das Lhokoladenkügelchen noch im Munde hatte,
und daß sie weder daran zu lutschen noch cs zu
entfernen wagte. —
Er saß eine Weile. — dies unent-
schiedene Lhokoladenkügelchen da. und den sonder-
baren, absurden Wulst, den es aus ihrem Mund
machte; und sah und fühlte nichts als dies . ..
Und plötzlich erhob er sich entschlossen und
verabschiedete sich. Totblcich, noch immer den
Mund so gewulstet, seinen Blick vor sich hin-
starrend vermeidend, reichte sie ihm für einen
huschenden Augenblick wortlos eine schlaffe Hand.
Und bleich und wortlos ließ sie ihn gehn . ..
Aesthetische Rultur
Line Erinnerung aus meinem sechsten Lebens-
l-chr.
Eine Tür führte aus unsrer Wohnung mit
ein paar Holzstufen auf einen alten Holzbalkon
hinab, der rings um einen romantisch verschach-
telten Kleinstadthof herninging.
Es ist ein Sommervormittag. Ein tiefblauer
Fimmel spannt sich über den Dächern und die
lichte Morgensonne dringt in den alten Hof herein,
legt große, stille, goldgelbe Lichtdreieckc und licht-
blaue Schatten in das Gewinkel und Geschachtet.
Ganz kann sie es aber nicht erhellen; hie und
da dunkelt ein purpurblauer oder gar schwarzer
Winkel. ©bcn schießen zirpend die Schwalben
durch den Azur oder macht ein Taubenschwarin
seine blitzenden, filligrauschenden Flugmanöver.
Das regenverwaschene Holzwerk des alten Bal-
kons, von der Sonne grell angewärmt, hat solch
ein feines seidiges Lnftgrau. wenn man den
Kopf etwas schief hält und die Augen ein bißchen
zusammenkneift, nimmt es sich aus, als wenn cs
mit Millionen winzigen blitzenden Silbcrflernchen
iibersät wäre.
Ich sitze auf einer von den Holzstufcn, die von
der Stubentür nach dem Balkon herabführen und
habe meine Sainmlung Neuruppiner Bilderbogen
neben mir liegen. Sie waren damals meine
Leidenschaft und sind es nachher noch lange gc-
blieben.
Ich sitze auf der Stufe, halte einen nach dem
anderen die Bogen vor mir hin und bin in ihre
Betrachtung verloren. Und da mir schon viele
Märchen erzählt sind, die ich alle gut behalten
habe, verstehe ich mich auf den Inhalt dieser
Bogen und lebe, wie ich sie betrachte, tief hin-
genommen in ihren Wellen.
Der eine. — ©beit links das erste Bildvicr-
cck. Es ist der Märchen-Prinz, oder „Hans im
Glück". Er hat Ränzel und Wanderstab und
wandert am frühen Morgen in die weite Welt
hinein, ©den über ihm ist der blaue Himmel,
an dem schön weiße Wolken ziehe», und ein
Vögelchen fliegt in der Luft, das sicher eine Lerche
sein soll. Unten der Weg: schön sattbraun, grün
und lichtgelb, mit ein paar schön deutlich roten
und blauen Blumen drin. Im Hintergründe
hinter grünen Getreidefeldern eine Kirchturmspitze,
schön stahlblau, weil sie doch jedenfalls mit Schiefer
gedeckt ist. Und „Hans im Glück" hat so schöne
rote Backen, eine so herrliche, deutlich blaue
Jacke und so herrliche grasgrüne Kniehosen
und so herrliche schwefelgelbe Strümpfe; wie
nur immer der schönste Pfcifenkopfmann. Na,
also ein echter, richtiger Neuruppiner; man
weiß ja. —
Aber die Hauptsache: ich selbst bin der „Hans
im Glück" da und wandre so in den schönen
goldigen Sommerfrühmorgen hinein, auf Aben-
teuer aus. Ganz und gar und ohne weiteren
Abzug.
Uitd ich denke dabei an das schöne Lied, das
ich auch schon gelernt habe:
„weißt du, wieviel Sternlein stehen
An dem blauen Himmelszelt?
weißt du, wieviel Wolken gehen
weithin über alle Welt?" u. s. w.
Und die zweite Strophe:
„weißt du, wieviel Mücklein spielen
In der heißen Sonnenglut?
wieviel Fischlein auch sich kühlen
In der hellen Wasserflut?" u. s. w.
Und die dritte:
„weißt du, wieviel Kindlein frühe
Stehn ans ihrem Bettlein auf,
Daß sie ohne Sorg und Mühe
Fröhlich sind im Tageslauf?" u. s. w.
Das Neuruppiner Bild da und dies Lied^
wenn ich doch auch nur im entferntesten beschreiben
könnte, was für ein wundersames Erlebnis dies
Beieinander war! .. .
Mag es mit den: ästhetischen wert der braven
Neuruppiner auf sich haben, was es will: noch
heutigen Tags, wenn ich mal solch bunten Bogen
in die Hände bekomme oder bei meinen Stadt-
bummeln in dem Schaufenster eines Buchbinder-
ladens ausliegen sehe, liegt über ihm etwas von
der unaussprechlichen Seele jenes Erlebnisses
meiner frühen Jugend.
Ich glaube, genau so viel und so wenig wird
cs mit dem werte der „ästhetischen Kultur"
auf sich haben. . .
Reiser und Ruthen
Ein Idealist und trotzdem kein Don
Qllixote; ein Realist und trotzdem kein Pansa.
Das ist's.
Anbiedern, anbrüdern, anwidern. Das
sind nicht nur Reime.
Wer über Gott nicht mehr reden kann,
fängt an, etwas von ihm zu wissen.
So lange nian sich über den Eigennutz
der andern noch sittlich entrüstet, ist der Neid
noch nicht ganz überwunden.
Um Verzeihung bittende Kinderaugcn sind
unerträglich. Warum? Sie klagen dich an.
Eine Nagelprobe! Habe einmal den Ehr-
geiz, für dumm, faul, grausam, genußsüchtig,
lügnerisch gehalten zu werden. Statt einer
geheimen Freude wirst du den Schreck er-
leben, daß von alledem noch ein ganz hübscher
Bodensatz in dir ist.
Sei niemals grob. Wenn aber, dann recht !
Wenn jemand mit dir über dich reden
will, dann sage ruhig: ich kenne diesen
Menschen nicht. Es stimmt immer.
Es gibt auch Heimtücker der Giite und
Duckmäuser der Liebe. Es sind umgekehrte
Heuchler, Schafe im Wolfspelz. Sie tun
furchtbar grimmig und haben Kinderherzen.
Aber selten sind sie, selten!
Gut sein und stark. Es geht nicht anders.
Die Wildsäue haben nur vor festen Zäunen
Respekt.
Oer Sommer
Fresko im Neuen Kurhause in Wiesbaden
Fritz Erler (München)
Anton Fcndvich
und daß sie weder daran zu lutschen noch cs zu
entfernen wagte. —
Er saß eine Weile. — dies unent-
schiedene Lhokoladenkügelchen da. und den sonder-
baren, absurden Wulst, den es aus ihrem Mund
machte; und sah und fühlte nichts als dies . ..
Und plötzlich erhob er sich entschlossen und
verabschiedete sich. Totblcich, noch immer den
Mund so gewulstet, seinen Blick vor sich hin-
starrend vermeidend, reichte sie ihm für einen
huschenden Augenblick wortlos eine schlaffe Hand.
Und bleich und wortlos ließ sie ihn gehn . ..
Aesthetische Rultur
Line Erinnerung aus meinem sechsten Lebens-
l-chr.
Eine Tür führte aus unsrer Wohnung mit
ein paar Holzstufen auf einen alten Holzbalkon
hinab, der rings um einen romantisch verschach-
telten Kleinstadthof herninging.
Es ist ein Sommervormittag. Ein tiefblauer
Fimmel spannt sich über den Dächern und die
lichte Morgensonne dringt in den alten Hof herein,
legt große, stille, goldgelbe Lichtdreieckc und licht-
blaue Schatten in das Gewinkel und Geschachtet.
Ganz kann sie es aber nicht erhellen; hie und
da dunkelt ein purpurblauer oder gar schwarzer
Winkel. ©bcn schießen zirpend die Schwalben
durch den Azur oder macht ein Taubenschwarin
seine blitzenden, filligrauschenden Flugmanöver.
Das regenverwaschene Holzwerk des alten Bal-
kons, von der Sonne grell angewärmt, hat solch
ein feines seidiges Lnftgrau. wenn man den
Kopf etwas schief hält und die Augen ein bißchen
zusammenkneift, nimmt es sich aus, als wenn cs
mit Millionen winzigen blitzenden Silbcrflernchen
iibersät wäre.
Ich sitze auf einer von den Holzstufcn, die von
der Stubentür nach dem Balkon herabführen und
habe meine Sainmlung Neuruppiner Bilderbogen
neben mir liegen. Sie waren damals meine
Leidenschaft und sind es nachher noch lange gc-
blieben.
Ich sitze auf der Stufe, halte einen nach dem
anderen die Bogen vor mir hin und bin in ihre
Betrachtung verloren. Und da mir schon viele
Märchen erzählt sind, die ich alle gut behalten
habe, verstehe ich mich auf den Inhalt dieser
Bogen und lebe, wie ich sie betrachte, tief hin-
genommen in ihren Wellen.
Der eine. — ©beit links das erste Bildvicr-
cck. Es ist der Märchen-Prinz, oder „Hans im
Glück". Er hat Ränzel und Wanderstab und
wandert am frühen Morgen in die weite Welt
hinein, ©den über ihm ist der blaue Himmel,
an dem schön weiße Wolken ziehe», und ein
Vögelchen fliegt in der Luft, das sicher eine Lerche
sein soll. Unten der Weg: schön sattbraun, grün
und lichtgelb, mit ein paar schön deutlich roten
und blauen Blumen drin. Im Hintergründe
hinter grünen Getreidefeldern eine Kirchturmspitze,
schön stahlblau, weil sie doch jedenfalls mit Schiefer
gedeckt ist. Und „Hans im Glück" hat so schöne
rote Backen, eine so herrliche, deutlich blaue
Jacke und so herrliche grasgrüne Kniehosen
und so herrliche schwefelgelbe Strümpfe; wie
nur immer der schönste Pfcifenkopfmann. Na,
also ein echter, richtiger Neuruppiner; man
weiß ja. —
Aber die Hauptsache: ich selbst bin der „Hans
im Glück" da und wandre so in den schönen
goldigen Sommerfrühmorgen hinein, auf Aben-
teuer aus. Ganz und gar und ohne weiteren
Abzug.
Uitd ich denke dabei an das schöne Lied, das
ich auch schon gelernt habe:
„weißt du, wieviel Sternlein stehen
An dem blauen Himmelszelt?
weißt du, wieviel Wolken gehen
weithin über alle Welt?" u. s. w.
Und die zweite Strophe:
„weißt du, wieviel Mücklein spielen
In der heißen Sonnenglut?
wieviel Fischlein auch sich kühlen
In der hellen Wasserflut?" u. s. w.
Und die dritte:
„weißt du, wieviel Kindlein frühe
Stehn ans ihrem Bettlein auf,
Daß sie ohne Sorg und Mühe
Fröhlich sind im Tageslauf?" u. s. w.
Das Neuruppiner Bild da und dies Lied^
wenn ich doch auch nur im entferntesten beschreiben
könnte, was für ein wundersames Erlebnis dies
Beieinander war! .. .
Mag es mit den: ästhetischen wert der braven
Neuruppiner auf sich haben, was es will: noch
heutigen Tags, wenn ich mal solch bunten Bogen
in die Hände bekomme oder bei meinen Stadt-
bummeln in dem Schaufenster eines Buchbinder-
ladens ausliegen sehe, liegt über ihm etwas von
der unaussprechlichen Seele jenes Erlebnisses
meiner frühen Jugend.
Ich glaube, genau so viel und so wenig wird
cs mit dem werte der „ästhetischen Kultur"
auf sich haben. . .
Reiser und Ruthen
Ein Idealist und trotzdem kein Don
Qllixote; ein Realist und trotzdem kein Pansa.
Das ist's.
Anbiedern, anbrüdern, anwidern. Das
sind nicht nur Reime.
Wer über Gott nicht mehr reden kann,
fängt an, etwas von ihm zu wissen.
So lange nian sich über den Eigennutz
der andern noch sittlich entrüstet, ist der Neid
noch nicht ganz überwunden.
Um Verzeihung bittende Kinderaugcn sind
unerträglich. Warum? Sie klagen dich an.
Eine Nagelprobe! Habe einmal den Ehr-
geiz, für dumm, faul, grausam, genußsüchtig,
lügnerisch gehalten zu werden. Statt einer
geheimen Freude wirst du den Schreck er-
leben, daß von alledem noch ein ganz hübscher
Bodensatz in dir ist.
Sei niemals grob. Wenn aber, dann recht !
Wenn jemand mit dir über dich reden
will, dann sage ruhig: ich kenne diesen
Menschen nicht. Es stimmt immer.
Es gibt auch Heimtücker der Giite und
Duckmäuser der Liebe. Es sind umgekehrte
Heuchler, Schafe im Wolfspelz. Sie tun
furchtbar grimmig und haben Kinderherzen.
Aber selten sind sie, selten!
Gut sein und stark. Es geht nicht anders.
Die Wildsäue haben nur vor festen Zäunen
Respekt.
Oer Sommer
Fresko im Neuen Kurhause in Wiesbaden
Fritz Erler (München)
Anton Fcndvich