Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Grabesgeheimnisse

Als Sybille Wenner — von
den Wenners, die vor dem Tore
wohnen — acht Jahre alt war,
entstand eines Nachmittags im
Hochsommer, in ihrem Eltern-
hause, ein stilles Durcheinander,
ohne daß gesprochen wurde. Der
Vater stürzte aus dem Hause,

Sybille wußte, daß er zu den
Wenners am Markte gelaufen
war. Die Köchin lief aus Küche
und Stuben auf die Treppe und
wieder zurück, der Knecht lief zum
Doktor. DasZimmermädchen kam
nach Hause, in Begleitung einer
stillschweigenden Frau, die im
Zimmer der Mutter verschwand.

Sybille wollte folgen, doch man

drängte sie wortlos zurück. Das

Kind öffnete die Küchentllr, aber die Köchin schob es

unsanft aus dem Wege.

Da schaute Sybille Wenner erbittert in die Wohn-
stube — es war gegen Abend — Laub verdunkelte die
Fenster, auf dem Nähtisch lag, bei Seite geworfen,
Mutters Nähzeug, auf dem großen Tische blähten sich
Zeitungen. Sybille fühlte sich beleidigt. Langsam schlich
das Kind in den Garten und fürchtete sich. Da kam
das Zimmermädchen und rief: „Billchen, Billchen!"

„Warum lauft Ihr durcheinander ohne zu sprechen,
und warum will Mutter nichts von mir wissen?" sagte
das Kind. —

Das Zimmermädchen schaute sich um und machte
ein einfältiges Gesicht, dann flüsterte-'es: „Wenn Du
mir versprichst, daß Du es Vater und Mutter nicht
wieder sagst, will ich es Dir wohl sagen, die Nacht
kann darüber vergehen, Du hättest es erst morgen er-
fahren. Der Doktor und Frau Felten holen Dir ein
Brüderchen, Billchen, oben in der Schlafstube."

Sybille Wenner erbleichte, ihr Herz schlug heftig,
dann wurde sie dunkelrot, und dann mußte sie lachen.

„Ist es wahr?" frug das Kind, „warum dauert
es so lange, lügst Du nicht, Marie?"

Heinrich Kley

Sybille hatte ein Geheimnis mit Marie. Als ihr
Brüderchen bereits ein Jahr alt war, konnte sie er-
röten, wenn es ihr durch den Kopf ging.

„Warum wirst Du bisweilen so rot, Sybille?" frug
die Mutter im Garten. Friede! saß im Wagen.

„Unser kleiner Engel," sagte die Mutter, „aus
solch weißer Rose mit rosa Wangen ist er zu uns
geflogen."

Sybille senkte die Augen und schämte sich vor ihrer
Mutter.

In der frühen Nacht jenes Tages konnte das Kind
nicht schlafen, so bedrückt fühlte es sein Herz. Von
ihrem Bette aus, erblickte Sybille durch die offene
Tür die brennende Lampe auf dem Tische der Wohn-
stube. Die Stille, die von dort kam, war schlimm
und seltsam. Nichts was dort und hier zu vernehmen
war, außer den Atemzügen des kleinen Bruders in
dem Gardinenbettchen.

Da erblickte das Kind etwas Angsterregendes in der Wohnstube. Die
Mutter, welche, lautlos eingetreten, auf einen Stuhl vor dem Tisch zu-
sammensiel, sich erhob, schwankte und wieder zusammenbrach. Das
wiederholte sich mehrere Male. Immer wieder sank das bleiche Gesicht
der Mutter auf die Tischplatte. —

Sybille konnte nicht anders, sie mußte lachen wie über einen
Trunkenbold.

„Was ist Dir, Mutter?" rief das Kind über eine Weile. „Wo ist
der Vater?"

Sybillens Mutter wankte wie ein geschlagenes Tier bis zu ihres
Kindes Bette, dort lag sie wortlos und preßte, zu ihrem Kinde lächelnd,

Begegnung

JIu IDäldem und Bergen vorüber
Bauschte die Zuninacht;

Die Quellen strömten über,
Dlein stier; war aufgewacht.

mir war, als ob aus Jemen
Unter dem Buchenwald
Und zweigverwehten Sternen
Ein schneller hufschlag hallt.

Und eh ich's recht besonnen,
Ein Horn erklang so nah,

Don jähem Schein umsponnen
war schon der wagen da.

Zwei weiße Botte schäumten
Zn ihren Silberzaum,

Sie schreckten auf und bäumten
.Hm dunklen 'Waldessaum.

Des Lenkers düstre Mienen
Streifte das Wagenlicht:

Doch voll hat es beschienen
Ein Mädchen-Flngettcht.

Don Tränen übergotten
war dieses Antlitz ganz,
wie dort die Brunnen ttotten
Zn kühlen Mondenglanz. -—

die kalte Hand auf ihre feTtoe.
fchloffenen Lippen. - 19

-i-

Als die junge Sybille Wenner
bereits eine glückliche Familien-
mutter war — sie hatte ihren
Detter Christian von den Wenners
am Markte geheiratet — stand sie
eines Abends am Fenster und er-
wartete ihren Gatten.

Dort erhob sich sein Arbeits-
tisch im Zimmer, die Lampe
brannte. Aus Büchern, Bildern,
ja aus sämtlichen Papieren, sprach
unruhige Sehnsucht zu der jungen
Frau.

Sie lief aus der Stube die
Hintertreppe hinunter, die in den
Küchengarten führte, immer weiter
durch den mondhellen Garten bis
in die Laube. Zwei dunkle Ge-
stalten sah sie vor sich. — Da rührte sich die eine und
huschte aus dem Dunkel wie sinnlos in die Mondhelle,
Christine, das Stubenmädchen. Dann regte sich die
andere der schwarzen Gestalten. „Billchen, Billchen,"
flüsterte die Stimme ihres Mannes, wie erstickt vor
Scham.

Sybille Wenner floh vor ihrem Gatten aus dem
Gemüsegarten.

Drüben bei den Blumen begannen die Bäume zu
tanzen, die Büsche hoben sich aus der Erde und sielen
zusammen. Der Mond bebte am Himmel. Dann
sauste dies Himmelslicht nieder wie eine Sternschnuppe.

Sybille schloß die Augen und fühlte in ihrem
Taumel eine kalte Hand, — ihrer Mutter Hand —
die sich fest auf ihren Mund legte. Dann brach sie
zusammen.

*

Sybille Wenners Töchterchen Iolande, besaß eine
bleiche lächelnde Mutter. Bisweilen, als Iolande
heranwuchs, kam es über sie, daß sie zu dem jungen
Mädchen reden wollte. Dann nahm sie erschrocken
ihre eiseskalte Hand und legte sie auf ihren Mund.
Sybille hatte wie durch Wolken ein Bild erblickt.
Ihre eigene Mutter, die wortlos wie ein geschlagenes
Tier vor ihrem Kinderbettchen auf dem Boden lag.

Da lächelte Sybille Wenner und folgte, stumm
lächelnd, ihrer Tochter Iolande, die zum Traualtäre
ging. Iolande hatte Artur Müller genommen, von
den Müllers, die am Markte neben Wenners wohnten.

Das Bild versank im Schweigen
Basch, wie es aufgewacht;

Zn den betauten Zweigen
ward wieder tiefe Dacht.

Dur aus dem mühlentale
Tönt noch des hornes Sang,
Der seufzend vielemale
Rm Berge widerklang.

Zranr Langheinrich

Sybille Wenners Mutter besuchte eines Tages das
Grab ihres Mannes. Sie schritt den Weg an der
Kirchhofsmauer hinunter, der Himmel war blau, die
stummen Zypressen strebten zu ihm empor. Sybille
Wenners Mutter erblickte eine Frauengestalt, die neben
der Familiengruft auf der Erde lag — ihre Enkelin
Iolande.

Sybillens Mutter erschrak. Sie sah, Iolande wußte
nicht ein, noch aus, nur das Grab mochte ihr Ge-
heimnis erfahren.

Da schlich die Großmutter wie eine Sünderin von
— dannen. Einmal blickte sie zurück und sah Iolande,

die sich schwankend erhob, denn es war Jemand zu
ihr getreten, der sich leise genähert hatte, ihre Mutter Sybille. -~

Sybillens Mutter blieb im breiten Wege stehen und erwartete
lächelnd die beiden Frauen.

Sie legte den Finger auf ihren Mund. So stand sie, grau un
still und lächelnd vor Sybille und Iolande.

Dann schritten die stummen, bleichen Frauen eine hinter der andern,
obschon die Gräberstraße breit war und der Himmel hoch.

Sie wagten nicht, einander in die Augen zu sehen.

Still standen die Zypressen, kalt die Grabsteine vor den schwere
Rätseln, die die Geheimnisse des Lebens und des Todes tragen.

Dora Hohlftld

528
Register
Heinrich Kley: Zeichnung zum Text "Begegnung"
Franz Langheinrich: Begegnung
Dora Hohlfeld: Grabesgeheimnisse
 
Annotationen