Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Spare Begegnung

Warum in des Lebens Morgensteige
Lenkte mir dein Pfad nicht freundlich ein?

Da ich abwärts bald die Schritte neige,
Willst mir später Fahrtgenosse sein?

Sehnlich schon aus engen Iugendtalen
Rief dir meines Traumes Stimme zu.

Doch von eines reinem Himmels Strahlen
Ueberleuchtet ferne zogest du.

Run wir uns in Mittagsgipfelstunden
Nach so manchem Lieb- und Leidespsad

Rastend unterm Schattenbaum gesunden.
Sei mir denn mein guter Kamerad!

Niederschreitend laß uns fröhlich tauschen,
Was im Steigen wir erlauscht, erschaut,

Höhenblick und heimlich Waldesrauschen,
Blaue Seen und Quellenschmeichellaut.

Laß uns heiter all der Klippen denken.
Dran wir töricht junge Kraft zerschellt,

All der Nester, all der argen Schenken,
Drin die Wandrer einst der Wirt geprellt.

Lachend zieh'n wir so den Berg hernieder,
Froh der Sonne, die uns Gott beschert;

Und ich singe dir die tiefsten Lieder,

Die dies arme Leben mich gelehrt!

Fritz Erdner

Der grüne Eiqueur

Von Hjalmar Bcrgman

Der Name des Liqueurs, nach dem Giglio
sich sehnte, war ihm unbekannt. Ein schöner
grüner Liqueur, den er in einer geschliffenen
Kristallflasche in einem erleuchteten Fenster ge-
sehen hatte. Grün, glänzend, ein bißchen ölig,
schwimmend. —

Giglio war ein großer Sünder. Er lebte
davon, daß er seine Tochter verkaufte. Jeden
Abend verkaufte er sie, wenn er einen Käufer
finden konnte. Er war ein wenig Gedankenleser,
Giglio. Er stand vor dem Cafö, musterte die
herausgehenden Gäste, las in ihren Augen.

„Ein kleines Mädchen?" flüsterteer. „Ein
schönes kleines Mädchen! So schön!"

Er bekam Püffe und Tritte, und er hörte
das Wort Polizei.

„Sie sind sehr unhöflich," dachte Giglio und
zog sich in den Schatten zurück.

In seinen Jugend- und Glanztagen war er
Kellner gewesen, ein hervorragender, hochgeach-
teter Ganymed. Aber seither waren Jahrzehnte
verflossen, viele, viele Jahre. Jetzt macht er nur
den Eindruck von Unordentlichkeit, Herabgekom-
menheit und Schmutz.

Aber selbst legte er noch immer großes Gewicht
auf feines Auftreten, auf Höflichkeit. Er fand,
daß von allen menschlichen Fehlern Mangel an
Lebensart, Mangel an Höflichkeit der schlimmste
ist. Höflichkeit macht alles um so viel leichter,
sie ist der Zucker in diesem sauren Leben. —

Und Giglio liebte Süßigkeiten.

Das große CafS duftete nach Backwerk,
Kaffee und Liqueur. Aber dort drinnen war
der Ligueur nicht, nach dem er sich sehnte. Er
hatte ihn irgendwo im Ladenfenster eines Spiri-
tuosenhändlers gesehen. Vielleicht war es gar
kein Liqueur, sondern Medizin, ein übelschmecken-
des Gesöff?

Paul Segieth

In diesem Fall mußte sie wenigstens ge-
sund sein.

Giglio hatte acht Saldi in der Tasche, und
er wollte Gianna, Giannabella, Süßigkeiten
kaufen. Giannaccia, das verflixte Schlecker-
mäulchen, liebte auch Torten mit eingemachten
Früchten darauf.

Das große CafS wagte er natürlich nicht zu
betreten. Er mußte durch viele Hintergäßchen
gehen. Und er ging an der Kirche vorbei, wo
er einmal ein Silberherz aufgehängt hatte. Aus
reinem Silber! Zum Dank für glückliche Geburt,
Giaunas nämlich. Als sie klein war, war sie
ein so süßes Kind gewesen. Aber Kinder
wachsen so rasch. —

Dort auf dem Trottoir vor der Kirche
schleuderte ein junger Mann aus und ab, blieb
stehen, sah sich um, suchte.

Giglio schlich sich dicht an ihn heran.

„Ein kleines Mädchen? So schön?"

„Wo hast du sie?"

„Ganz in der Nähe, auf der andern Seite
der Brücke."

„Scher dich zum —"

Giglio huschte in einen Laden. Die Men-
schen sind doch unhöflich, dachte er und kaufte
Süßigkeiten für vier Saldi. Im Leben ist alles
Zufall, dachte Giglio. Heute abend kann ich
vier Lire haben. Und in einer Woche kann ich
viertausend in der Lotterie gewinnen.

Er suchte unter den toskanischen Zigarren
auf dem Ladentisch, drückte, wählte und zündete
an. Und er trank ein Glas Mentha. Mentha ist
auch grün, aber nicht auf dieselbe Weise, nicht
so dunkelgrün. Der Liqueur im Schaufenster
war schöner. Wenn man nur wüßte, wie er
schmeckte.

Er ging über die Brücke und dachte daran,
sich zu ertränken. In letzter Zeit konnte er den
Fluß nie sehen, ohne an den Tod zu denken.
Gianna war so zänkisch geworden. Es ist schön,
kleine Kinder zu haben, aber wenn sie erwachsen
sind, werden sie oft so zänkisch.

Giglio hätte gern in einer Stadt gewohnt,
wo die Straßen mit Goldstücken gepflastert
waren, und in den Springbrunnen Wein floß.
Ach, wenn man in einer solchen Stadt wohnte!
Uberto, der von Indien zu sprechen pflegte, hatte
gesagt, daß es dort solche Städte gab. Uberto
war ein großer Lügner, aber es war schön, ihn
erzählen zu kören.

Giglio schlich hastig durch die Dunkelheit
Aus der Ferne sah er Gianna wie einen große»
schwarzen Ball in der Türöffnung.

Sie rief ihm entgegen: „Nun, Papa-
Nun, Papa?"

„Da hast Du."

Gianna aß gierig.

„Nun?"

„Du mußt mit mir über die Brücke, Kleine.
Es ist zu weit für sie, hierher. Sie wolle»
nicht."

„Das habe ich Dir doch immer gesagt
Aber Du läufst in den Schenken herum uns
läßt mich hier sitzen. Und Uberto kann kommen.

„Warum sollte er kommen? Uberto?"

Gianna antwortete mit Stolz: „Weil er
mich liebt. Er hat Karolina gesagt, daß er
mich totschlagen wird."

Sie machte ihm große Sorgen, diese Liebe
Ubertos für Gianna. Es ist überhaupt sehr
schlimm, wenn arme, junge Männer es sich ein
fallen lassen, zu lieben.

Giglio sagte: „Ach, so dumm wird er scho»
nicht sein — komm jetzt, meine Tochter." &
gingen jeder auf einer Seite der Straßsi
Gianna stolperte über spielende Kinder, die sll
in der Dunkelheit nicht unterscheiden konnte.
Sie schimpfte und schlug um sich. Giglio fragte
sich in seinem stillen Sinn, ob der junge Herr
bei San Agostino noch dastehen würde?

An der Brücke angelangt, sagte er halblaut
zu sich selbst: „Im Leben ist doch alles Zufall!

Und hierauf zu Gianna: „Hast Du ganze
Schuhe?"

„Ganze Schuhe?" schrie Gianna. „Sage
lieber ganze Lumpen!"

„Manche mögen das nicht," bemerkte Giglio.

Nun begann Gianna all die anmutige»
Schwenkungen und Drehungen zu vollführen,
die zu ihren Berufsgeheimnissen gehören. Und
Giglio hielt sich in gehörigem Abstand.
wünschte innig, daß man nicht weiter zu gehe»
brauchte als bis San Agostino. In der Bi»
delle Capelle hatte er eine ganze große Polizei
Patrouille gesehen. —

Gianna ging die Straße hinunter und übte
sich, das Kleid zu schwenken. In der Ecke
von Tor' Sanguigno blieb sie einen Augenblick
stehen und bog dann in den Marktplatz ein.

Da — nicht da — zählte Giglio auf de»
Pflastersteinen. Ja, er war da. Der Kopf des
jungen Mannes saß wie auf einer Schraube
und drehte sich fast herum, um mit dem Blick
der kunsterfahrenen Gianna folgen zu können
Jetzt ging sie gerade auf ihn zu und began»
zu unterhandeln.

Giglio stieß einen Seufzer der Erleichterung
aus. Er war in großer Spannung gewesen.
Aber er liebte friedliche Gedanken und began»
sich nun wieder mit dem grünen Liqueur zu lw
schäftigen. Er erinnerte sich, daß er ihn a»>
Korso gesehen hatte — aber auch anderswo,
in einem kleinen Spirituosenladen nahe det
Lottokollektur. Dahin wollte er gehen.

Jetzt hatte Gianna das Geschäft abgeschlossen,
und sie kamen Arm in Arm auf ihn zu. &
streckte die Hand aus.

„Was willst Du?"

„Eine Kleinigkeit!"

„Hundekerl I" zischte der junge Mann und
warf ihm eine Lira an den Kopf. Giann»
lachte, und indem sie an dem Alten vorbeistrichen
flüsterte sie: „Wir gehen heim. Behalte dck
Haustor im Auge — Umbertos wegen."

„Sie sind doch sehr unhöflich," dachte Giglio,
aber im ganzen genommen war er ja recht zN'
frieden. Er beschloß den Spirituosenladen aus
zusuchen, in dessen Fenster er den glänzende»
grünen Liqueur in einer geschliffenen Kristall'
Kugel gesehen hatte.

Er erinnerte sich, daß mitten auf der Kug^
ein Sternchen gewesen war.

12bO
Index
Paul Segieth: Vignette
Fritz Erdner: Späte Begegnung
Bo Hjalmar Bergmann: Der grüne Liqueur
 
Annotationen