1909
JUGEND
Nr. 52
sie käme nicht zum Juden als Amme; und sie
hätt's auch nicht nötig.
Estherle fing an, zu weinen. Da sagte Herr
Eiland: „Nu, holen Se die Resi, Frau Binder!"
Die Binderin nahm ihr dickes Tuch und
ging. Es dauerte eine Stunde, dann kam sie
wieder — mit Resi. — „A bissl Hab ich ihr
müsse zurede," berichtete sie.
Die Resi sagte nichts. Sie hatte die Stirn
gefurcht und sah mürrisch drein.
Frau Binder nötigte sie zum Sitzen, goß
Kaffee in einen großen Topf und schnitt ein
Stück Kuchen ab. Die Resi machte sich darüber
her. Seit drei Tagen lebte sie von bitterm Tee,
um die Milch Zum Versiegen zu bringen. Nun
konnte sie wieder essen.
Dann, als Resi satt war, brachte Frau Bin-
der ihr das Kind. - „No, tränk sie, Resi! Sie
is scho ganz von Gräften."
Die beiden anderen Frauen sahen zu.
Stumm saß die Resi da und rührte sich nicht.
„No, mach", mahnte die Prasel, „der arme
Wurm kann's kaum erwarte."
In Resi bänmte sich der Widerwillen gegen
das fremde Kind, das sie nähren sollte statt
ihres eignen, das vorgestern noch in ihrem Schoß
gelegen. Ihr blondes, hübsches Bübchen. Wie
hatte es die Aermchen nach ihr ausgestreckt!
Nun lag ihr da der schwarzgelockte Balg im
Arm.
„No, mach doch!" sagte die Frankhauserin.
Die Resi blickte von einer auf die andre.
He, wie sie glotzten, die Weiber! Sie wollten
Zusehen, wie sie.. .? Nein.
Resi stand auf und ging mit Estherle ins
Nebenzimmer. Die Tür schloß sie fest hinter
sich zu. Drinnen hockte sie sich nieder und
starrte das Kind ein Weilchen an.
„Du Balg, du verflixter," sagte sie böse.
Das Kind blinzelte sie an und schrie.
„Wein nit, Estherle! Na, Estherle!" sagte
die Resi plötzlich ganz weich und knöpfte ihr
Mieder aus.
Von dieser bittern Art war und blieb Rests
Liebe. Eine heimliche Liebe, die sich vor den
Blicken der Dorfleute verkroch.
Estherle war's zufrieden — sie kannte es
ja nicht besser. Sie war's gewohnt, daß Resi
die Kinderfäustchen ungeduldig von den. Rock-
falten schüttelte und die Kleine nachher, in der
Küche, aufhob und küßte. Und Estherle dachte
darüber nicht nach.
Darüber nicht. Estherles erste Gedanken
umklammerten eine andre Frage.
Das war die Frau Prasel gewesen, die hatte
dem kleinen Mädel über den Kopf gestrichen,
als es dreijährig bei seinem Vater im Laden
stand, und hatte gesagt: „So a scheens Madel
is 's, Herr Eiland! Gar nit wie a Iudenkind."
Herr Eiland lächelte sauer und geschmeichelt
zugleich.
Damals war das untergegangen im Nebel
von Estherles Kinderträumen. Es tauchte aber
wieder auf, als Estherle heranwuchs. - Und nahm
langsam von ihrem Wesen Besitz. Sie fühlte
zweierlei und lernte es langsam verstehen: sie
stand höher als die Bauernkinder, denn sie trug
Schuh und Strümpfe — und ihr Vater war
reicher als die Bauern; ihre kleinen Kameraden
schmeichelten ihr, denn sie konnte jeden Augen-
blick eine Handooll Zucker holen aus Vaters
kleinem Laden.
Und sie stand tiefer aus einem andern Grund:
ihr war die Kirche verschlossen — auch die Schule,
wenn der Herr Pfarrer zur Religionsstunde
kam — und sie durfte nicht an Fronleichnam
in der Prozession einhergehen, weißgekleidet und
blumenstreuend, wie die Evi Prasel, die Stesi
Frankhauser und Anna Hoffer.
Sie stand außerhalb der großen Gemein-
schaft, allein auf der Welt.
Und es ist so schön, Kränze zu winden aus
Kornblum und Raden und sie der Gottesmutter
darzubringen — so warm und kindlich, dem
hochwürdigen Herrn entgegenzulaufen und seine
Hand zu küssen; er streicht einem dann mit
dieser weichen warmen Hand über den Kopf
und spricht ein gutes Wort.
Ihr Tate ist immer ernst, Resi launenhaft und
stumm. Estherle braucht eine liebe Gottesmutter,
die alle Kinder wie ihr eigen ans Herz nimmt.
Im Winter war's, und im Dorf ein Kinder-
sterben — Scharlach, der rote Tod.
Auch die Evi Prasel nahm er mit. Blaß
und lang lag sie im Sarg, dünne, hohe Kerzen
brannten, die Glasleuchter schimmerten wie
echtes Silber. Auf dem Kopf hatte Evi ein
Kränz'ein, um sie im Särglein staken Heiligen-
bildchen. — Die Kinder vor den Fenstern
quetschten sich die Nasen an den Scheiben platt
— hinein zu Evi durften sie nicht. Da hing
ein roter Zettel an der Tür, der es verbot.
Die alte Prasel geleitete zwei Frauen über
die Schwelle.
„Dun S' Ihne dröste," sagte die eine, „Ihner
Kind is im Himmel, a seliges Engerle, un
werd für Ihne beten."
„Ja, a scheens Engerle droben dein Herrn
Jesu Christ"
Am Abend drückte sich E^herle ganz nahe
an Resi. — „Resi, gell, die Evi is ein Engel
worden?" Und zaghaft: „Wenn ich möcht
sterben, wer ich auch a Engel im Himmel?"
Resi lachte und schob Estherle von sich. „Du
nit. Estherle. Du werft bei die Juden weide
auf der grünen Wiese."
Estherle gab ihrer besten Freundin, der Anna
Hoffer, eine Zuckerpfeife und lieh sich von ihr
den Katechismus aus.
Estherle schlich an einsamen Sommernach-
mittagen, wenn alles auf dem Feld war, um
die Kirche — und gelang's, so schlüpfte sie durchs
Sakrifteitürchen hinein. In der Kühlen Däm-
merung hielt sie lange, lange Zwiesprach mit
der Muttergottes. Dann tauchte sie schauernd
die Fingerspitzen ins Weihbecken, sah die Finger
lange, lange an und wagte doch nicht, sich die
Stirn zu netzen. Estherle verzehrte sich in Sehn-
sucht, den andern, den Glücklichen anzugehören,
um die sich ein großes Band schlingt, Christi
Glaube.
Estherle sehnte sich und grämte sich den
Sommer über und den Herbst und ward täglich
dünner und blässer — schlich in die Kirche und
kniete auf den eisigen Steinen. Als man die
Kirche zeitig nachmittag schloß, lief Estherle
auf den Kreuzweg und hockte am Kruzifix.
Der Abendnebel sank. Estherle kauerte
sich zitternd in ihr Wolltuch, und mit blauen
Lippen noch flüsterte sie das fünfundzwanzigste
Vaterunser.
So fand Resi das Estherle — und dort ent-
deckte das Estherle ihr das Geheimnis seines
feudal
„wissen Se, ick trainiere mich jetzt uff
Hungerleiden, - dann widme ich mich der Runst!"
kleinen Lebens. Don Resi erfuhr's das ganze
Dorf. Es war eine späte Rehabilitation für
Resi, die einst Estherle genährt hatte.
Und von zehn Weibern erfuhr's der hoch-
würdige Herr. Er erinnerte sich, daß Estherle
manchmal in der Religionsstunde geblieben war
— schüchtern auf dem letzten Eckchen der letzten
Bank.
Das Dorf geriet in Erregung: Estherle wollte
christlich werden. Kleine Kameradinnen, die sie
bei guter Laune verspottet hatten, weinten. Die
Großen zitterten vor frommem Eifer.
Herr Eiland hörte es von Estherle selbst.
Estherle war mit Tate auf Mutters Grab ge-
wesen, in der nächsten Iudengemeinde. Wie
trostlos sah der Friedhof aus. Schwere, vier-
eckige Steine standen zu Häupten der Gräber,
und das Unkraut wucherte dazwischen. Estherle
dachte an den Dorffriedhof mit seinen hübschen
Kreuzlein, Pelargonien und Bandgras. Estherle
wollte, wollte nicht auf den verwilderten Anger,
von dem es kein Auferstehen gab.
Der Vater saß an ihrem Bett und hielt ihre
Hand in seinen haarigen Händen. Im ersten
Augenblick wollte er aufspringen und die kleine
Hand fahren lassen.
Dann blieb er still sitzen Der Doktor hatte
ihm offen gesagt: Estherle würde sterben.
Das Dorf drohte rebellisch zu werden. Be-
sonders ein paar Weiber.
Und Estherle war vierzehn Jahre alt und
hatte das Gesetz für sich.
Herr Eiland konnte sich nicht sträuben. Er
sträubte sich auch nicht. Da war das Kind,
dessen Augen in heißem Feuer brannten. Da
war auch das Geschäft. Wenn er sich stemmte
— wer weiß? Die Bauern schlugen ihm die
Fenster ein, schlugen die Hähne vom Faß und
taten ihm weh an Leib und Leben.
Nur, als der hochwürdige Herr kam, um
Estherle zu taufen, ging Eiland weg, zu Fuß
ins nächste Dorf, und kam erst am Abend wieder.
Da war schon alles vorbei: die Feierlichkeit
und der erste, heiße, tränenreiche Schmer; um
Estherle. Resi erzählte ihm nur, wie das Estherle
gelächelt hätte, wie selig sie im Herrn ent-
schlafen war.
Am Morgen spazierte Hochwürden auf den
Friedhof. Er fand den Totengräber und blieb
bei ihm stehen:
„Hier?" fragte Hochwürden. Es war grade
an der Grenze, bei den Gräbern der ungetauften
Kinder und der beiden Selbstmörder des Dorfes.
„No ja," sagte der Totengräber. „Ich Hab
mir denkt, hier is am besten. Mit Reschpekt:
's is doch nur a Iudenkind gewese."
Der hochwürdige Herr blickte in die Weite
und antwortete nicht.
Da spuckte der Totengräber in die Hand-
flächen und faßte den Spaten.
Liebe Jugend!
Unser Junge lebt nur in Raupen, Molchen,
dZuallen und anderem solchen Getier. Jetzt geht
er in die Tanzstunde.
„Ra, wie gefälltes Dir?"
„M, es ist gar nicht so schlimm. Rur wenn
mall den Arm um die Mädchen legt, da sind sie
im Rücken so hart. Aber eine, die ist so weich;
da faßt man hinein wie in eine Tualle."
*
Ich unterrichte die oberste Rlasse einer Bürger-
schule in Deutsch und Geschichte seit langen Jahren.
Eines abends stehe ich vor einem Schaufenster,
als mich ein Mann grüßt. Zerstreut erwidere
ich dell Gruß.
„Ra, Herr Lehrer, kennen Se mir denn nich
mehr?" —
„Rein, — ich —"
„Gott," meint der Mann, „ich Hab' doch bei
Sie Deutsch gehabt." —
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sie käme nicht zum Juden als Amme; und sie
hätt's auch nicht nötig.
Estherle fing an, zu weinen. Da sagte Herr
Eiland: „Nu, holen Se die Resi, Frau Binder!"
Die Binderin nahm ihr dickes Tuch und
ging. Es dauerte eine Stunde, dann kam sie
wieder — mit Resi. — „A bissl Hab ich ihr
müsse zurede," berichtete sie.
Die Resi sagte nichts. Sie hatte die Stirn
gefurcht und sah mürrisch drein.
Frau Binder nötigte sie zum Sitzen, goß
Kaffee in einen großen Topf und schnitt ein
Stück Kuchen ab. Die Resi machte sich darüber
her. Seit drei Tagen lebte sie von bitterm Tee,
um die Milch Zum Versiegen zu bringen. Nun
konnte sie wieder essen.
Dann, als Resi satt war, brachte Frau Bin-
der ihr das Kind. - „No, tränk sie, Resi! Sie
is scho ganz von Gräften."
Die beiden anderen Frauen sahen zu.
Stumm saß die Resi da und rührte sich nicht.
„No, mach", mahnte die Prasel, „der arme
Wurm kann's kaum erwarte."
In Resi bänmte sich der Widerwillen gegen
das fremde Kind, das sie nähren sollte statt
ihres eignen, das vorgestern noch in ihrem Schoß
gelegen. Ihr blondes, hübsches Bübchen. Wie
hatte es die Aermchen nach ihr ausgestreckt!
Nun lag ihr da der schwarzgelockte Balg im
Arm.
„No, mach doch!" sagte die Frankhauserin.
Die Resi blickte von einer auf die andre.
He, wie sie glotzten, die Weiber! Sie wollten
Zusehen, wie sie.. .? Nein.
Resi stand auf und ging mit Estherle ins
Nebenzimmer. Die Tür schloß sie fest hinter
sich zu. Drinnen hockte sie sich nieder und
starrte das Kind ein Weilchen an.
„Du Balg, du verflixter," sagte sie böse.
Das Kind blinzelte sie an und schrie.
„Wein nit, Estherle! Na, Estherle!" sagte
die Resi plötzlich ganz weich und knöpfte ihr
Mieder aus.
Von dieser bittern Art war und blieb Rests
Liebe. Eine heimliche Liebe, die sich vor den
Blicken der Dorfleute verkroch.
Estherle war's zufrieden — sie kannte es
ja nicht besser. Sie war's gewohnt, daß Resi
die Kinderfäustchen ungeduldig von den. Rock-
falten schüttelte und die Kleine nachher, in der
Küche, aufhob und küßte. Und Estherle dachte
darüber nicht nach.
Darüber nicht. Estherles erste Gedanken
umklammerten eine andre Frage.
Das war die Frau Prasel gewesen, die hatte
dem kleinen Mädel über den Kopf gestrichen,
als es dreijährig bei seinem Vater im Laden
stand, und hatte gesagt: „So a scheens Madel
is 's, Herr Eiland! Gar nit wie a Iudenkind."
Herr Eiland lächelte sauer und geschmeichelt
zugleich.
Damals war das untergegangen im Nebel
von Estherles Kinderträumen. Es tauchte aber
wieder auf, als Estherle heranwuchs. - Und nahm
langsam von ihrem Wesen Besitz. Sie fühlte
zweierlei und lernte es langsam verstehen: sie
stand höher als die Bauernkinder, denn sie trug
Schuh und Strümpfe — und ihr Vater war
reicher als die Bauern; ihre kleinen Kameraden
schmeichelten ihr, denn sie konnte jeden Augen-
blick eine Handooll Zucker holen aus Vaters
kleinem Laden.
Und sie stand tiefer aus einem andern Grund:
ihr war die Kirche verschlossen — auch die Schule,
wenn der Herr Pfarrer zur Religionsstunde
kam — und sie durfte nicht an Fronleichnam
in der Prozession einhergehen, weißgekleidet und
blumenstreuend, wie die Evi Prasel, die Stesi
Frankhauser und Anna Hoffer.
Sie stand außerhalb der großen Gemein-
schaft, allein auf der Welt.
Und es ist so schön, Kränze zu winden aus
Kornblum und Raden und sie der Gottesmutter
darzubringen — so warm und kindlich, dem
hochwürdigen Herrn entgegenzulaufen und seine
Hand zu küssen; er streicht einem dann mit
dieser weichen warmen Hand über den Kopf
und spricht ein gutes Wort.
Ihr Tate ist immer ernst, Resi launenhaft und
stumm. Estherle braucht eine liebe Gottesmutter,
die alle Kinder wie ihr eigen ans Herz nimmt.
Im Winter war's, und im Dorf ein Kinder-
sterben — Scharlach, der rote Tod.
Auch die Evi Prasel nahm er mit. Blaß
und lang lag sie im Sarg, dünne, hohe Kerzen
brannten, die Glasleuchter schimmerten wie
echtes Silber. Auf dem Kopf hatte Evi ein
Kränz'ein, um sie im Särglein staken Heiligen-
bildchen. — Die Kinder vor den Fenstern
quetschten sich die Nasen an den Scheiben platt
— hinein zu Evi durften sie nicht. Da hing
ein roter Zettel an der Tür, der es verbot.
Die alte Prasel geleitete zwei Frauen über
die Schwelle.
„Dun S' Ihne dröste," sagte die eine, „Ihner
Kind is im Himmel, a seliges Engerle, un
werd für Ihne beten."
„Ja, a scheens Engerle droben dein Herrn
Jesu Christ"
Am Abend drückte sich E^herle ganz nahe
an Resi. — „Resi, gell, die Evi is ein Engel
worden?" Und zaghaft: „Wenn ich möcht
sterben, wer ich auch a Engel im Himmel?"
Resi lachte und schob Estherle von sich. „Du
nit. Estherle. Du werft bei die Juden weide
auf der grünen Wiese."
Estherle gab ihrer besten Freundin, der Anna
Hoffer, eine Zuckerpfeife und lieh sich von ihr
den Katechismus aus.
Estherle schlich an einsamen Sommernach-
mittagen, wenn alles auf dem Feld war, um
die Kirche — und gelang's, so schlüpfte sie durchs
Sakrifteitürchen hinein. In der Kühlen Däm-
merung hielt sie lange, lange Zwiesprach mit
der Muttergottes. Dann tauchte sie schauernd
die Fingerspitzen ins Weihbecken, sah die Finger
lange, lange an und wagte doch nicht, sich die
Stirn zu netzen. Estherle verzehrte sich in Sehn-
sucht, den andern, den Glücklichen anzugehören,
um die sich ein großes Band schlingt, Christi
Glaube.
Estherle sehnte sich und grämte sich den
Sommer über und den Herbst und ward täglich
dünner und blässer — schlich in die Kirche und
kniete auf den eisigen Steinen. Als man die
Kirche zeitig nachmittag schloß, lief Estherle
auf den Kreuzweg und hockte am Kruzifix.
Der Abendnebel sank. Estherle kauerte
sich zitternd in ihr Wolltuch, und mit blauen
Lippen noch flüsterte sie das fünfundzwanzigste
Vaterunser.
So fand Resi das Estherle — und dort ent-
deckte das Estherle ihr das Geheimnis seines
feudal
„wissen Se, ick trainiere mich jetzt uff
Hungerleiden, - dann widme ich mich der Runst!"
kleinen Lebens. Don Resi erfuhr's das ganze
Dorf. Es war eine späte Rehabilitation für
Resi, die einst Estherle genährt hatte.
Und von zehn Weibern erfuhr's der hoch-
würdige Herr. Er erinnerte sich, daß Estherle
manchmal in der Religionsstunde geblieben war
— schüchtern auf dem letzten Eckchen der letzten
Bank.
Das Dorf geriet in Erregung: Estherle wollte
christlich werden. Kleine Kameradinnen, die sie
bei guter Laune verspottet hatten, weinten. Die
Großen zitterten vor frommem Eifer.
Herr Eiland hörte es von Estherle selbst.
Estherle war mit Tate auf Mutters Grab ge-
wesen, in der nächsten Iudengemeinde. Wie
trostlos sah der Friedhof aus. Schwere, vier-
eckige Steine standen zu Häupten der Gräber,
und das Unkraut wucherte dazwischen. Estherle
dachte an den Dorffriedhof mit seinen hübschen
Kreuzlein, Pelargonien und Bandgras. Estherle
wollte, wollte nicht auf den verwilderten Anger,
von dem es kein Auferstehen gab.
Der Vater saß an ihrem Bett und hielt ihre
Hand in seinen haarigen Händen. Im ersten
Augenblick wollte er aufspringen und die kleine
Hand fahren lassen.
Dann blieb er still sitzen Der Doktor hatte
ihm offen gesagt: Estherle würde sterben.
Das Dorf drohte rebellisch zu werden. Be-
sonders ein paar Weiber.
Und Estherle war vierzehn Jahre alt und
hatte das Gesetz für sich.
Herr Eiland konnte sich nicht sträuben. Er
sträubte sich auch nicht. Da war das Kind,
dessen Augen in heißem Feuer brannten. Da
war auch das Geschäft. Wenn er sich stemmte
— wer weiß? Die Bauern schlugen ihm die
Fenster ein, schlugen die Hähne vom Faß und
taten ihm weh an Leib und Leben.
Nur, als der hochwürdige Herr kam, um
Estherle zu taufen, ging Eiland weg, zu Fuß
ins nächste Dorf, und kam erst am Abend wieder.
Da war schon alles vorbei: die Feierlichkeit
und der erste, heiße, tränenreiche Schmer; um
Estherle. Resi erzählte ihm nur, wie das Estherle
gelächelt hätte, wie selig sie im Herrn ent-
schlafen war.
Am Morgen spazierte Hochwürden auf den
Friedhof. Er fand den Totengräber und blieb
bei ihm stehen:
„Hier?" fragte Hochwürden. Es war grade
an der Grenze, bei den Gräbern der ungetauften
Kinder und der beiden Selbstmörder des Dorfes.
„No ja," sagte der Totengräber. „Ich Hab
mir denkt, hier is am besten. Mit Reschpekt:
's is doch nur a Iudenkind gewese."
Der hochwürdige Herr blickte in die Weite
und antwortete nicht.
Da spuckte der Totengräber in die Hand-
flächen und faßte den Spaten.
Liebe Jugend!
Unser Junge lebt nur in Raupen, Molchen,
dZuallen und anderem solchen Getier. Jetzt geht
er in die Tanzstunde.
„Ra, wie gefälltes Dir?"
„M, es ist gar nicht so schlimm. Rur wenn
mall den Arm um die Mädchen legt, da sind sie
im Rücken so hart. Aber eine, die ist so weich;
da faßt man hinein wie in eine Tualle."
*
Ich unterrichte die oberste Rlasse einer Bürger-
schule in Deutsch und Geschichte seit langen Jahren.
Eines abends stehe ich vor einem Schaufenster,
als mich ein Mann grüßt. Zerstreut erwidere
ich dell Gruß.
„Ra, Herr Lehrer, kennen Se mir denn nich
mehr?" —
„Rein, — ich —"
„Gott," meint der Mann, „ich Hab' doch bei
Sie Deutsch gehabt." —
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