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Gedanken über Dunst

von Giovanni Segantini f

Die Herren Kritiker befinden sich von
Grund aus im Irrtum, wenn sie sich darauf
versteifen, daß die moderne Kunst eine über-
stürzte Entwicklung genommen habe. Sie
glauben bereits das Dach zu sehen, wo doch
im Gegenteil noch nicht einmal das gesamte
Material für den Bau beisammen ist.

Wir unsererseits sehen die Entwicklung
der Kunst erst dann für vollendet an, wenn
die soziale Entwicklung nach Ueberwindung
aller Hemmnisse klar aus der alten Welt
hervorgetreten sein wird. Jegliche Entwick-
lung, sie sei nun sozial oder religiös oder
sonstwie, hat als erstes Ziel die Verneinung
des Alten, den Nihilismus, die Zerstörung.
Darum werden zu gewissen Zeiten die Künste
verworfen, die alten Ideale und die alten
Religionen werden mit Füßen getreten und
verhöhnt und das ist nur natürlich. Wie eine
Entwicklung entsteht und vergeht, das können
wir mit Leichtigkeit an derjenigen wahr-
nehmen, die unter all diesen Phänomenen das
mächtigste ist, das wir kennen — am Christen-
tum. In seinen ursprünglichen Grundzügen
hatte es die Wissenschaft, die Künste und alles,
was das Leben, und sei's auch im geistigen
Sinne, erfreulich und angenehm macht, ver-
worfen. Und welches war das Ergebnis?
Es bestand darin, daß für eine neue Kunst
Platz geschaffen wurde, die sich mit dieser Ent-
wicklung in Übereinstimmung befindet....
Die Kunst kann nicht sterben; die Kunstemp.
findung ist in uns da und ist ein Teil der
Natur; sie ist mit unseren Leidenschaften ver-
knüpft und verfädelt und darum — mögen
auch die Nihilisten und Materialisten das Ge-
genteil behaupten: sie sind schon entmutigt, zu-
rückgedrängt und überwunden: — das Kunst-
gefühl ist unzerstörbar.

Heute freilich ist ein allgemeines volkstüm-
liches Kunstgefühl nicht vorhanden. Spärlich
finden sich hier und da in den verschiedenen
Teilen der zivilisierten Welt einsame, wahrhafte
Künstler, die in Wahrheit persönliche Kunstwerke
erschaffen: diese einsamen Vorläufer haben eine
beschränkte Zahl von Bewunderern: ihre Per-
sönlichkeiten stechen hervor, ihre Kunst verbleibt
in hohem Sinne aristokratisch. Dann gibt es
andere Künstler, die mit ehrlichem Kunstgefühl
Werke hervorbringen, die nicht genügend in sich
harmonisch vollendet sind: diese haben dennoch
einen Kreis von Liebhabern, der aber auf das
betreffende Land beschränkt ist, und ihre Werke
haben keinen Kurswert im künstlerischen Welt-
märkte.

Wiederum gibt es andere, die zwar dem
Kunstgefühl zugänglich, aber unfähig sind, es
mit Kraft zum Ausdruck zu bringen und darum
schwächliche Werke Hervorbringen, die nur vage
an das künstlerische Ideal hinanreichen: gar
manchesmal ist das Gefühl, das sie in das Werk
übergeströmt wähnten, in ihnen zurückgeblieben
und dann können sie nicht begreifen, wie das
Publikum und selbst die Freunde es nicht zu
sehen vermögen.

Das sind die hauptsächlichsten Gruppen, die
den gegenwärtigen Stand der modernen Kunst
in aller Welt repräsentieren, und diese Kunst
strahlt ihr Licht nicht weiter aus als innerhalb
des kleinen Kreises von Ideen- und Gefühls-
verbindungen, die den paar Künstlern und Kunst-
freunden gemeinsam sind.

Wie schon gesagt, in unseren Tagen gibt es
keine Kunstentwicklung, die man als Erfüllung
begrüßen könnte: sie ist einfach erst eine Ver-
neinung des Alten. Gleichzeitig mit der Re-
volution gingen wir hervor aus einer Welt,
die mit ihren hundertjährigen Institutionen die
Glaubensmeinungen und Idealvorstellungen und

Selbstbildnis G. Segantini's ^

darum auch die Künste harmonisiert hatte. Und
jetzt finden wir, daß das alles unserer Ge-
schmacksstimmung nicht mehr entspricht, weil
es sich dem modernen Leben, das vom alten
so verschieden ist, nur übel einfügt und ganz
besonders in den Zentren der höchsten Kultur:
darum verwerfen wir die veralteten Formeln
— freilich ohne bisher, außerhalb des Be-
reiches der Idee, in neuen Formeln, die sich
dem neuen Leben einschmiegen, einen Ersatz
gefunden zu haben.

Wer trägt die Schuld? Keiner! Die neue
Welt ist noch in Gährung: aus irgendwelchen
Gründen der Optik vermögen wir, während
wir von der Entwicklungsbewegung dahin-
getragen werden, diese Bewegung selbst und
ihre Geschwindigkeit nicht wahrzunehmen und
wir leben der Illusion, bereits an einem Ziele
angelangt zu sein, und haben doch nur die
alten Ideen und alten Theorien ein wenig aus-
geflickt und umgestülpt.

In der Zukunft, nachdem die materialistisch-
krämerhafte Umwandlungsphase, in der wir
zur Zeit stehen, durchmessen sein wird, wird sich
aus den neuen Gesellschaftsformen eine neue
Lebensform der Kunst herausschälen.

Literatur, Musik und Malerei, nicht fürder-
hin Dienerinnen oder Dirnen, sondern mächtige
und freundliche Herrinnen, werden die heilige
Dreieinigkeit des Geistes bilden: Religion und
Muse wird für sie die kosmische Evolution sein,
Führerin die Wissenschaft, Quelle der Eingebung
das hohe und heitere Naturgefühl.

Die alten Ideale sind zum Teil bereits ge-
fallen, zum Teil sind sie zum Fallen reif: andere
Ideen brechen hervor oder sind zum Aufbrechen
reif. Und somit hat der rückwärtsgewandte
Blick, hat die Betrachtung versunkener Ideale,
woraus man die Unterlage für einen neuen
Idealismus hat schaffen wollen, weiterhin kein
Recht mehr auf Bestand. Die Gedankenwelt
der Künstler darf sich nicht länger mehr der
Vergangenheit zuwenden, sondern soll sich in
die Zukunft einbohren, als deren Herold und
Verkünder. Die Kunst muß für uns die von
den Religionen freigelaffene Lücke einnehmen:
die Zukunftskunft wird gleichsam als Geistes-
wissenschaft erscheinen müssen und das Kunst-
werk wird deren Offenbarung sein.

Trauminsel

von tausend Segeln, die die winde schwellen,
führt keines mich ju dir.

Von tausend ölihen, die die slacht erhellen,
Zeigt keiner deine Küsten mir.

3m Lraum nur sehe ich den Kauch entwallen,
Der dich bedeckt, verflüchtigend sich in stichts,
Und in die liefen meiner Seele fallen
Die milden Strahlen eines fernen Lichts.

Schmal überwölbt von hellen sttondesbrauen,
öleich einem Hug> voll träumerischer Pracht,
So schwimmst du wunderbar im dunkelblauen,
Sühschweren Duft der stillen Sommernacht.

öleich eines sttenschen örust, so senken, heben,
von einem warmen Mem sanft bewegt,

Sich deine Wiesen. Sinnend siht das Leben
tin goldenen flüfsen, die kein Sturm erregt.

Und meine Seele strebt mit Sturmwindflügeln
Zu jenen Küsten glanjbesprühten Schaums.
3ch spähte, ries nach dir von allen Hügeln:
„0 laß dich finden, 3nsel meines lraums!"

Srete Klasse

7lm einem

Briefe Segaminis anVircorio Pica

Mehr als vierzehn Jahre sind es her, daß
ich ein Hochgebirge nach den Akkorden einer
Alpensymphonie suche, die, aus Tönen und
Farben zusammengesetzt, all die verschiedenen
Harmonien der hohen Berge in sich faßt und
sie zu einer einzigen vollkommenen vereint. Nur
wer, wie ich, im blauen Frühling monatelang
auf den schimmernden Alpentriften gelebt und
den Stimmen gelauscht hat, die aus den Tälern
empordringen, jenen undeutlichen abgeschwächten
Harmonien, die der Wind herüberträgt, und
die um uns eine tönende Stille schaffen, die sich
über den hohen, weiten azurenen Raum er-
streckt, dessen Horizont die Ketten starrer Gletscher
und felsiger Grade besäumen — vermag die
hohe künstlerische Bedeutung dieser Akkorde
und Empfindungen zu verstehen. Ich muß
immer daran denken, welchen Teil an meinem
Geiste jene Harmonien der Formen und der
Linien, der Farben und der Töne haben, und
daß jene Seele, die ihnen gebietet, und jene
andere, die sie vernimmt und schaut, doch nur
eine einzige bilden, daß sie in ihrem Verstehen
einander durchdringen und sich ergänzen in
einem Gefühl leuchtender Harmonie, der ewigen
Harmonie des Hochgebirges. Ich habe mich
stets bemüht, einen Teil jenes Gefühls in meinen
Bildern zum Ausdruck zu bringen; da aber,
aus verschiedenen Gründen, so wenige dies
fühlen und verstehen, glaube ich, daß jene Kunst
eine unvollkommene ist, die nur Einzelheiten
der Schönheit darstellt, nicht aber die ganze
harmonische lebendige Schönheit, die die Natur
belebt. Darum habe ich daran gedacht, ein
großes Werk zu schaffen, gleichsam eine Syn-
these, in das ich jenes ganze starke Gefühl der
Harmonie des Hochgebirges hineinzulegen ver-
möchte, und habe das Ober-Engadin zum Vor-
wurf gewählt, weil es von allen Gegenden,
die ich kenne, am reichsten an Schönheit und
Abwechslung ist. Da verschmelzen die felsigen

äoche und die ewigen Gletscher mit dem zarten
rün der Tristen und dem tiefen Grün der
Fichtenwälder, und der blaue Himmel spiegelt
sich in kleinen Seen, die noch hundertmal blauer
sind als der Himmel. Die freien üppigen Weiden
sind allerwärts von kryftallenen Wasseradern

622
Register
Giovanni Segantini: Aus einem Briefe Segantinis an Vittorio Pica
Grete Massé: Trauminsel
Giovanni Segantini: Selbstbildnis
Giovanni Segantini: Gedanken über Kunst
 
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