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„Danke, recht gut, Frau Direktor," meinte die Näh-
Auguste; „ich bin recht zufrieden dort. Es find liebe und
sehr feine Damen, Fräulein Rosel und Madame Jenny."

Ach, wenn die Näh-Auguste wüßte, mit welcher»
Schmerzen Madame Jenny seit Fahren Augustens Mahl-
zeiten bereitet. Wie verzweifelt sie in ihr gelichtetes Haar
greift und berechnet, was dieser und jener Tag gekostet hat!

Es muß gesagt sein, Frau Jenny lebt seit ihres Mannes
Tod von dem Kapital ihres kleinen Vermögens, und bald
wird das letzte Papier verkauft werden. Weder Frau Jenny,
die aus einer guten Familie stammt, noch ihre Tochter sind
zu erwerbsfähigen Frauen erzogen worden. Hier gibt es
nur eine Rettung, Rosel Jenny muß einen reichen, liebens-
würdigen Ehemann finden.

Die Jahre sind grausam gewesen, sie schwinden im
Fluge, ohne Rat, ohne Hilfe. Mehrere Sommer hindurch
saß die hübsche Rosel so gleichgültig neben ihrer Mutter in
dem Kurgarten belebter Badeörter, die von soliden Herren
besucht wurden. Einen Winter nach dem anderen sitzt Rosel
mit glänzend gleichgültigen Augen im Klubsaal und läßt
sich in Seelenruhe zum Tanze führen. Ohne daß ein Männer-
blick sie heiß begehrt, ohne daß jemand daran dächte, ihr
Herz und Heim zu bieten. —

Frau Jennys tiefe Einsamkeit wurde dunkler und
schlimmer mit jedem Jahr.

Nun ist es soweit gekommen — seit einigen Wochen
hat die verzweifelnde Mutter das allerletzte getan, sie be-
antwortet ernstgemeinte Heiratsanträge von besseren Herren,
ohne daß die Tochter begreift, was das Laufen an den Post-
schalter bedeutet, denn sie versteht nichts von Geschäftssachen.
Seit einigen Tagen schreibt ein kinderloser, reicher Witwer
an Frau Jenny. Er ist der erste, der Rosels Bild erhielt,
und es ist kein Wunder, daß es ihm gefällt, ja, er hat sich
in das Bild verliebt.

„Ich zweifle nicht daran, meine liebe, verehrte Frau
Schmerzensreich," schreibt Herr Arnold, „daß unsere Ver-
.handlungen zu gutem Ende führen werden. Ich sehe mehr
auf Herzensgute denn auf Reichtum. Also bleibt es dabei,
am dreißigsten September, nachmittags vier Uhr, im Gast-
hausgarten „zur blauen Traube" in Hechingen. Erkennungs-
zeichen ,rote Geranien*."

„Du lieber, lieber Gott, in welche Zustände ist die arme
Rosel geraten!" So betet Frau Jenny in Küche und Stube,
die Tage und Stunden, bis zum Morgen des verhängnis-
vollen Tages, der der allerschwierigste ist, trotzdem die Herbst-
sonne freundlich den seidenglatten Himmel verklärt.

Aber Rosel ist so glücklich, so stillzufrieden auf ihrem
Fensterplatz. Sie trägt das alte Wollkleid und ist viel zu
bequem, um heute in das Gärtchen, geschweige denn über
Land zu gehen. Wie soll ihre Mutter sie dazu bringen, daß
sie schön geschmückt um drei Uhr nach Hechingen pilgert?
Dies war die aufregendste Arbeit ihres Lebens.

Zwischen drei und vier Uhr sieht man Mutter und
Tochter aus der kahlen Hechinger Landstraße wandeln. Frau
Jenny in ihrer schwarzen Spitzenmantille, die Lorgnette an
goldener Kette, das junge Mädchen im rosa Waschkleid, rote
Geranien im Seidengürtel.

„Da gehen Jennys," sagen Vorübergehende; „es scheint
ihnen recht wohl zu ergehen, Mutter sowohl als Tochter führen
ein bequemes Leben."

„Man sollte es nicht für möglich halten, daß die Rosel
ihre vierunddreißig Jahre hinter sich hat," sprach eine Mutter,
die mit zwei Töchtern ging; die entgegneten nichts und
lächelten.

Die Landstraße ist sehr einförmig, doch Rosel, die nun
! inmal hier draußen wandert, freut sich über diese Lange-
weile. Frau Jenny kann ihre Tochter nicht ohne Tränen
wandeln sehen. Was die arme Mutter heute erleben muß,
ist eine albern-alltägliche Angelegenheit, der mancher Mensch
sein Glück verdankt. Frau Jenny dünkt der Spaziergang
ernst und schwer. Ihr Herz klopft so stark, die Beine zittern,
sie muß hie und da stehen bleiben und Atem schöpfen —
oder durch die goldene Lorgnette blicken. Immer doch in
jedem unruhigen Gram hat sie diese Waffe, zu der sie greisen
kann. Aus der Post, in der Küche, in den Kausläden, überall
macht Frau Jenny einen vornehmen Eindruck, wenn sie durch
ihre Lorgnette schaut.

Sie blickt hin über die kahle Landstraße bis nach He-
chingen, nachdem die Höhe erreicht ist, sie sieht den goldenen
Knopf des Kirchturmes, das Stadttor, und außerhalb des
Tores unter den Linden das Dach der „blauen Traube". —
Ihr wird so schwach ums Herz, sie muß sich niedersetzen aus
nie neue Bank unter der entlaubten Buche. Hier rastet
Frau Jenny und kann sich nicht entschließen, nach Ober-
Hechingen zu gehen, und beneidet die Tochter um ihre Ruhe. —

Es ist ein leuchtender Herbsttag in Feld und Flur. Ach,
die friedliche Gleichgültigkeit des satten, reichen Herbstes!

Plötzlich weint Frau Jenny laut in der Ruhe des sonnigen
Nachmittags. Nein, sie kann ihre herzensgute Rosel nicht
dem fremden Manne zuführen. Heilige Mutter Gottes, gibt
es denn kein anderes Mittel, um zu einem sorgenfreien Dasein
zu gelangen? ..

Die stille Rosel ist ganz Feuer, ganz Mitleid, sie be-
greift, was der Mutter fehlt. Das können nur ihre heimlichen
Zahnschmerzen sein, über die sie niemals redet, doch im Ueber-
maß der Qual kommt es zu solchen Ausbrüchen, die durch
lauwarmes Wasser mit Senfkörnern gelindert werden. Alles
dies gibt es dort unten in der „blauen Traube". Die lang-
weilige Rosel führt ihre weinende Mutter eifrig am Arm in
das Dorf hinab, es kann ihr nicht schnell genug gehen, die
Wirtschast zu erreichen. Dort läßt sie der Mutter Arm und
eilt beschwingt durch den Wirtsgarten, die roten Geranien
leuchten im Gürtel. Frau Jenny möchte versinken vor Scham
und greift zu ihrer Lorgnette. Was wird Herr Arnold zu
Rosels Eifer denken?

Der Garten scheint leer, bis auf einen mächtig breiten
Herrn, der eine rote Blume im Knopfloch trägt, mein Himmel,
diese Blume hat ihm wohl die Wirtin geschenkt, es ist der
schwerhörige Oberst Lewinsky aus der Stadt. Frau Jenny
möchte jetzt wirklich lieber Hungers sterben, als augenblicklich
den klatschsüchtigen, lauten Oberst ertragen. Sie kann un-
möglich hier Herrn Arnold erwarten, der Oberst würde alles
vereiteln. Doch dieser hatte die Damen bereits erkannt.
Rosel, die durch den Garten in die Küche eilte, Frau Jenny,
die regungslos im Wege steht; er erhebt sich und begrüßt
Frau Jenny mit lauter Stimme. Da kehrt auch Rosel aus
der Küche zurück, erklärt dem Oberst das Ungemach, und
führt die schwankende Mutter in den großen Wirtssaal. Hier
soll sie so lange mit dem von Rosel bereiteten Mitte! gurgeln,
bis die Schmerzen Nachlassen. Rosel wird sich einstweilen
mit dem alten Oberst unterhalten.

Frau Jenny steht betäubt zwischen all den Tischen und
Stühlen im Saale. Es ist ein trostloser Raum mit einer
braunen Tapete und einem alten Tafelklavier; es ist nichts
hier zu sehen, was Behagen schafft. Durch ein Fenster über-
blickt man den Garten. Rosel sitzt neben Herrn Oberst am
Tische und läßt geduldig seinen Redestrom über sich ergehen.
Sie hat ihre großen, glänzenden Augen und scheint mit ihren
Gedanken nicht bei den lauten Erzählungen zu verweilen.

Da sitzt noch jemand unweit des Saalfensters hinter
dem Baumstamm, den Rücken Frau Jenny zugekehrt; sollte
dies Herr Arnold sein? Wenn dies der Fall ist, so muß er
unvermerkt alles beobachtet haben, was im Gärtchen vor
sich ging. Jener Herr steht bedächtig auf von seinem Stuhle
— und nun bemerkt Frau Jenny, daß er rote Geranien im
Knopfloch trägt, daß er schönes, glänzend braunes Haar und
blaue Augen hat, und daß seine Gesichtszüge offen und
fröhlich sind. Er tritt sehr langsam in den Gartensaal,
schaut sich die Reklamebilder auf der häßlichen Tapete an
und gelangt auf dieser Wanderung zu Frau Jenny, die
fassungslos zu ihrer Lorgnette greift.

„Ich habe die Ehre, Frau Fides Schmerzensreich be-
grüßen zu dürfen?" sagte der Fremde und lüstete den Hut.

„Herr Arnold, wenn ich nicht irre?" fragt Frau Jenny
und verbeugt sich. „Mein Name ist in Wahrheit Frau
Johanna Jenny."

„Christoph von Lautenbacher," stellt sich Herr Arnold
lächelnd vor.

O, welche frohe Ruhe kehrte ein in der armen Mutter
bange Seele! Sie hat sich nicht getäuscht; dieser Herr in
seinen besten Jahren ist ein lieber, herzlicher Mensch aus
guter Familie. Und Frau Jenny erfährt, Christophs Eltern
sind schon lange tot, sie haben auf große Weise gelebt und
kein Vermögen hinterlassen, so daß ihr einziger Sohn zu
einem kleinen Gewerbe griff, das ihm ein bescheidenes Ver-
mögen einbrachte, doch von Damen fern hielt, wie solche
einst seine gute Mutter besuchten. Eine derartig feine Dame
wünscht sich Christoph Lautenbacher zur Lebensgefährtin, und
es scheint, hier wird er an das Ziel seiner Wünsche gelangen.

Er hat alles wohl beobachtet, die zierliche unschuldige
Rosel mit ihren glänzenden Augen, die ängstliche Mutter,
die so gekleidet ist wie seine Mutter ging, den lauten Oberst,
der beide Damen herzlich zu verehren scheint. Frau Jenny
und Christoph Lautenbacher werden in dem nüchternen Wirts-
saal Herzensfreunde.

Draußen sitzt Rosel neben Herrn Oberst und blickt
immer gradaus in das kleine Gemüsegärtchen.

Der Krautgarten der Wirtsleute ist klein und viereckig.
Hier gibt es eine Unmasse lila Kohlköpfe, durch schmale
Wege im Quadrat geteilt. Herbstlichter glühen daraus. Am
Zaune stehen Georginen wie schwere Prälaten. In der Mute
des Gärtchens spiegelt eine übermäßig große Glaskugel aus
seltsame Weise Kohl und Blumengesichter. Einsam, man

Leo Putz (München)

Herbststurm
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