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Winter in St. Moritz

des Morgens zur Schule gegangen. Dort drinnen
in diesem großen Hof hatte er des Abends gespielt
und sich gebalgt. Dort in dem Gäßchen wurde
ein Stück des Hafens sichtbar. Ja, ja, alles war
sich gleich geblieben in der alten Stadt der See-
mannswitwen .. . Nur er war anders geworden.

Man war am Ziel.

Er trat in ein kleines Zimmer mit geblümten
Tapeten und blaugestreiften Teppichen. Zwischen
den Fenstern war Renntiermoos mit kleinen roten
Papierblumen und Efeu. An der wand hing
ein Bild, das Schiff „Ehristine" vorstellend, wie
es eines Sommertags mit vollen Segeln die blauen
Wellen des atlantischen Ozeans durchschnitt.

Tante Ehristine ging auf die Innentüre zu,
so leise, als fürchtete sie eine Schlafende zu
wecken.

„Mutter liegt hier drinnen . . . Ich ließ mit
dem Zunageln des Sarges warten, wenn Sie sie
sehen wollen, Jan .. ."

Er vergaß, den Rock abzulegen. Mit dem
Hut und dem Regenschirm in der Hand, wankte
er in die Kammer.

Das Gesicht der Alten verändert sich im Tode
nicht so sehr. Der hat schon insgeheim in langen
Jahren des Wartens seine Arbeit getan, und
wenn der letzte schwache widerstand gebrochen
wird, dann verweilt er ohne grausamen Triumph
nur wie ein bloßer Schimmer über den Zügen.

Die Mutter lag da, die schmalen wachsgelben
Hände unter Blumen ausgestreckt, die Augen
waren geschloffen, aber es war ein Lächeln um
den Mund, ein seltsames Lächeln von unsäglichem
Frieden.

Dieses Lächeln schnürte ihm die Kehle in
geheimnisvollem Grauen vor etwas Unbekanntem,
Unfaßbarem zusammen. Es wurde so angstvoll
still, daß er sein Herz schlagen hörte .. Dann
begann etwas in ihm zu tasten, zu tasten nach
dem vergangenen ... Erinnerungen regten sich
stumm, lief in seiner Brust und schmerzten
dumpf — Erinnerungen vom Morgengrauen des
Lebens . . .

Er sank in einen Stuhl.

Tante Ehristine kam herein. Sie plauderte
in der freundlichen Vertrautheit ihres Alters
mit dem Tode. Sie legte die Blumen auf die
Füße der Toten, ganz so, als sollte sie nicht
frieren. Dann wischte sie eine Träne mit ihrer

G

welkeil Hand fort und murmelte mit einem etwas
ängstlichen Lächeln:

„Sie ist in Frieden gestorben... sie hat nur
mich bedauert, daß ich hier weiter herumgehen
muß . . . Ja, und dann etwas anderes . .. Sie
sagte, daß sie sich solche Sorgen machte, wie Sie
dort oben in Stockholm leben, Jan. Dort ist ja
soviel Sünde. . . Und sie wollte so gerne, daß
Sie einmal den Prediger Immanuel hier hören,
Jan. . . Darum habe ich ihn gebeten, herzu-
kommen und eine Andachtsstunde abzuhalten. . .
Ein paar alte Freunde Mutters kommen auch
mit. . . Pastor Immanuel gehört zur Stiftung.. .
Sie dürfen nicht böse sein, Jan — Mutter hat
so inständig darum gebeten . . ."

In seinem Kopf war kein Gedanke, er fühlte
nur, daß er nicht nein sagen konnte, und nickte
zustimmend.

Die Alte strahlte und zog sich sogleich in die
Küche zurück.

„Machen Sie sich nun heimisch hier, Jan . ..
Ich gehe und setze Kaffee auf... Sie kommen
bald . .."

Er setzte sich zum Fenster und starrte auf die
Straße hinaus, wo zwei Jungen jeder in seinem
Haustor standen und einander Schimpfnamen zu-
riefen; er konnte nichts hören, was sie sagten,
aber er sah es an ihren Mienen.

Die Haustür knallte zu. Eine alte F^au in
persischem Shawl und schwarzem Hut mit Flieder«
zweigen glitt in das äußere Zimmer. Sie witterte
Kaffee und verschwand mit einem Knix in die
Küche.

Dann kam der Prediger und mit ihm drei
andere alte Frauen.

Er war dunkelhaarig und schön, in seinem
Lächeln war ein unbeschreibliches Gemisch von
Seligkeit und Mitleid. Er nahm Jans beide
Hände, drückte sie lange und sah ihm tief und
eindringlich in die Augen:

„Sie ist in Gott gestorben."

In seinen Strumpf gewickelt, dampfte der
Kaffeekocher auf dem schimmernden weißen Tuche
des Wohnzimmertisches.

Die Frauen sprachen von der Toten. Der
Prediger bediente sich von dem Backwerk.

Dann zog er ein kleines schwarzes Büchlein
hervor. . .

Jan schlich sich sachte zu seiner Mutter hinein.

Giovanni Segantini ch

Der Prediger kam ihm sogleich nachgeschlichen.

„Ja, ja, vielleicht ist es besser hier drinnen...
unmittelbar angesichts der Majestät des Todes,"
flüsterte er und setzte sich dicht neben Jan. Dann
begann er von Gott zu sprechen.

Jan sah in das Gesicht der Mutter, so als
erwarte er, daß sie die Augen aufschlagen würde,
er verstand nicht, was gesagt wurde, litt nur
darunter, die Stimme des andern zu hören.

plötzlich stand er auf und legte seine Hand
auf die Schulter des Predigers.

„Ich danke Ihnen, Herr Pastor, aber wollen
Sie nicht so freundlich sein und jetzt gehen . . .
Ich bin müde, ich möchte so gern, daß es hier
still wird."

Der Prediger Immanuel erhob sich und warf
ihm einen Blick unsäglichen Mitleids zu.

„Sie Armer, Sie Armer — Sie haben noch
einen weiten weg..."

Tante Ehristine schüttelte ihren grauen Kopf
und begleitete die Andern hinaus. Dann wurde
es still.

* * *

' Am folgenden Tag war das Begräbnis.

Der alte Mietwagen rumpelte über das holp-
rige Pflaster der Straße. Jan saß neben Tante
Ehristine, die in ihr Taschentuch weinte. Solange
die Schwester unter ihrem Dach war, hatte sie
die Einsamkeit nicht so recht gefühlt, aber jetzt.. .

vor ihnen fuhr die Tote. Der Leichenwagen
wiegte sich sachte mit seinen Engelsköpfen. Die
Bänder der Kränze hingen schlaff herab, der
Kutscher grüßte hie und da mit der Peitsche.

An allen Fenstern waren Menschen, die sich
den Staat ansehen wollten.

Jan starrte hinaus. Es war unbestimmt leer
mrd kalt in ihm.

Aber nun glitt der Zug an seiner alten Schule
vorbei. Das Staket unter den Ulmen war rot
gemalt wie einstmals. Ein Lehrer stand in einem
Saal zu ebener Erde am Katheder und führte den
Gesang mit einem Lineal an. Durch die offenen
Fenster strömten die frischen Wellen der Knaben-
stimmen hinaus in den stillen Septembertag.

Da dachte Jan wieder an das Lächeln der
Mutter — an seinen seltsamen Friedem Ein
gespenstisches Licht fiel auf die vergangenen Ar-
beitsjahre. Er fühlte mit namenloser Angst, daß
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Giovanni Segantini: Winter in St. Moritz
 
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