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mehr aus ihrer Brust, und flüchteten ste zuletzt
zu den Kindern, dann staunten sie nur über
die Verlogenheit des Sprichworts, das sagte:
Kinder kitten jede Ehe zusammen. Denn
auch die Kinder hatten sie nicht erschöpft und
nicht festgestellt . . . ihre Naturen waren noch
immer unvergeben und frei!

Wenn sie sich jetzt sahen, waren sie ver-
legen. Marie kam nicht mehr in Lukas'
Haus, er nicht mehr zum Freunde. An Stelle
der Freundschaft zum Gatten des Anderen
trat ungerechter Haß. Mit Mühe behielten
sie vor den ihrigen ein helles Gesicht, und nur
die kurzsichtige Bertrauensstärke Ellens und
Pauls konnte es zu Stande bringen, von dem,
was in Lukas und Maria wogte, nichts zu
ahnen. Lukas malte auch nicht mehr, und
Maria stand länger denn je vor dem offenen
Fenster und trank die Märzluft; gierig und
nimmer geduldig. Und so bedurfte es nur
einer zufälligen Gelegenheit, um sie zu einander
zu führen, denn Beider Gedanken schritten
sich schon Zielgerade entgegen und wußten sich
von der Versuchung umlauert, eine solche Ge-
legenheit gleich beim ersten Sich-Darbieten zu
erfassen. . .

An einen, der letzten Märztage verreiste
Paul, und Lukas erfuhr es. Er ließ noch
zwei Tage verstreichen, am dritten aber schickte
er Ellen mit den Kindern zu Besuch in die
Nachbarstadt, und als aus seinem Atelier die
Mittagsonne wegstrich, war er entschlossen. Er
rannte aus dem Hause, schritt eilig durch den Garten,
und klingelte endlich mutig vor Marias Tor.

Sie war erstaunt, und sie war auch nicht er-
staunt. Sie stand, als er eintrat, mit fliegenden
Pulsen im hellgelbsonnigen Korridor. Angst und
Seligkeit zugleich pochte ihr 5)erz. Aber als
Lukas, der lächelnd feinen Hut in der Hand hielt,
nach langem Befangensein sagte: „Gehn wir zu-
sammen in die Sonne!" lachte sie froh und war
gleich bereit.

Sie gingen durch die Sonne. Zwischen der
kleinen, funkelnden Stadt und den umgürtenden
Bergen lagen kahl die Rebgärten. Die Böden
waren schon grün, die Weidenruthen, mit denen
die alten Weinstöcke an die Pergelpfähle ge-
bunden waren, glänzten fröhlich, und der hell-
blaue Bach, der zwischen schimmernden Nach-
mittagsufern dahinrann, strahlte alle Lust des
Lenzes aus feinen Wellen. Und wo sie schritten,
und wobin sie schauten, überall redeten Stimmen
der Wiedergeburt, . . . niemals so inbrünstig waren
Lukas und Maria von der Glorie des Kampfes
ergriffen worden, den die Bescheidung des Winters
und die Herrschsucht des neuen Erdbluts alljährlich
miteinander fechten. Aber, so wie Menschen, die
in der nächsten Stunde von sich das Wunder
erwarten, das weit über allen Schönheiten der
Welt steht, auch die zauberhafteste Szenerie für
noch zu wenig würdig dessen halten, womit sie
sie zu füllen reich genug sind, so schritten Maria
und Lukas von der Gruppe grünender Flieder-
büsche weg über die tanzende Brücke, wo der
Blick offen stand nach der Unendlichkeit vom
Himmel, Bergzug und Gartenwelle, weiter hinaus
in das freie, sonnüberflutete Land, und sagten
jeder zu sich: noch nicht, . . . noch nicht! . .

Als dann die Sonne nicht mehr hoch über
dem Bogen der schneebereiften Duglia stand, fand
sich mitten im ersten Grün geräumiger Wiesen
ein alter, verlassener Bauernhof, über den noch
kahle Nußbaumüste sich breiteten,. . . und an der
Sonnenseite des verwitterten Gemäuers eine ge-
bleichte Bank. Darauf ließen sich Lukas und
Marie nach langem Zögern nun nieder. Und
jetzt, so fürchteten, so hofften sie, würden die
Herzen, die im stummen Gang nebeneinander so
schwer und klopfend geworden waren, alle Last
sprengen.

Zn beiden war diese Gewißheit, und beide
wagten darum kaum, sich zu bewegen. Denn
jede Änderung ihres Blicks, der starr hinaus-
gerichtet war in die Weite des südlichen Abends,
jedes Wort, auch wenn es Unbedeutendes sagte,
mußte nun die monatelange Reifezeit ihrer gegen-

-Hermes Psychopompos

Mein Stab ist golden, ja, von Golde!

Du mußt mir folgen, erstaunte Seele.

Don einem Gastmahl riß dich der Tod,
Don tönenden Bechern,

von Rosenkränzen.

Meine Füße tragen Taubenflügel.

Sie wandeln voran, durchsichtige Seele.
Wir gehen zusammen in windiger Luft
Ueber Getürm und über Gebirge.

Die Nacht wird kommen — bleib dicht

bei mir —

Vom Sturm zerrissen. Bleib

dicht bei mir!

Mein Stab wird leuchten, mein Fuß

wird leiten

Ins Reich der Schatten, gestorbene Seele!

Wilhelm Rlemm

seitigen Sehnsucht verraten, die winteröde Hin-
nahme ihres kalten Schicksals, und die noch
jugendlich drängende Wildheit des Begehrens nach
einem neuen. Und so schwiegen sie fiebernd, ge-
wiß Zeder des Anderen Bewegungslosigkeit ver-
stehend, und fühlten immer deutlicher, wie diese
erträumte Stunde nun die größte Bedrängnis
wurde von allen, die sie zuletzt, jeder einsam, ge-
kostet hatten.

Es war ein sonderbares Eintreffen, daß, als
endlich Lukas, sich nimmer beherrschend, Marias
Hand ergriff, die Sonne jäh aus der goldenen
Wiese verschwand. Schnell, um nicht zu sagen,
eilig, sank sie hinter den schneeblauen Kamm der
Duglia unter. Lukas bemerkte es, Maria be-
merkte es. Sie ließen die Hände beisammen,
aber das Wort, das sie nun endlich hätten sagen
können, sprachen sie nicht mehr aus. Wie von
einer Vision wurden ihre Augen, nein, ihre ganzen
Menschen, gefangen genommen vom schrittweisen
Rückzug des Lichts, das zuerst das ebene Reb-

land des rechten, dann das des linken Fluß-
ufers verließ, dann die jenseitigen Porphyr-
wände der Berge mit ihren Kapellen und
Schlössern zuckend angoldete und zuckend
dann blaute, endlich in den noch gelben
Hochwaldlärchen der Rücken rote Feuer an-
fachte, rasch wieder löschte, und ganz zu-
letzt im Himmel garbenaufzündend erstarb.
Dann, als das geschehen war, lösten sie
kurz ihre Hände. Und hatten nun wieder
die volle Sicherheit des Blicks, die un-
eingeschränkte Freiheit der Bewegung, —
und als hätten sich auch ihre Seelen von
einander losgerissen, auch wieder die klare
Sehkraft des erkennenden Gedankens. War
es das Sterben des Lichts gewesen, das
ihnen urplötzlich gesagt hatte, daß sie nimmer
einen Menschen suchten, der sie ergänzte, daß
keiner mehr sie zu seinem Teil machen könnte,
ja daß auch die brennendste Liebe ihnen nicht
mehr aufhelfen würde? Oder war es die
sichtbare Alleinherrschaft des Schattens, der
in seinem rücksichtslosen Verdrängen des Lichts
darlegte, daß die Sonne nur seine Unter-
brechung, nicht aber seine Besiegung war?
Denn jetzt traten ihre Seelen in jeder vor-
rückender Sekunde entschlossener von der
Reise zurück, die sie heute unternommen hatten,
und kehrten heim in die unabänderliche Ein-
samkeit ihrer Leben, weil sie sie jetzt als un-
abänderliche erkannten. ..

Maria erhob sich zuerst. Einen Augen-
blick lang stand sie vor Lukas, mit herab -
hängenden Armen und geöffneten Händen, wie
das Bild der Armut selbst. Dann folgte er ihr,
sie sahen sich an, versuchten freimütig zu lä-
cheln, und lächelten zuletzt wirklich. Dann aber,
während sie über die Wiesen hinschritten, dem
Damm des Flusses zu, der sie heimführen
sollte, legten sich ihre Blicke immer tiefer und
verwandter auf die in Dänunerung versinkende
Landschaft, und ohne ein Wort zu reden,
ließen sie die langsam vorbeischreitenden Bilder
sich zukommen. Wer gläubig ist, richtet in
Stunden versagender Lebenskraft seinen Blick
noch zu Gott. . . wer nimmer glauben kann,
bindet verzweifelt die entfliehende Hoffnung an
die sichere Existenz der sichtbaren Dinge. So
spielten die dunkel geduckten Berge, deren Fels
unter aufsprießendem Wald gewiß und fest war,
die Lichter aus der Stadt, die die Stadt be-
wiesen, und der leise Hall der Tritte im Damm-
gras den Schreitenden die Melodie vor, die
mit der Melodie ihrer Seelen voll harmonierte.
Und je länger sie stumm nebeneinander heim-
gingen, um so größer wurde in ihren lauschen-
den Tiefen, die keiner Lüge niehr offen waren,
die Gewißheit, daß das Leben, mehr als ein
Wettstreit ums Glück, die Notwendigkeit des
Geschöpfs ist, seine Träume jeweils an der ihm
innewohnenden Kraft zu messen.

Auf der Brücke, als sie über die schwingende
Brücke in die Hut der Stadtgärten eintraten und
schon nicht zu ferne die Lampen aus ihren Häusern
blinken sahen, begann Maria zu reden. Nach dem
ersten Satz, den sie ausgesprochen, ward ihr bange,
denn ihre Worte waren unvermittelt in das
Schweigen gesprungen, und sie wußte nicht ein-
mal, was diese Worte Rechtes besagten. Aber
als sie an Lukas' Gegenrede wahrnahm, wie er
es verstand, daß sie nun einander sagen konnten,
was sie wollten, da sie sich eben von sich nichts
sagen konnten, ward sie darüber froh, und im
halb mühseligen Gang durch die Pergeln, die von
Gräben und Dämmen gekreuzt waren, redete sie
weiter, wahllos, von den Kindern, vom Frühling,
vom Mond, der nun über den Ostbergen auf-
stieg, und so kamen sie, fast ohne es zu merken,
weiter, immer weiter, und standen plötzlich vor
Marias Tor.

Hier schienen sie eine Weile zu zögern. Sie
standen unbeweglich und unentschlossen, so, als
käme nun wie eine jähe Woge die Besinnung
über die letztverrauscl>ten Stunden an sie heran,
und als wiese ein starker Arm hinauf zu den
Mauern des Hauses, vor dem sie zögerten, und

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Register
Julius Carben: Illustration zum Text "Hermes Prsychopompos"
Wilhelm Klemm: Hermes Psychopompos
 
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