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Nr. 3

JUGEND

1912

Es ist doch nur der Schnittpunkt zweier Linien,
es ist kürzer als der Bruchteil einer Sekunde!

— Und doch, — sich selbst das Leben nehmen"

— es war und blieb unmenschlich, grauenhaft.
Mochte er die Dinge sich zurechtlegen wie er
wollte: Es gab in der Gesamtvorstellung jedes-
mal einen Augenblick, wo ihm war, als solle
er eine Riesenkugel verschlingen, die ihn aus-
einander sprengen mußte. Sich selber — seinen
eigenen, gesunden, lebendigen Körper mit Be-
wußtsein töten — — es war und blieb irrsinnig.

Aber wie, wenn er sich nun gleichsam über-
listete ? Wenn er nur erst ganz, ganz leise gegen
den Hahn drückte und sich dabei einbildete,
daß dies nur eine Spielerei sei?

Er setzte die Waffe an. Er glaubte bereits
ein kleines Nachgeben zu spüren, der unsinnige
Wunsch durchirrte ihn, die Waffe möge ver-
sagen, gleichzeitig war es als würde er schwe-
bend fortgetragen — —, und dann — ließ er
die Hand wieder sinken. Ihm war wie je-
mandem, der von einer Brücke aus in ein
reißendes Gewässer blickt, dem es schon scheint
als zöge er den Strom hinauf, und der im
nächsten Augenblicke fühlt, daß er auf festem
Boden steht, während das Wasser in umge-
kehrter Richtung weiter zieht.

Klopfte da nicht jemand? Er hob den Kopf
und lauschte angespannt, beinahe voll Hoffnung.

— Ein Vogel, ein Specht vielleicht — was
ging ihn das an! — Es klopfte weiter, und
dieses Geräusch peinigte ihn endlich. Unwill-
kürlich sah er an einem der Föhrenstämme
hinauf, von wo der Laut herabklang. Dort
war nichts; er blickte wieder fort; das Klopfen
ertönte von derselben Stelle: das Tier mußte
doch dort sitzen! Sein Ohr hatte dem Auge
eine bestimmte Richtung gewiesen, das Auge
sah nichts und suchte ganz instinktiv zu seinem
Recht zu kommen. Fast ohne es zu wollen
erhob er sich, tat ein paar leise Schritte bis
zum Stamm und sah hinauf. — Dort saß er
wirklich, der Specht, und hämmerte gegen die
Rinde. Plötzlich flog er auf, zum nächsten
Baum, verweilte dort kurze Zeit, dann kam er
zurück, — und auf einmal fiel dem Direktor ein
kleiner Tannenzapfen vor die Füße. Mechanisch
bückte er sich und hob ihn auf. Scharfe Schnabel-
hiebe hatten ein paar Schuppen aufgerisfen; er
starrte darauf hin. — Er hat die Samenkörner
herausgefressen . . . sprach eine Stimme in ihm.

— Was wollte er hier mit dem Tannenzapfen
in der Hand? Was ging ihn der Bogel dort
oben an?

Er sah rings um sich herum; es schwindelte
ihn leise; in seinem Körper war ein leeres,
nagendes Gefühl; war das — Hunger? —
Hunger und plötzliche Müdigkeit. Er
ging zu seiner Bank zurück und starrte
ins Leere. Und über ihm blaute der
Himmel, und die blanken Baumstämme
vor ihm leuchteten. Waren das über-
haupt Baumstämme? Ihm war, als
befinde er sich auf einem leise schaukeln-
den Schiff, in einem Hafen, und ringsum
starrten die Masten anderer Schiffe.
Stimmen riefen undeutlich herüber und
hinüber.

Er sprang auf: Ich darf nicht schla-
fen! Was für einen Sinn hat es jetzt
noch zu schlafen?! Um wieder aufzu-
wachen? — In der Nähe fand er ein
par verspätete Brombeeren, saftlos und
alt, aber er pflückte sie alle und aß
sie mit Heißhunger. Dann ging er zu
seiner Bank zurück. Diese Bank war
der einzige Zustuchtsort der ihm geblie-
ben war, das letzte, was ihn noch mit
den Menschen verband, es war der
einzige Platz, auf dem er noch zu Hause
war. Er sah nach der Uhr. War das
möglich? War Mittag schon vorüber?

— Zuhause glaubten sie ihn aus einer

Reise. Oder hatten sie bereits Kunde davon,
wie es mit ihm stand? War seine Schande
vielleicht schon in der Stadt verbreitet? Er
dachte auf einmal an den alten Geheimrat, und
heftiger Schreck erfaßte ihn: War man etwa
schon unterwegs ihn hier zu suchen? Wenn
es bis dahin noch nicht geschehen war, so ge-
schah es im selben Augenblick, wo er die Men-
schen zu Gesicht bekam.

Fast wünschte er es so. Und wenn niemand
kam? Ließ er sich immer weiter drängen, immer
weiter, bis die Nacht anbrach? Und dann, was
dann?

Stunde auf Stunde blieb er auf seiner Bank,
kleiner und kleiner wurde der Abstand bis zum
Abend. Hunger und Kälte ließ seine Glieder
zittern. Und was war das für ein Dröhnen
und Stampfen in der Ferne? Sein Kopf fiel
auf die Seite, er hob ihn wieder; er fühlte wie
er einschlief, aber er hatte nicht mehr die Kraft
sich wachzurütteln. Mit Wollust spürte er wie
ihm die Glieder schwer wurden, und sein letzter,
mühsamer Gedanke war: So wie ich erwache,
dann muß es endlich, endlich sein. Und wieder
vergingen Stunden.

Als er erwachte, wußte er nicht wo er war.
Ihm war gewesen, als liege er daheim in seinem
Bette. Betäubt blickte er ins Leere, sein Auge
unterschied Baumformen in der Abenddäm-
merung, und mit einem Mal stürzte die Er-
innerung in ihm zurück, so grauenhaft, daß er
laut ausstöhnte.

Da lachte es neben ihm, und wie er sich jäh
zur Seite wandte, erkannte er im Zwielicht das
grauäugige Gesicht eines blaffen, aufgedunsenen
Knaben, der dicht neben ihm saß und ihm sel-
ber in's Gesicht sah, starr und wie von irgend
etwas fasciniert. — War das ein Traum?

Der Direktor sprang auf: „Was soll das?
Bist du verrückt? Was starrst du mich so an?
Du glotzt ja förmlich! Packe dich nach Hause!"

— „Nach Hause," wiederholte der Junge,
mit einer Stimme wie ein Papagei, ohne den
Blick von ihm zu wenden.

„Wo wohnst du?"

Keine Antwort. Der Direktor wandte sich
und ging. Der Junge folgte.

„Nach Hause! habe ich dir gesagt; packe
dich, oder ich jage dich nach Hause."

„Nach Hause," wiederholte der Knabe; dann
folgte er abermals.

Der Direktor trat dicht zu ihm heran und
holte mit der Hand zum Schlage aus. Der Junge
duckte sich, ohne den aufmerksamen Blick von

ihm zu wenden. „Was willst du denn von mir?
Willst du Geld? Hier hast du Geld!"

Der Junge führte das Silberstück zum Munde
dann gab er es zurück.

„Blödsinnig, vollständig blödsinnig," mur-
melte der Direktor und begann zu laufen. Der
Junge blieb ihm auf den Fersen.

Und die Nacht zog bald herauf.

Da durchzuckte ihn ein plötzlicher Gedanke.
Er blieb stehn, spannte die Waffe, gab sie in
die Hand des Knaben, legte ihm den Finger
an den Hahn und stellte sich dicht vor ihn hin:
„Drück los!"

„Drück los, drück los!" wiederholte der
Junge aufmerksam, aber seine Worte rissen ab
in einer jähen Detonation, der Mann vor ihm
brach im selben Augenblick zusammen, er warf
die Waffe fort und flüchtete schreiend durch
den Wald.

Die jungen Hunde

Die jungen Hunde seht euch an:

Kaum ist das an die Luft gekrochen
Und hat ein wenig Lunte gerochen
Und den ersten Blinzelblick getan:

So saust der Geist der Rappelei,

Der Trappelei und Zappelei
In die purzelsüchtige Kumpanei,

Als wollt' er ihnen die Leiblein zerreißen,
Um sie herzinnigst willkommen zu heißen!
Das ist ein Gebelle
Und Beinegestelle!

Ein Geraufe
Und Gesäuse!

Ein Gekugel um sich selber!

Dumm wie die jüngsten Kälber
Sind sie und doch schon schlau
Wie Reineke' s Frau!

Willst ein gut's Zuckerl spenden:

Schwapp! hat dich einer an den Händen!
Rufst: komm' her, Schnauzerl, komm' her!
Rollt er dir auch schon überquer
Und bellt ins trock'ne Menschengetriebe:
Helft! ich halt's nicht mehr aus vor Liebe!
Und 's ist auch g'rad', als wär' der Extrakt
Bon aller Lieb' in sein Leiblein

gepackt,

Als wollt' sein liebenärrisches

Drängen

Den Haß einer ganzen Welt

zersprengen!
Hab' mir die Kerls lang' betracht'
Und dann in mich hineingelacht:

Ich sag': ein einziger, junger Hund
Macht die halbe, kranke

Menschheit gesund!
Und ich bleibe starren Sinn's dabei:
Daß so ein Schnauzelmann nichts
als Liebe fei!
Und zum dritten sag' ich,

entschiedenen Munds:
Es sind viel zu wenig junge

Hunde unter uns!
Max Hayek

In äuloi iubilo £. Wilke

»Ich hätte nicht die richtinc Faschingslaune?! Nu», ich meine, so ver-
rückt wie Cie bin ich auch!"

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Register
Max Hayek: Die jungen Hunde
Erich Wilke: In dulci iubilo
 
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