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Eine Wolke

Von Hermann Hesse

Ein quirlender Luftwirbel hatte den Rest der Gewitterwolken ver-
trieben: auf dem beruhigten Meere leuchtete die Mittagssonne klar und
heiß. Nur eine einzige Wolkenbank war dageblieben.

Von ihr löste sich aufwärts steigend ein zarter weißer Schleier,
und dieser weiße Schleier hing, als die ganze hellgraue Wolkenbank
verraucht und verflogen war, allein mitten im tiefblau glänzenden Himmel.
Fleckig und zerblafen trieb sie empor und langsam gegen den Norden hin,
und im langsamen Treiben sammelte sie ihre Enden und wehenden
Spitzen um sich her wie eine fliehende Frau ihre wehenden Kleider, gewann
Umriß und Wölbung, nahm an Weiße und Klarheit zu und erfreute das
Auge des Schiffers, der eilig fein durchnäßtes braunes Dreiecksegel wieder
aufzog.

Wer sie so leuchtend, einsam und ruhig durch die große Bläue
gleiten sah, dem erschien sie wie ein fernes von einer Frauenstimme ge-
sungenes Lied.

Und die Wolke sang wirklich; sie sang und flog, sie war Sängerin
und Lied zugleich. Nur die großen Meervögel und nur der salzige See-
wind konnten ihr Lied verstehen. Vielleicht wäre es auch von einem
Dichter verstanden worden, der sie nahe genug erblickt hätte, vom äußersten
Leuchtturm von Livorno aus oder von den Höhen der Insel Korsika. Es
war aber kein Dichter da. Und wäre einer dort gewesener hätte Mühe
gehabt, das Lied der Wolke in seine Sprache zu übersetzen. Vielleicht
hätte er es etwa so übersetzt:

Wie bin ich schön!

Wie bin ich weiß!

Wie bin ich leicht!

O Meer, o blaues Meer! Wer sieht dich so, wie ich? Wer liebt
dich so, wie ich? Wer schmückt dich so, wie ich? O Meer, o blaues
Meer!

O Sonne, du goldene Sonne! Ich liebe dich und ich sammle all dein
Licht aus meinen schneeweißen Flügeln! O goldene Sonne, liebst du mich?

Mir träumt. Mir träumt, du liebest mich. Mir träumt, du kämest
zu mir in deinem scharlachroten Abendmantel und schlügest ihn um meine
weißen Flügel, daß ich scharlachrot und brennend und schöner würde als
alle Dinge, die auf der grünen Erde, im blauen Meer und in den goldenen
Lüften sind. O Sonne, goldene Sonne, ich liebe dich I

— Langsam segelte das schöne weiße Wolkenlied über die Buchten
von Spezia und von Sestri und über die gelben Strandfelsen von Ra-
pallo und Portosino hinweg. Sie sah schwarze Schiffe über den Horizont
hinaus ins Bodenlose gleiten wie Tropfen, die vom Rand einer Dom-
kuppel triefen. Sie sah braune Fischer in dunklen Barken mit roten und
gelben Segeln fahren. Sie sah die Sonne über Frankreich glühend sich
neigen.

Und sie sang und träumte vom Abend, vom scharlachroten Abend,
von der Stunde der Glut, des Schweigens und der Liebe.

O Sonne, o goldene Sonne!

Sie sang immer dasselbe Lied, sie wußte kein anderes — vom
blauen Meer, non der Sonne, von ihrer Liebe, von ihrer Schönheit,
von ihrer Sehnsucht, und vom Abend, vom glühenden, schwelgerischen,
farbigen Abend.

Genua stieg empor, die helle Stadt am runden Golf, und hinter Genua
der Festungskranz, und dahinter die Hügel und das weite, weite hellgrüne
Land, und ganz am fernsten Rande weiß, kühl und fremd ein stiller Zug
von kühlen strengen Bergen. Die Wolke sah sie und schauerte, sie suchte
langsamer zu schweben. Was sollte sie dort, die zarte, schöne, lichtbedürf-
tige, was sollte sie dort bei den kühlen, fremden, kahlen Höhen des Nordens!

Sie sang: O Sonne, o goldene Sonne, liebst du mich nicht?

Ein Geläute drang aus der großen Hafenstadt herauf, das Abend-
geläute von Santo Stefano. Die östlichen Berge wurden seltsam blau
und nah, über den silbergrauen französischen Hügeln neigte die Sonne
zum Untergang.

Die Sonne! Sie brannte tief scharlachen und streute eine wunderbare
traurige Schönheit über die Erde und über das Meer. Blauschattig und
violett wurden die Berge, und das Meer wurde lila und orangerot.

Da traf der dunkelglühende Blick der Sonne die sehnsüchtige Wolke.
In heißen Schauern brannte ihr weißes Gefieder auf, so rot, so rot, daß
sie über den Genueser Hügeln wie eine lodernde Fackel hing.

Das Meer verglühte, die Erde wurde grau, auch auf die Kuppeln
der Kirchen und auf die Vorwerke und Alleen der Hügel stieg die Däm-
merung. Darüber aber brannte hellrot die einsame Wolke fort, schöner
als alle Dinge, die auf der Erde, im Meer und in den Lüften sind.

Sie wurde rosenfarben, sie wurde lilablau, sie wurde violett. Dann
wurde sie unsichtbar.

Niemand konnte mehr sehen, wie sie beim zagen Schein der frühesten
Sterne schnell und schneller flog, von einem kalten Wind getrieben, über
Novi, Pavia und Mailand hinweg, gegen die kühlen, fremden, weißen
Berge des Nordens.

Fritz Erler (München)
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