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Schoner Herbst

0 Tage goldner Dämmerungen,

Verhüllten Harfenspiels blangoldne Tage!
Ein Ton, erklingend halb und halb verklungen,
Rührt meinen Sinn mit nnverstaadner Frage.
Noch schluchzt ein Vogel im Geäst,

Von süßer Bängnis abendlich berauschet,
Und läßt,

Indes der Garten einsam lauschet,

Sein Herz vergehn in Sehnsucht, Not und Klage.
Ich steh und spür mein Blut so wild . .

Was sinnst Du, töricht B!ut — o sage:
Hat Dich der Sommer nicht gestillt?

Hans Müller

vre expropriierte Zirbeldrüse

Von Friedrich Frcksa

war also nicht mehr zu leugnen: August
£22 Wilhelm Kuhlenkamp, bas dramatische Genie
der Zukunft, der Begründer der naiven Muskel-
dramatik, wie ihn die Rezensenten der Reichs-
hauptstadt nach dem Turner benannten, der an
seiner Statt im Jinponierkabinet der Firma Te-
bernfett & To. die Reporter empfangen hatte,
versumpfte.

Tr versumpfte.

Und es kam der Tag, wo seine alten Stücke
abgewirtschaftet hatten, und wo Thluwitzky ihm
erklärte: „Ich wage keinen Pfennig Vorschuß für
Sie, denn Ihre Stücke gehen nicht mehr, und
Ihr Körper ist zu dick, als daß Sie die Tnergie
für neue Stücke aufbringen werde::."

Tine letzte Abrechnung wurde gemacht. Der
Dramatiker erhielt seine letzten Tantiemen der
Aufführungen aus Treuenbrietzen und Ostrowo,
zusammen zweiundzwanzig Mark und elf Pfennige.

Dieses Geld reichte nun freilich nicht einmal
mehr zu hundert Maß. August Wilhelm Kuhlen-
kamp ward es schwarz vor den Augen.

Das rote Arbeitszimmer des Agenten, an
dessen wänden die bekannten Photographien be-
rühmter Darsteller und Dichter hingen, der Schreib-
tisch vor ihm und das Kalkulatorengestcht Thlu-
witzky's flössen vor den Augen des Unglücklichen
in einen violetten Nebel zusammen. Der Stuhl
schien sich unter dein Drucke seines gewaltigen
Gesäßes zu öffnen, und das Gefühl eines Fallens
mit zunehmender Geschwindigkeit kain über ihn.

Thluwitzky bot ihm ein Glas Wasser an.

Und er trank es. Ts war seit sieben Jahren
das erste, und es schmeckte indifferent und schlecht.
Als er aber nach dem Trünke in das Gesicht
seines Agenten sah, bemerkte er, daß die strengen
Züge Thluwitzky's einen milderen Ausdruck an-
genoinmen hatteil.

Und Thluwitzky sprach: „Tin Mittel gäbe
es vielleicht doch noch, um Ihnen zu helfen."

„wo?" fragte August Wilhelm Kuhlenkamp
mit dem Gesichte einer verdurstenden Bulldogge,
die ganz in der Ferne einen Wasserzuber wittert.

Thluwitzky schloß ein Fach feines Schreib-
tisches auf, nahm mehrere Prospekte und Briefe
heraus, setzte sich seinen Klemmer auf den breiten
Nasenrücken und sagte:

„Ts ist da ein neues Unternehmen, eine
G. m. b. p. Tin solides Unternehmen, gut mit
Kapital fundiert. Tin gesundes Unternehmen!
Tin lebensvolles Unternehmen! Die Gesellschaft
hat sich zusammengetan zwecks Ausbeutung der
geistigen Produktion. Wenn Sie mir von den
etwaigen Einnahmen, die Sie durch die Gesell-
schaft haben werden, jo°/o zedieren, so werde ich
Sie bei den Herren einführen."

,,-ie sind ein Tngel," schrie August Wilhelm
Kuhle::kamp erlöst und fprang in seiner Be-
geisterung trotz seiner Schwere plötzlich auf, um
sich auf Thluwitzky zu stürzen und ihn zu run-
armen. Thluwitzky konnte nicht mehr ausweichei:,
und so kam es, daß er mit seinem Stuhle, der
die niedersausenden dreihundert pfui:d Mehr-
belastung nicht vertrug, zusammenbrach und zu
Boden stürzte.

„verzeihen Sie," sagte der schwere Dichter.

„verschwenden Sie doch Ihre Kräfte nicht so,"
erwiderte Thluwitzky mißmutig. „Pier — unter-
zeichnen Sie lieber dieseir Kontrakt!" — Und
er holte ein Formular heraus, das Kuhlenkamp,
ohne es weiter zu prüfen, unterschrieb. Darauf
ging der Agent ins Nebenzimmer und.telepho-
nierte. Mit befriedigtem Gesicht kam er wieder
zurück. „Ts trifft sich günstig." sagte er. „Die
Gesellschaft braucht gerade eine neue geistige
Kraft, wir wollen sehen, ob Sie imstande sind,
diese zu liefern." — — —

Mittels Automobils wurde August wilheln:
Kuhlenkamp zum Bahnhof befördert u::d mit
dem Nordsüdexpreß nach Leipzig überführt. Tin
Leipziger Automobil, auf dein mit lila Letteri:
auf weißem Grunde „G. in. b. p. für g. Pro-
duktion" stand, führte die beiden Reisenden schnell
in den lieblichen Stadtteil Gohlis zu einem
sauberen Backsteinbau mit mehreren kleinen De-
pendancen, aus denen das dumpfe Dröhnen vo::
Dynamomaschinen und das Rollen und gleich-
mäßige Klappern vo:: riesigen Rotationsdruck-
maschinen mit elektrischem Betriebe ertönte.

*

Otto Geigenberger

Der Thauffeur öffnete ehrerbietig den Schlag
und führte August Wilhelm Kuhlenkamp uud
seinen Agenten durch ein eisernes Gattertor, einen
mit grauweißem Kies bedeckten Gang entlang,
der sich zwische:: zierlichem Rasen hinzog, bis sie
vor das weißgetünchte saubere Gebäude gelangten,
dessen Fenster vergittert waren. Ueber der Türe
stand das Wort: Laboratorium. Sie öffnete sich
lautlos vor ihnei:, nnb nachdem sie eingetreten
waren, setzte sich sofort der Boden, auf dem sie
standen, in Bewegung. Ts war ein höchst sinn-
reich erdachter, elektrischer Auszug, der ganz von
selbst im dritten Stock palt machte.

Zwei junge perren mit blonden Bärten und
Nickelbrillen auf der Nase, die in weiße Labo-
ratoriumsanzüge gekleidet waren, begrüßte:: die
Ankömmli::ge u::d führten sie in ein Zimmer,
in dem ein Röntgenapparat, ein Krafterzeuger
und mehrere Maschinen stände::, bereit Zweck
weder Thluwitzky noch dem Dichter Kuhlenkamp
beka::nt war. Dann entfernten sich die jungen
Perren, und nach einer weile traten zwei andere
Perren in schwarzen Gehröcken ins Zimmer,
gingen sofort aus Thluwitzky zu und stellten sich
vor: „Dr. Kadaver" — „Dr. wesenshauch" — I

Thluwitzky reichte ihnen die pand, deutete
auf August Wilhelm Kuhlenkamp und sagte:
„Pier ist das Objekt."

August Wilhelm Kuhlenkamp stand da, groß
u::d stark, mit aufgeknöpfter Weste, und die
biedern blauen Augen hingen aus seinem Kopf
wie zwei reife Pflaumen. Unter den dringlichen
Blicken der beiden Doktoren aber kehrte die
Tnerg'e in sein Gesicht zurück, die Sehnen der
Augen spani:ten sich wieder, und die Reste seiner
dichterischen Phantasie begannen zu arbeiten.

Ts waren sehr verschiedene perren, diese Dok-
toren Kadaver und wesenshauch! Dem Dr. Kadaver
waren sämtliche paare ausgega::gen, sogar die
Augenbrauen fehlten ihm. Sein Gesicht war außer-
ordentlich blaß, u::d er sah aus wie der Voll-
mond, der einen Gehrock angezogen hat. Genau
das Gegenteil von ihm war der Dr. wesenshauch.
Tr war hoch gewachsen, schlank und kräftig, seine
schwarzen paare wucherten üppig, und sein Bart-
wuchs konnte ei:tschieden nicht schwach genannt
werden, von dem ganzen Gesichte blieb nur der
Eindruck der starken, dui:kelbraunen Augen zurück,
die sich sicher und energisch auf jeden Gegenstand
richteten, den sie umfassen wollten.

August wilhelin Kuhlenkamp suchte sich diese
beiden Gestalten noch znsammenzureimen, als auch
schon der Dr. wesenshauch begann: „Die asso-
ziative Tätigkeit des Mannes scheint mir nicht
weiter gelitten zu haben, wir müssei: aber doch
erst die Untersuchung abwartei:, da es zweifelhaft
ist, ob nicht dei: uns interessierenden Teilen des

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Register
Hans Müller: Schöner Herbst
Otto Geigenberger: Zeichnung ohne Titel
Friedrich Freksa: Die expropriierte Zirbeldrüse
 
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