Leben der
Gassen seinem Hotel zu. Vv» allen Seiten um-
drängten ihn schreiende und lärmende Menschen,
Männlein und Weiblein in buntem Gemisch,
maskiert und unmaskiert. „Geck los Geck
elans“ tönte tausendstimmig der alte Schlacht-
ruf des Prinzen Karneval. Lotterhos war ärger-
lich über diese allgemeine Fröhlichkeit, aber doch
auch wieder wie berauscht und angesteckt von
dem allgemeinen närrischen Taumel. Dies mar
nicht seine Welt, war es überhaupt noch Wirk-
lichkeit?
Im Hotel war außer einigen Leuten von
der Bedienung niemand anwesend. Alles schien
ausgeflogen zu sein zur Feier des Karnevals.
Obwohl Lotterhos sich nach Stille und
Ruhe gesehnt hatte, ärgerte ihn das nun
auch wieder. Was brauchten sich alle
Menschen zu belustigen, wenn ihnr nicht
nach Lust und Vergnügen zu Mut war?l
Gallig und übel gelaunt stieg er die
Treppen hinauf. Als er den Gang er-
reicht hatte, auf dem sein Zimmer lag,
ühlte er sich plötzlich von einem feinen.
Aßen Parsümgeruch umweht, an den
eine Oberlehrernase durchaus nicht ge-
wöhnt war. Inr allgemeinen verachtete
er Parflini als unteutonisch und unmänn-
lich. ilnd wie um seine Ansicht zu be-
stätigen, sah er plötzlich etwas Weibliches
an sich vorbeihuschen. Das Weibliche
erwies sich als ein Rokokofigürchen: In
seidenem Rock und Mieder, das nicht zu
wenig ausgeschnitten war, mit gepuderten
Haaren und einem Schönheitspslüsterchen
auf der linken Wange, in Stöckelschuhen
und Strümpfen, die von entzückenden
Beinchen zu berichten wußten. Einen
Augenblick war der Oberlehrer verblüfft,
dann ärgerte er sich, daß dieses Kind der
Welt ihm auch noch über den Weg lausen
mußte. Indessen mar aber auch die sündige
Kleine schon durch eine der Zimmertüren
verschwunden.
Die Lotterhosischc Laune war durch
die Begegnung nicht besser geworden. Er
fand es kalt und öde auf seiner Stube
und beschloß, sofort zu Belt zu gehen; er
konnte es aber nicht hindern, daß ihm
beim Auskleiden allerhand Gedanken
kamen. Eine Erinnerung tauchte ihm auf
aus seiner Studentenzeit in München. Da
hatte er einmal eine Redoute besucht,
und da war auch so ein kleines nied-
liches Mädchen in Rokoko gewesen, die
hatte mit ihm gescherzt, und er hatte
sie riesig nett gefunden. Aber er war damals
schon pockennarbig und rothaarig gewesen und
ein lang abgewachsencr Jüngling. Da hatte
er sich nicht getraut, sich an die Niedliche heran-
zumachrn. Und dann hatte sie ihm ein anderer
weggeschnappt. Und so mar es ihnr eigentlich
immer im Leben gegangen. Und plötzlich kam ihm
der fatale Gedanke, daß er eigentlich die schönste
Zeit seines Lebens hatte ungenutzt verstreichen
lassen. Im Grunde seines Herzens fühlte er
ja gar nicht so moralisch, wie er es vor sich
selber und der Welt zur Schau stellte. Es war
ivohl mehr die Geschichte von dem Fuchs und
den allzu säuern Traubetl. Soweit hatte er
seinen Gedanken freien Lauf gelassen. Jetzt
aber rief er ihnen ein endgültiges Halt zu.
Neitl — sein Leben war reich und schön, aus-
gefüllt durch die Erziehung zur Tugend. Er
ivar mit dem Ausziehen fertig, aber das elek-
trische Licht drehte er nicht ab. Er wollte noch
etwas Ernstes und Würdiges lesen. So streckte
er sich denn behaglich aus, zog die Decke über
die Brust und griff nach einem Schulprogramm,
das eine sehr eingehende, tüchtige, geistvolle, ja
eigentlich unvergleichliche Studie aus seiner
Feder enthielt. Ihr Titel lautete: „Uebcr den
Einfluß der sinnlichen Wahrnehmungen (Ge-
ruch, Geschmack, Gesicht, Gehör) auf die durch Er-
innerungsvorstellungen hcrvorgerufenen Idecn-
assoziationen bei Knaben im Alter von 12 bis
11 Jahren."
Eine Weile mochte er in dieser Arbeit gelesen
haben, als er plötzlich höchst überrascht und er-
schrocken wieder den seinen, süßen Parsümgeruch
in der Nase spürte, der ihn schon auf dcmTreppen-
slur begrüßt hatte. Er schnüffelte - in der Tat, es
war derselbe rosenatmende Dust. Unwillkürlich
stieg das Bild der kleinen zierlichen Rokoko
dame mit den entzückenden Beinchen wieder
vor ihm aus. War sie in der Nähe? Das schien
doch ganz und gar ausgeschlossen. Er richtete
sich in den Kiffen auf und ließ seine Blicke auf-
merksam forschend im Zimmer umherschweifen.
Die alten, schon von Tausenden benutzten Möbel,
deren roter Plüschbezug fadenscheinig und schäbig
aussah, standen noch alle aus ihren« alten
Fleck. Bon dem Dämchen war natürlich nichts
zu sehen. Fast mit Genugtuung legte der Ober-
Ach, was macht ihr Bängcrlinge
Vor der Zeit euch miserabel?
Wohl, wir sind nur Engerlinge
Für den großen Nabenschnabcl:
Doch was ist, das kann genieren
Nur, so lang wir's nicht vergessen —
Was uns frißt, vom Ignorieren
Wird es selber anfgesressen!
Hunderttausend Flnminenstunden
Führen hunderttausend Schnäbel:
Und der Rabe ist verschwunden
Wesenlos im Fcuernebel.
Hanns vs» Gumppenberg
Kämpfer
Ich stand im Todesschatten
Und sah die Ferne weit erhellt,
Da lag in grünen Matten
Des ewigen Friedens weißes Zelt.
Ein Wächter ließ da sinken
Sein Schwert von Gold und Steinen licht:
Wo ewige Quellen winken,
Tritt ein, du Kämpfer, zaudere nicht!
Tritt ein! Du ivirst gesunden,
Hier duftet Narben jeder Krug! —
—- Mich schmerzen nur die Wunden,
Die heiß mein Haß den anderen schlug.
Viktor Hardung
^embrandts Iudenbraut
Zaghafter Schwelger, nicht gewohnt, zu prassen,
Ergötz' ich mich mit einer frechen Hand
Am Busen hier der Lieblichsten der Frauen.
Kaum aber fühl' ich diese Herrlichkeit,
Wird meine Hand von einer Schuld verkrümmt,
Gleich einem Hunde, der die Strafe fürchtet.
's ist eines Juden Hand, was wollt ihr mehr?
Doch schon eilt dieser blassen Zagnis auch
Das rasche Wehren ihrer Hände nach,
Das meine Scham unfrei und schuldig inacht.
Da Hab ich mich besonnen meines Rechtes,
Das mir erlaubt, Gast ihres Leibs zu sein.
Dem Wehren widersteh' ich, und mit Willen
Schmeck' ich die Lust der ungeküßten Brüste.
Der Bissen ward von ihrer Scham gewürzt;
Mit Lächeln fühl' ich, wie er mir soll munden.
Jedoch noch eh' ich dieses Lächeln wage,
Besinnt auch sie sich, hemmt der Scham Geberde
Und weiß erglühend, daß sie dulden muß,
Was sonst zu wehren Scham und Pflicht befahl.
„Du mußt. Du Arme?"
„Liebster/ nein, ich will!"
„Und was ist Wollen Andres denn ein Müssen?
Ist alle Willkür nicht umhegt von Zwang,
Dem mitten in der Freiheit wir erliegen?
Jetzt fühl ich: Du und ich, wir beide opfern;
Unfrei ist meine Gier, unfrei Dein Wehren,
Wir sind im Ghetto dieser Welt gefangen,
Das nur der Mauerbrecher Tod zerbricht!"
Und während lüstern noch mein feiger Mund
Den Anblick naher Sättigung belächelt,
Verdunkelt meine Augen Qual und Gram.
Weh, daß ich lebe! Meine schöne Braut,
Weh, meine Braut, daß Du mir Schwester bist!
\ViIj>clm Michel
Sclilopsnies
Wie der Oberlehrer Lotterhos fiel)
beinahe vergessen hätte
von Gustav Rlitschcr
Der Oberlehrer Lotterhos haßte alles das,
was er den erbärmlichen Tand des seichten
Lebens nannte. Und zu diesem erbärmlichen
Tand rechnete er auch der Minne selige Lust.
Die Liebe hatte er aus seinem Dasein ansge-
schaltet. Nicht als ob er, der magere, ein wenig
gichtische Junggeselle, dessen pockennarbiges Ge-
sicht niit dem rötlichen, ungepflegt wilden Ten
tonenbart keiner Schönheit Reiz verklärte, durch
die Gunst der Frauen allzu sehr belästigt worden
wäre. Nein, das Uebermaß beglückender Genüsse
hatte ihn nicht erdrückt. Aber vielleicht mar dies
gerade der Grund, warum er das Weib von
seiner Schwelle wies. Er zwang sich, zu ver-
achten, was seinen Wünschen doch unerreichbar
schien, und war stolz darauf, ein Erzieher und
Bildner der Jugend zu sein: ein Erzieher zur
Sitte, Reinheit und Tugend.
Ihn, den Verächter aller lockeren Freuden,
führte der Zufall eines schönen Tages aus seinem
kleinen niederrheinischen Provinznest nach Eöln,
und dieser schöne Tag war der Rosenmontag.
— Karneval! — Die ganze Stadt pulste wie in
einem glücklichen Fieber. Der Oberlehrer Lotter-
hos haßte auch dies laute Karnevalstreiben, das
ihm albern und sündhaft erschien. Er war fest
entschlossen, allen Lockungen zu widerstehen.
Mißmutig strebte er abends nach getaner ernster
Arbeit durch das wilde ausgelassene Leben der
Gassen seinem Hotel zu. Vv» allen Seiten um-
drängten ihn schreiende und lärmende Menschen,
Männlein und Weiblein in buntem Gemisch,
maskiert und unmaskiert. „Geck los Geck
elans“ tönte tausendstimmig der alte Schlacht-
ruf des Prinzen Karneval. Lotterhos war ärger-
lich über diese allgemeine Fröhlichkeit, aber doch
auch wieder wie berauscht und angesteckt von
dem allgemeinen närrischen Taumel. Dies mar
nicht seine Welt, war es überhaupt noch Wirk-
lichkeit?
Im Hotel war außer einigen Leuten von
der Bedienung niemand anwesend. Alles schien
ausgeflogen zu sein zur Feier des Karnevals.
Obwohl Lotterhos sich nach Stille und
Ruhe gesehnt hatte, ärgerte ihn das nun
auch wieder. Was brauchten sich alle
Menschen zu belustigen, wenn ihnr nicht
nach Lust und Vergnügen zu Mut war?l
Gallig und übel gelaunt stieg er die
Treppen hinauf. Als er den Gang er-
reicht hatte, auf dem sein Zimmer lag,
ühlte er sich plötzlich von einem feinen.
Aßen Parsümgeruch umweht, an den
eine Oberlehrernase durchaus nicht ge-
wöhnt war. Inr allgemeinen verachtete
er Parflini als unteutonisch und unmänn-
lich. ilnd wie um seine Ansicht zu be-
stätigen, sah er plötzlich etwas Weibliches
an sich vorbeihuschen. Das Weibliche
erwies sich als ein Rokokofigürchen: In
seidenem Rock und Mieder, das nicht zu
wenig ausgeschnitten war, mit gepuderten
Haaren und einem Schönheitspslüsterchen
auf der linken Wange, in Stöckelschuhen
und Strümpfen, die von entzückenden
Beinchen zu berichten wußten. Einen
Augenblick war der Oberlehrer verblüfft,
dann ärgerte er sich, daß dieses Kind der
Welt ihm auch noch über den Weg lausen
mußte. Indessen mar aber auch die sündige
Kleine schon durch eine der Zimmertüren
verschwunden.
Die Lotterhosischc Laune war durch
die Begegnung nicht besser geworden. Er
fand es kalt und öde auf seiner Stube
und beschloß, sofort zu Belt zu gehen; er
konnte es aber nicht hindern, daß ihm
beim Auskleiden allerhand Gedanken
kamen. Eine Erinnerung tauchte ihm auf
aus seiner Studentenzeit in München. Da
hatte er einmal eine Redoute besucht,
und da war auch so ein kleines nied-
liches Mädchen in Rokoko gewesen, die
hatte mit ihm gescherzt, und er hatte
sie riesig nett gefunden. Aber er war damals
schon pockennarbig und rothaarig gewesen und
ein lang abgewachsencr Jüngling. Da hatte
er sich nicht getraut, sich an die Niedliche heran-
zumachrn. Und dann hatte sie ihm ein anderer
weggeschnappt. Und so mar es ihnr eigentlich
immer im Leben gegangen. Und plötzlich kam ihm
der fatale Gedanke, daß er eigentlich die schönste
Zeit seines Lebens hatte ungenutzt verstreichen
lassen. Im Grunde seines Herzens fühlte er
ja gar nicht so moralisch, wie er es vor sich
selber und der Welt zur Schau stellte. Es war
ivohl mehr die Geschichte von dem Fuchs und
den allzu säuern Traubetl. Soweit hatte er
seinen Gedanken freien Lauf gelassen. Jetzt
aber rief er ihnen ein endgültiges Halt zu.
Neitl — sein Leben war reich und schön, aus-
gefüllt durch die Erziehung zur Tugend. Er
ivar mit dem Ausziehen fertig, aber das elek-
trische Licht drehte er nicht ab. Er wollte noch
etwas Ernstes und Würdiges lesen. So streckte
er sich denn behaglich aus, zog die Decke über
die Brust und griff nach einem Schulprogramm,
das eine sehr eingehende, tüchtige, geistvolle, ja
eigentlich unvergleichliche Studie aus seiner
Feder enthielt. Ihr Titel lautete: „Uebcr den
Einfluß der sinnlichen Wahrnehmungen (Ge-
ruch, Geschmack, Gesicht, Gehör) auf die durch Er-
innerungsvorstellungen hcrvorgerufenen Idecn-
assoziationen bei Knaben im Alter von 12 bis
11 Jahren."
Eine Weile mochte er in dieser Arbeit gelesen
haben, als er plötzlich höchst überrascht und er-
schrocken wieder den seinen, süßen Parsümgeruch
in der Nase spürte, der ihn schon auf dcmTreppen-
slur begrüßt hatte. Er schnüffelte - in der Tat, es
war derselbe rosenatmende Dust. Unwillkürlich
stieg das Bild der kleinen zierlichen Rokoko
dame mit den entzückenden Beinchen wieder
vor ihm aus. War sie in der Nähe? Das schien
doch ganz und gar ausgeschlossen. Er richtete
sich in den Kiffen auf und ließ seine Blicke auf-
merksam forschend im Zimmer umherschweifen.
Die alten, schon von Tausenden benutzten Möbel,
deren roter Plüschbezug fadenscheinig und schäbig
aussah, standen noch alle aus ihren« alten
Fleck. Bon dem Dämchen war natürlich nichts
zu sehen. Fast mit Genugtuung legte der Ober-