Nr. 28
JUGEND
1911
mü[jte nun im Augenblicke wieder zugeschkagen
werden."
„Dieses Zuschlägen wollten wir verhindern,"
sprach der Doktor. „Als ich das Bild zum
erstenmal vor Augen hatte, war ich begeistert!"
„Eie sind immer begeistert, SieIugendkopf!"
scherzte der Professor.
„— und rief: der Platz da muß leer bleiben!
Das darf nicht mehr verschwindenl Domfrei-
heit muß her! Und wenn sich ein paar aus
den Kopf stellen!"
„Es war von jeher schon Ihr Metier, Doktor,
zu machen, daß sich die Leute auf den Kopf
stellen!" brummte der Maler Heinlein durch den
Rauch seiner Havanna. Der Doktor fuhr fort:
„Von da an gaben wir Standlaut. Gehörig.
Und die Leute sind herangekommen und haben
sich uns angeschlossen. Und wir brachten die
Beute heim."
„Sie retteten einen Ertrinkenden gerade in
dem Moment, als er nochmal aus den Wellen
tauchte. Besinnen, Zögern — und er war für
immer verloren."
„Es hat mich auch riesig gefreut. Ich bin
stets für Freiheit eingetreten. Diese eine minde-
stens kann ich als erobert buchen. Könnten
wir nur unfern deutschen Domen überall mehr
Luft schaffen!"
Der Professor nickte: „Vor all dem Gerümpel,
mit dem römische Dogmatik und pfäffische Fessel-
sucht sie seit Jahrhunderten eingebaut haben.
D a sollte man ein bißchen mederreißen, Lücken
brechen, Mauern abtragen. Schade! Unsre
deutsche Kirche brauchte wahrhaftig einen wie
Sie, der ihr einmal die Devise ,Domfreiheist
erfände!"
„Warten Sie nur," sagte der Doktor. „Es
kommt einst. Ich denke, je toller sie von den
Herren zugemauert wird, desto kräftiger wird
der Riß, mit dem sie sich einmal losmacht."
Manhart zuckte mit den Achseln. „Ohne
Hilfe bringt sie es nicht zuwege. Die Meisten
gehen achtlos an dieser Enge vorüber. Und
wenn sich nicht zufällig ein Ausblick öffnet,
woher sollen sie wissen, das es anders schöner
ist? Distanz zu finden, ist die Hauptsache. Wer
nicht von oben in diese Zwinger hereinsieht,
merkt gar nicht, daß Zwinger da sind."
„Ich erinn're mich," sprach der Professor,
„daß Sie das in einem Ihrer Essays damals
ganz reizend entwickelt haben."
„Allerdings. Ich stand ja oben. Ich sah
mir ja die Geschichte aus der Vogelschau an...
alle Tage."
„Donnerwetter, Manhart. Wie kamen Sie
eigentlich dazu, sich diesen strapaziösen Stand-
punkt zu wählen?"
„Ach, die Gründe waren sogar bedeutend
älter als mein Interesse an der Sache: sie
waren achtzehn Jahre alt. Ein schönes Alter
für Gründe, nicht wahr? Und find mir aus
zwei reizenden kleinen Weiberfüßen entgegen-
gelaufen."
Der Doktor horchte auf.
„Ah, das haben Sie mir ja nie gesagt!
Also, es steckte eine Frau dahinter?"
„Sogar eine recht nette. Oder besser gesagt:
ein Mädchen. Wenn es Sie interessiert, — denn
das Verbrechen ist verjährt — so läßt sich die
Geschichte jetzt erzählen."
Manhart rückte seinen Sessel näher heran
und die vier Herren horchten.
„Das Mädel hatte ich im Dom kennen ge-
lernt, denn sie war sehr fromm. Für fromme
Frauen aber fühlte ich schon immer eine Schwäche.
Sie sind zufriedener. Eie haben zwei Eisen im
Feuer, Gott und den Geliebten. Wenn der
Eine sie sitzen läßt, bleibt ihnen immer noch der
andre. Und der ,Herr da oberst war mir als
stiller Teilhaber von jeher sympathischer, da man
nicht eifersüchtig aus ihn zu sein braucht.
Immerhin! Wie ich an die Fromme ge-
raten bin, weiß ich jetzt selbst nicht mehr, jeden-
falls hatte ich mich zu Studienzwecken in der
Kirche herumgetrieben und auf diesem etwas
eigenartigen Wege Anschluß gesunden. Nur
das weiß ich, leicht war es nicht, sie zu erobern.
Meinem Liebeswerben setzte sie lauge Zeit den
hartnäckigsten Widerstand entgegen und ganz
besonders sträubte sich ihr Katechismus gegen
allerlei Vorschläge, die ich mir zu machen er-
laubte.
Da kam, Gottseidank, diese Domfreiheit-
sache dazwischen! Ich legte mir sofort den Plan
zurecht, die Affäre von einer höhern Warte aus
heranzubiegen und mir das Ganze einmal oben
vom Turm herab anzusehen. Sie können sich
aber denken, daß es kein Vergnügen ist, drei-
hundertfünfundsechzig Stufen allein emporzu-
klettern, noch dazu wenn man ein paar wunder-
hübsche Beine kennt, die einem dabei helfen
könnten.
Doch siehe, diesmal war mir das Glück hold!
Das Anerbieten, mit mir hinaufzusteigen, nahm
die Kleine an und schon am nächsten Morgen
standen wir vor der schmalen Anfangstreppe
des Turmes im Innern.
Ach war das schön, dieser erste Aufstieg durch
das Dunkel bis zu dem grünen Hütl der Kuppel
Durch kleine Fenster fiel nur hie und da ein
Schimmer bläulichen gedämpften Lichts wie der
Strahl einer matten Laterne und säumte die
Bretter der grauen Holzstufen mit stahlblauen
Kanten. Die nach oben und nach der Tiefe
zu immer zarter und blasser wurden wie Mond-
lichtstreifen und endlich im Düster verschwammen:
Eine halbverwischte Lineatur kurzer leuchtender
Striche auf der schwarzen Tafel der Finsternis.
Ueber diese Jakobsleiter schwebte die feine
Gestalt des Mädels wirklich wie ein Engel
empor, denn es war, als berührte sie keinen
Boden. Bald blitzte nur das Blond ihrer
Haare aus dem Dunkel, Leuchtfischen gleich,
die aus nächtlichen Ozeanwellen sich empor-
schnellen, glitzern und verschwinden. Bald ringelte
sich ein Dämmerschein, gerade deutlich genug,
um ihre Gestalt zu zeichnen, schlangenartig über
ihren Hals, ihre Büste und Hüfte bis zu den
tanzenden Säumen ihres Kleides herab und
verschwand im Gemäuer. Und bald war sie
ganz aufgesogen von der Nacht, sodaß nichts
als der rhythmische Sang ihrer raschelnden Röcke
vermuten ließ, wo sie ging, während die Augen
haltlos im Undurchdringlichen hingen.
Anfangs waren wir noch befangen und
scheu und klommen wortlos hintereinander auf-
wärts. Dann begann Ich ihr lieb zuzureden
und sie zu führen, weun's finster ward, worau!
sie meine Hand festhielt und sich selbst enger
an mich anschmiegte, wo die Treppen schmal,
steiler und gefährlicher wurden. Und allmählich
brach ich ihre Schüchternheit und Frommheit,
besonders als der liebe Gott selber mir noch hall
und uns den Mauersegler vor die Füße legte,
Sie kennen diese seltsamen Vögel mit dem
Kopse eines Habichts und den Schwingen einer
Schwalbe? Adler, wenn sie in den Lüften
schweben, aber armselige Würmer, sobald irgend
etwas sie zwingt, die Füße auf den Boden z»
fetzen! Ihre langen Flügel, die keinen Au?
trieb zu finden wissen, liegen dann wie ange'
lötet auf der Erde und gestatten ihnen nicht
mehr sich zu erheben.
In halber Höhe des Turmes fanden wir
ihn vor einer Mauerlücke auf dem Treppe»'
absatz liegen gleich einem schwarzen Lappen,
den jemand hingeworfen hat, regungslos, hilf
los, wie getötet.
Meine Kleine hob ihn zärtlich auf und küßte
ihm den schwarzen Schnabel.
„Armer Kerl," sprach sie, „Du sollst nicht zu
Grund' gehn hier unten bei gesundem Leib und
ungebrochnen Flügeln. Ich will Dich hinauf
tragen und Dir droben die Freiheit geben
„Die Domfreiheit," rief ich. „So wie der»,
geht's aber Manchen auf der Erde. Dir auch°
Du klebst auch noch allzusehr an der Tiefe und
getraust Dir nicht zu fliegen . .."
Sie tat, als hörte ste's nicht. „Sobald ich
ihn droben hinauswerfe, fliegt er, das wirst
Du sehen! Wenn er Luft unter den Flügel»
spürt, ist er glücklich."
„Weißt Du, daß es uns auch so gehen könnte?
Mir ist fast, als ob jede Treppe höher im Stande
wäre, uns freier und glücklicher zu machen, und,
paß auf, droben, wenn wir erst Lust unter de»
Flügeln spüren, machen wir's wie der Vogel da
und fliegen in den Himmel hinein..."
„Sehr stimmungsvoll!" unterbrach hier de»
Erzähler der Doktor, „aber wissen Sie, was ich
nun an Ihrer Stelle getan hätte?"
„Weiß ich," blinzelte Manhart, — „und Hab'
ich auch getan! Denn da das liebe Kind sieb
nun nicht mehr am Geländer noch an mir fest'
halten konnte, um den Segler nicht zu verlieren,
den sie in der Höhlung ihrer gebogenen Finger
hielt, so mußte ich sie natürlich um die Hüfte»
fassen und führen. Und da sie hilflos war mit
ihren Händen wie der Vogel in ihnen, so konnte
sie sich natürlich der Argumente nicht erwehre»,
mit denen ich ihr zu Leibe rückte und deren es
auf jeder Stufe immer mehr gab ...
Sie dürfen mir also glauben, wenn ich Ihnen
sage, daß wir in der TUrmerstube droben alle
drei flügge wurden: sie, ich und der Segler.
Es war uns sogar noch nicht einmal frei
genug da oben. Wir stiegen bis in die Kuppe
hinauf, und streckten unsre Schnäbel wie Nest'
vögel oben aus den Lucken in die Luft und "
jetzt darf ich es ja gestehen, — schnäbelten u»S
dort im Angesicht von vierhunderttausend Ei»'
wohnern Münchens mit einem Eifer, als ob
diese Art von Domfreiheit die einzige wäre, z»
deren Durchführung cs sich lohnte, den Mund
zu rühren."
„Sieh mal Einer an! Und mir sagten Sie,
Sie hätten ganz neue Gesichtspunkte für die
Behandlung der Frage entdeckt I . . ."
„Nennen Sie das keine, Herr Doktor?"
lachte Manhart. „Uebrigens bin ich von da
an jeden Tag wenigstens einmal heraufgefticgc»,
denn es war wirklich himmlisch, mit einem
liebenden Herzen dort in den Wolken zu sitze»
und die Welt wie der Herrgott zu Füßen z»
haben. Und dort habe ich der Kleinen all die
hübschen Geschichten und klugen Gedanken vo»
Mund zu Mund erzählt, die das profane Bol«
JUGEND
1911
mü[jte nun im Augenblicke wieder zugeschkagen
werden."
„Dieses Zuschlägen wollten wir verhindern,"
sprach der Doktor. „Als ich das Bild zum
erstenmal vor Augen hatte, war ich begeistert!"
„Eie sind immer begeistert, SieIugendkopf!"
scherzte der Professor.
„— und rief: der Platz da muß leer bleiben!
Das darf nicht mehr verschwindenl Domfrei-
heit muß her! Und wenn sich ein paar aus
den Kopf stellen!"
„Es war von jeher schon Ihr Metier, Doktor,
zu machen, daß sich die Leute auf den Kopf
stellen!" brummte der Maler Heinlein durch den
Rauch seiner Havanna. Der Doktor fuhr fort:
„Von da an gaben wir Standlaut. Gehörig.
Und die Leute sind herangekommen und haben
sich uns angeschlossen. Und wir brachten die
Beute heim."
„Sie retteten einen Ertrinkenden gerade in
dem Moment, als er nochmal aus den Wellen
tauchte. Besinnen, Zögern — und er war für
immer verloren."
„Es hat mich auch riesig gefreut. Ich bin
stets für Freiheit eingetreten. Diese eine minde-
stens kann ich als erobert buchen. Könnten
wir nur unfern deutschen Domen überall mehr
Luft schaffen!"
Der Professor nickte: „Vor all dem Gerümpel,
mit dem römische Dogmatik und pfäffische Fessel-
sucht sie seit Jahrhunderten eingebaut haben.
D a sollte man ein bißchen mederreißen, Lücken
brechen, Mauern abtragen. Schade! Unsre
deutsche Kirche brauchte wahrhaftig einen wie
Sie, der ihr einmal die Devise ,Domfreiheist
erfände!"
„Warten Sie nur," sagte der Doktor. „Es
kommt einst. Ich denke, je toller sie von den
Herren zugemauert wird, desto kräftiger wird
der Riß, mit dem sie sich einmal losmacht."
Manhart zuckte mit den Achseln. „Ohne
Hilfe bringt sie es nicht zuwege. Die Meisten
gehen achtlos an dieser Enge vorüber. Und
wenn sich nicht zufällig ein Ausblick öffnet,
woher sollen sie wissen, das es anders schöner
ist? Distanz zu finden, ist die Hauptsache. Wer
nicht von oben in diese Zwinger hereinsieht,
merkt gar nicht, daß Zwinger da sind."
„Ich erinn're mich," sprach der Professor,
„daß Sie das in einem Ihrer Essays damals
ganz reizend entwickelt haben."
„Allerdings. Ich stand ja oben. Ich sah
mir ja die Geschichte aus der Vogelschau an...
alle Tage."
„Donnerwetter, Manhart. Wie kamen Sie
eigentlich dazu, sich diesen strapaziösen Stand-
punkt zu wählen?"
„Ach, die Gründe waren sogar bedeutend
älter als mein Interesse an der Sache: sie
waren achtzehn Jahre alt. Ein schönes Alter
für Gründe, nicht wahr? Und find mir aus
zwei reizenden kleinen Weiberfüßen entgegen-
gelaufen."
Der Doktor horchte auf.
„Ah, das haben Sie mir ja nie gesagt!
Also, es steckte eine Frau dahinter?"
„Sogar eine recht nette. Oder besser gesagt:
ein Mädchen. Wenn es Sie interessiert, — denn
das Verbrechen ist verjährt — so läßt sich die
Geschichte jetzt erzählen."
Manhart rückte seinen Sessel näher heran
und die vier Herren horchten.
„Das Mädel hatte ich im Dom kennen ge-
lernt, denn sie war sehr fromm. Für fromme
Frauen aber fühlte ich schon immer eine Schwäche.
Sie sind zufriedener. Eie haben zwei Eisen im
Feuer, Gott und den Geliebten. Wenn der
Eine sie sitzen läßt, bleibt ihnen immer noch der
andre. Und der ,Herr da oberst war mir als
stiller Teilhaber von jeher sympathischer, da man
nicht eifersüchtig aus ihn zu sein braucht.
Immerhin! Wie ich an die Fromme ge-
raten bin, weiß ich jetzt selbst nicht mehr, jeden-
falls hatte ich mich zu Studienzwecken in der
Kirche herumgetrieben und auf diesem etwas
eigenartigen Wege Anschluß gesunden. Nur
das weiß ich, leicht war es nicht, sie zu erobern.
Meinem Liebeswerben setzte sie lauge Zeit den
hartnäckigsten Widerstand entgegen und ganz
besonders sträubte sich ihr Katechismus gegen
allerlei Vorschläge, die ich mir zu machen er-
laubte.
Da kam, Gottseidank, diese Domfreiheit-
sache dazwischen! Ich legte mir sofort den Plan
zurecht, die Affäre von einer höhern Warte aus
heranzubiegen und mir das Ganze einmal oben
vom Turm herab anzusehen. Sie können sich
aber denken, daß es kein Vergnügen ist, drei-
hundertfünfundsechzig Stufen allein emporzu-
klettern, noch dazu wenn man ein paar wunder-
hübsche Beine kennt, die einem dabei helfen
könnten.
Doch siehe, diesmal war mir das Glück hold!
Das Anerbieten, mit mir hinaufzusteigen, nahm
die Kleine an und schon am nächsten Morgen
standen wir vor der schmalen Anfangstreppe
des Turmes im Innern.
Ach war das schön, dieser erste Aufstieg durch
das Dunkel bis zu dem grünen Hütl der Kuppel
Durch kleine Fenster fiel nur hie und da ein
Schimmer bläulichen gedämpften Lichts wie der
Strahl einer matten Laterne und säumte die
Bretter der grauen Holzstufen mit stahlblauen
Kanten. Die nach oben und nach der Tiefe
zu immer zarter und blasser wurden wie Mond-
lichtstreifen und endlich im Düster verschwammen:
Eine halbverwischte Lineatur kurzer leuchtender
Striche auf der schwarzen Tafel der Finsternis.
Ueber diese Jakobsleiter schwebte die feine
Gestalt des Mädels wirklich wie ein Engel
empor, denn es war, als berührte sie keinen
Boden. Bald blitzte nur das Blond ihrer
Haare aus dem Dunkel, Leuchtfischen gleich,
die aus nächtlichen Ozeanwellen sich empor-
schnellen, glitzern und verschwinden. Bald ringelte
sich ein Dämmerschein, gerade deutlich genug,
um ihre Gestalt zu zeichnen, schlangenartig über
ihren Hals, ihre Büste und Hüfte bis zu den
tanzenden Säumen ihres Kleides herab und
verschwand im Gemäuer. Und bald war sie
ganz aufgesogen von der Nacht, sodaß nichts
als der rhythmische Sang ihrer raschelnden Röcke
vermuten ließ, wo sie ging, während die Augen
haltlos im Undurchdringlichen hingen.
Anfangs waren wir noch befangen und
scheu und klommen wortlos hintereinander auf-
wärts. Dann begann Ich ihr lieb zuzureden
und sie zu führen, weun's finster ward, worau!
sie meine Hand festhielt und sich selbst enger
an mich anschmiegte, wo die Treppen schmal,
steiler und gefährlicher wurden. Und allmählich
brach ich ihre Schüchternheit und Frommheit,
besonders als der liebe Gott selber mir noch hall
und uns den Mauersegler vor die Füße legte,
Sie kennen diese seltsamen Vögel mit dem
Kopse eines Habichts und den Schwingen einer
Schwalbe? Adler, wenn sie in den Lüften
schweben, aber armselige Würmer, sobald irgend
etwas sie zwingt, die Füße auf den Boden z»
fetzen! Ihre langen Flügel, die keinen Au?
trieb zu finden wissen, liegen dann wie ange'
lötet auf der Erde und gestatten ihnen nicht
mehr sich zu erheben.
In halber Höhe des Turmes fanden wir
ihn vor einer Mauerlücke auf dem Treppe»'
absatz liegen gleich einem schwarzen Lappen,
den jemand hingeworfen hat, regungslos, hilf
los, wie getötet.
Meine Kleine hob ihn zärtlich auf und küßte
ihm den schwarzen Schnabel.
„Armer Kerl," sprach sie, „Du sollst nicht zu
Grund' gehn hier unten bei gesundem Leib und
ungebrochnen Flügeln. Ich will Dich hinauf
tragen und Dir droben die Freiheit geben
„Die Domfreiheit," rief ich. „So wie der»,
geht's aber Manchen auf der Erde. Dir auch°
Du klebst auch noch allzusehr an der Tiefe und
getraust Dir nicht zu fliegen . .."
Sie tat, als hörte ste's nicht. „Sobald ich
ihn droben hinauswerfe, fliegt er, das wirst
Du sehen! Wenn er Luft unter den Flügel»
spürt, ist er glücklich."
„Weißt Du, daß es uns auch so gehen könnte?
Mir ist fast, als ob jede Treppe höher im Stande
wäre, uns freier und glücklicher zu machen, und,
paß auf, droben, wenn wir erst Lust unter de»
Flügeln spüren, machen wir's wie der Vogel da
und fliegen in den Himmel hinein..."
„Sehr stimmungsvoll!" unterbrach hier de»
Erzähler der Doktor, „aber wissen Sie, was ich
nun an Ihrer Stelle getan hätte?"
„Weiß ich," blinzelte Manhart, — „und Hab'
ich auch getan! Denn da das liebe Kind sieb
nun nicht mehr am Geländer noch an mir fest'
halten konnte, um den Segler nicht zu verlieren,
den sie in der Höhlung ihrer gebogenen Finger
hielt, so mußte ich sie natürlich um die Hüfte»
fassen und führen. Und da sie hilflos war mit
ihren Händen wie der Vogel in ihnen, so konnte
sie sich natürlich der Argumente nicht erwehre»,
mit denen ich ihr zu Leibe rückte und deren es
auf jeder Stufe immer mehr gab ...
Sie dürfen mir also glauben, wenn ich Ihnen
sage, daß wir in der TUrmerstube droben alle
drei flügge wurden: sie, ich und der Segler.
Es war uns sogar noch nicht einmal frei
genug da oben. Wir stiegen bis in die Kuppe
hinauf, und streckten unsre Schnäbel wie Nest'
vögel oben aus den Lucken in die Luft und "
jetzt darf ich es ja gestehen, — schnäbelten u»S
dort im Angesicht von vierhunderttausend Ei»'
wohnern Münchens mit einem Eifer, als ob
diese Art von Domfreiheit die einzige wäre, z»
deren Durchführung cs sich lohnte, den Mund
zu rühren."
„Sieh mal Einer an! Und mir sagten Sie,
Sie hätten ganz neue Gesichtspunkte für die
Behandlung der Frage entdeckt I . . ."
„Nennen Sie das keine, Herr Doktor?"
lachte Manhart. „Uebrigens bin ich von da
an jeden Tag wenigstens einmal heraufgefticgc»,
denn es war wirklich himmlisch, mit einem
liebenden Herzen dort in den Wolken zu sitze»
und die Welt wie der Herrgott zu Füßen z»
haben. Und dort habe ich der Kleinen all die
hübschen Geschichten und klugen Gedanken vo»
Mund zu Mund erzählt, die das profane Bol«