Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 17.1912, Band 1 (Nr. 1-26)

DOI Heft:
Nr. 10
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.4280#0280
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Am Spätnachmittage hörte der Regen auf.
Ich ging hinüber in den Garten des Armen-
hauses, um einen meiner Spielgefährten zu finden.
Aber es zeigte sich niemand. Vielleicht hielt sie
die Feuchtigkeit des Bodens zurück, vielleicht
hatte ihnen der Hausverwalter das Hinausgehen
verboten, vielleicht bannte sie die Furcht in den
Zimmern fest.

Zwei, dreimal wunderte ich um das große
Haus. Auch an den Fenstern war nienmnd zu
sehen. Ich schritt über den Bleichplatz. Da lag
auf der Anhöhe das kleine Stallgebäude mit der
Totenkammer. Mit magischer Gewalt zog es
mich dorthin. Aber während ich mich dem £)rt
des Schreckens langsam näherte, faßte mich ein
leises Grauen. Ich wollte zurück und konnte
doch nicht.

Plötzlich stand ich vor der Tür mit dem runden
Ausschnitt. Dahinter schlief der Unbekannte seinen
ewigen Schlaf. Sollte ich es wagen, einmal
hineinzuschauen? Zwar hatte der Hausverwalter
gesagt, wir sollten ihn nicht stören, und auch mein
guter Vater hatte mich ermahnt, ihm die Ruhe
zu gönnen. Aber der schlief doch gewiß so fest.
Ich hob mich auf den Fußspitzen und legte die
Hände gegen die Tür — — da — ein lautes
Klappen drinnen, als wenn ein Brett fiel.

Ich taumelte zurück und stolperte. Die Beine
zitterten mir. Ich wollte schreien und konnte
keinen Ton aus der Kehle bringen. In großen
Sätzen floh ich über den aufgeweichten Kartoffel-
acker davon.

Und in der Nacht kam der Tote an mein
Bett, legte die Hand fest auf meine Brust und
drückte mir schier den Atem ab. „Warum hast
du meinen Schlummer gestört?" rief er mit hohler
Grabesstimme. Ich wehrte mich und suchte seine
harte Faust abzuschütteln. Ich stöhnte, und plötz-
lich kreischte ich laut auf.

Da stand meine liebe Mutter neben mir und
strich mir sanft über die Stirn.

Zwei Tage darauf wurde der Unglückliche in
die kühle Erde gelegt. — —

Mein fröhliches Kindergemüt vergaß bald die
ganze schreckliche Episode. Nur dann und wann,
wenn ich an der Totenkammer vorüberging, fiel
mir meine Untat wieder auf die Seele. Ge-
sprochen hatte ich mit keinem Menschen darüber.

Erst im Sommer, als das Korn anfing zu
reifen und Mohn und Raden blühten, löste mir
ein Gespräch mit unserem alten Freund Witt die
Zunge.

Der Alte, das blonde Marieken und ich gingen
durch die wogenden Roggenfelder, um von einem
Bauernhöfe Buttermilch für das Armenhaus zu
holen. Die Sonne schien so hell, und die Vögel
trillerten und jubilierten so lustig, und die Blumen
leuchteten in bunten: Schmuck, ein würziger Duft
durchzog die prangende Welt.

Wir aber redeten von dem düsteren kalten
Tode. Eine kindliche Frage der kleinen Marieken
hatte uns auf dies ernste Thema gebracht, und
es möchte wohl für einen Fremden ein seltsamer
Anblick gewesen sein, wie der schneeweiße alte
Mann uns Kinder über das Sterben belehrte.
Ernst und schweigend hörten wir ihm zu.

„Deit dat Starben weh?" fragte ich dazwischen.

„Io Peter, männigmal deit dat sehr weh. Aber
uns Herrgott hett in sien grote Weisheit 'n Bloom
waffen laten, de alle Wehdag wegnimmt. Ii kennt
se Heide. Dor an de Kant steiht se, de schöne rode."

„De Mahnbloom?" riefen wir erstaunt.

„Io, de is dat. De Dokters makt ut ehrn
Saft ne scharpe Medizin, und de geM je de Lüd,
wenn se veel Wehdag hevt. Kiekt ju oe Bloom
man mal ordenlich an. De Buer seggt, dat is'n
böses Unkrut, aber de lewe Gott weet wull,
worüm he fe waffen lett."

Wir gingen ein Stücklein schweigend dahin,
jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.
Dann fragte ich plötzlich: „Du, Fritz Witt, kann
n' doden Minschen ok wedder opwaken?"

„Nee, mien Jung, wer dot is, de wakt nich
wedder op und rippt und rögt fick nich."

Da erzählte ich mein Erlebnis mit dem un-
bekannten Toten, der im März in der Toten-
kammer des Armenhauses gelegen hatte. Teils

Zwei schöne Bestien H. Kiey

trieb mich ein gewisser Widerspruch zum Reden;
ich wollte den bestimmten Worten unseres alten
Freundes nüt einer Tatsache begegnen, durch die
er widerlegt wurde. Er hörte ruhig zu. Dann
sagte er: „Mien lewe Jung, de Geschicht is ganz
natürlich togahn. In dat lütje Hus, wo uns
Dodenkamer in liggt, sünd veele Rotten, und dat
eklige Beetüg fritt allens, ok Liken. De hevt
den armen Minschen dat ene Ohr affreten. Und
as du gegen de Dör stött hest, dor hevt fe'n
Schreck kregen und sünd weglopen. Dorhi hevt se
dat Brett ümsineten, wo sien Kopp op legen hett."

„Hest du sehn, dat sien Ohr weg wer und
dat dat Brett ümfallen wer?"

„Io, Peter, dat hev ick sehn. Du kannst
ganz ruhig sin; du hest em nich stört, sunnern
de Rotten."

Ich atmete erleichtert auf. Es war mir doch
recht angenehm, daß sich die Geschichte so einfach
aufklärte. Marieken weinte leise vor sich hin.

„Wat fehlt di denn, mien lütt Popp?"
sagte Witt.

„Ick bün so bang, dat mi de Rotten ok mal
dat Ohr affreten daut, wenn ick in de Doden-
kamer ligg."

„Dat schüllt se ganz gewiß nich, mien Marieken,
ick paß hi di op," sagte ich bestimmt und legte
beruhigend meinen Arm um die kleine Freundin.
Hier konnte ich's ruhig tun, denn es sah's ja kein
Junge, nur der alte Witt, und der plauderte
nicht. — —

Der Herbst kan: ins Land. Apfel und Birnen
wurden reif und wurden gepflückt. Die Blätter
rieselten erst einzeln, dann in großem, tollem
Reigen herab. Der scharfe Nordwinh spielte
dazu auf.

Da legte sich unser alter Freund Fritz Witt
aufs Krankenlager. Das Herz wollte nicht mehr.
Es hatte siebzig Jahre lang treu gearbeitet. Wohl
hatte es schon früher dann und wann den Dienst
einstellen wollen, aber sein Herr hatte es immer
wieder zur Pflichterfüllung ermahnt. Nun schien
es doch endgültig zur Ruhe gehen zu wollen.

Grimmige Krampfanfälle schüttelten den Alten.
Und wenn er dann wieder ein paar Stunden

Ruhe hatte und wir an sein Bett treten durften,
fragten wir ihn wohl, ob er Schmerzen hätte.

„Io, Kinner, dat hev ick; aber dat geiht all
öwer," sagte er dann mit gezwungenem Lächeln.

Aber es ging nicht über, und die Schmerzen
wurden von Tag zu Tag schlimmer.

Ich saß wieder mal an seinem Bette, wie ich
das so oft ::nd gern tat. Ich strich leise über
seine welke Hand, die uns so manchen Speer
und Pfeil geschnitzt hatte. Er schien zu schlafen.
Ganz leise legte ich meine Hände in den Schoß
und faltete sie unwillkürlich. Seinen Schlummer
wollte ich nicht stören, denn er sollte und würde
wieder erwachen. Allinählich fielen die Schatten
des Abends auf die Welt herab.

Da kam die Hausmutter mit aschfahlem Ge-
sicht herein.

„Hast du Marieken Schmidt nicht gesehen,
Peter? Sie ist weg," ries die Frau aufgeregt,
ohne sich um den Kranken zu küm-
mern. Die kleine Waise war ihr be-
sonderer Liebling.

Ich sprang vom Stuhl auf. Auch
der Alte kam in die Höhe.

„Wi möt se söken," sagte er heiser,
und schon war ich draußen.

Uber die Gräben, durch die Knicks
— — was machte es, wenn meine
Hose zerriß. Meine kleine Freundin
war weg und die inußte ich holen.

Endlich fanden wir sie. Mitten auf dem freien
Stoppelfelde saß sie und weinte, das Gesicht in
der blauen Schürze vergraben.

Wir hoben sie auf und brachten sie nach Hause.
Sie war eiskalt. Der rauhe Wind hatte ihr das
Haar zersaust und war durch die leichten Kleider
gefahren. Sie zitterte an allen Gliedern.

Die Hausmutter packte sie schnell ins Bett
und gab ihr heißen Kainillentee. Das schien ihr
gut zu tun; sie schlief ein.

Die gute Frau des Hausverwalters hatte die
Kleine garnicht mit Fragen belästigt und auf-
geregt, als aber Marieken wieder aufwachte, er-
kundigte sie sich doch, was das Kind in dem
dünnen Zeug ohne Jacke draußen in der Kälte
gewollt hatte.

„Ick wull Mahnbloomen för Fritz Witt Halen,
dat sien Wehdag weggeiht," antwortete das Blond-
köpfchen und legte die Arme um den Hals der
Hausmutter, als ob sie um Verzeihung bitten
wollte für die Angst, die sie der guten Frau zu-
gefügt hatte.

Am anderen Tage lag Marieken in heftigem
Fieber. Gegen Abend wurde der Arzt geholt.
Der sagte, sie hätte eine sehr starke Lungen-
entzündung.

Und nach zwei Tagen war das kleine Blüm-
chen geknickt.

Das häßliche Brett in der Totenkammer wurde
hochgeklappt und der zarte Körper daraufgelegt.
Der Hausverwalter schloß die Tür mit dem runden
Ausschnitt und steckte mit einem Seufzer den
hölzernen Bolzen in den Riegel.

Die Nacht kam. Der Wind heulte um unser
Haus und rüttelte an unfern Fenstern. Ich koinüe
nicht schlafen.

Da — rief mich nicht ein feines Sümmchen?
Gewiß, das war Marieken. Ich richtete mich auf.
Alles blieb still. Nur die regelmäßigen Atemzüge
der Mutter und das leise Schnarchen des Vaters
hörte ich. Dann pfiff wieder der Sturm sein
wildes Lied dazwischen.

Ich legte mich zurück und schloß die Augen.
Allmählich sank ich in einen Halbschlaf.

Da — wieder die Stimme. Deutlich hörte
ich: „Peter, de Rotten."

Ich fuhr in die Höhe. Hatte ich ihr nicht
einst versprochen, die widerlichen Ratten von
ihrem Gesicht abzuwehren? Das fiel mir schwer
auf die Seele. Einen Augenblick besann ich mich
noch; dann stand ich leise auf, griff nach meinem
Zeug und schlich aus dem Zimmer. In: Wohn-
zimmer zog ich mich an, wickelte mir ein dickes
Tuch meiner Mutter um die Schultern und ver-
ließ geräuschlos das Haus.

Ohne mich zu besinnen und ohne Furcht und
Grauen ging ich über den Hof des benachbarten
Register
Heinrich Kley: Zwei schöne Bestien
 
Annotationen