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Brunnen : Das Märchen Moritz Müller-Liebenthal

Her ltzeimsWl,

Von Hugo Salus

Die ganze Oberfläche
der bewohnten Erde ist
mit Heimatsorten besetzt,
eine Heimat reiht sich an
die andere und, so un-
gleichmäßig auch diese
Oberfläche ausschaut, so
sehr angenehm bewohn-
bare Landschaften mit
unwirtlichen Gegenden,

Palmenhaine mit Wü-
sten, belebte Stromufer
mit ödem, ewigem Eise
abwechselu, überall ist die
Erde schön, denn überall
ist sie eine Heimat. Dar-
aus ergibt sich, daß es
ursprünglich bestimmbar
gar nichts allgeniein Schö-
nes geben kann; daß es
lächerlich lind vermessen
ist, wenn Gelehrte sich
bemühen, Gesetze für die
Schönheit zu suchen und
zu finden, da die Schlitz-
augen des Bewohners
von Tibet aufblitzen, wenn er an seine — uns öde
scheinende — Hochgebirgsheimat und fein nie ge-
waschenes Weib denkt, wie unser Angesicht leuchtet,
wenn wir, fern unserer Heimat, an ihre sanft-
bewegte Landschaft und die Frauen denken, deren
Liebreiz unsere Träume heiter gestaltet. Die
Schönheit ist gar nicht außerhalb unserer Emp-
findungen, sie ist in uns.

Und deshalb kann ich und will ich meinen
Wunsch nicht erfüllen und — obgleich ich schon
fünfunddreißig Jahre nicht mehr in meinem Ge-
burtsort war — will und kann ich nicht in meine
Heimat pilgern.

Aber was mich eigentlich daran hindert, das
ist ein Zauberer, aber ein guter, wie ich glaube,
der sich in den Tagen meiner Kindheit auf einem
Zettel an seiner Tür „heimatlicher Steinhändler"
nannte, und der nun, da ich mich entscheiden will,
ob ich nach meiner Heimat wandern soll oder nicht,
aus meiner Erinnerung auftaucht und den Zeige-
finger hebt, als wollte er sagen: „Vorsicht, junger
Herr, Vorsicht!" Denn er nannte uns Kinder
immer junger Herr.

Zch habe sicher die vollen fünfunddreißig Zahre
lang nicht mehr an ihn gedacht. Aber jetzt steigt
er plötzlich aus der Versenkung, wahrscheinlich,
weil er sich seltsamerweise „heimatlicher Stein-
Händler" nannte. Er hat in der Klostergasse ge-
wohnt, ich entsinne mich ganz genau des Häus-
chens, darin er wohnte, wie ich denn überhaupt
die ganze Stadt, in der ich die ersten zwölf Zahre
meines Lebens verträumt habe, in der ich ein
Kind war und alle Glückseligkeiten der Kindheit
erlebte, Gasse für Gasse, Haus für Haus in mei-
nen Gedanken wieder aufbauen kann, den Markt-
platz, der mir als der größte Platz der Welt er-
scheint, wenn ich die Augen schließe, schöner als
der Platz vor dem Petersdome oder der Rathaus-
platz in Brüssel, die lange Gasse, in welcher die
in meiner Erinnerung riesigen Geschäftshäuser von
Onkel Heinrich und Eduard lagen, das Papier-
geschäft von Onkel Anton und die Zuckerbäckerei
von Vetter Karl — wer war in dem kleinen
Landstädtchen nicht mein Onkel oder Vetter! —
die Frauengasse, die so unglaublich steil gegen den
Spitzberg emporstieg und in der die Häuser trotz-

Gewitter

Zn den Vorhang, schwarz und schwer,
Reißt der Blitz den Flammenspalt,
Dröhnend über Strand und Meer
Eine Riesenorgel hallt. . .

Aus der Erde Finsternis
Schau' ich durch den Flammenriß
Zn die Welten meiner Träume;

Durch die lichtgeweihten Räume
Jauchzt des Herzens Hochgesang
Zu der Orgel Donnerklang!

Rarl Berner

*

Lied

„O Lieb, nun sprich zu mir,

O Lieb, nun sprich zu mir!

Halt fest mein Herz in dieser Stund, halt fest!
Steht einer vor der Tür,

Der will was Arges hier
Und lauert, daß dein Auge mich verläßt."

„Hier geht kein Weg herein,

Die Kammer wär zu klein,

Das Licht im Kreise brennt nur uns und sich.
Neig deine Stirne her —

Ging doch mein Herz nicht mehr,

Wär nicht die Welt allein für dich und mich."

„Zch lieg in tiefer Ruh
Hör deinem Herzen zu,

Schlich einmal einer an der Tür vorbei?
Wie ist doch alles still,

Und was ich bin und will,

Das weiß ich selig" — „Wissen selig zwei."

Emil Lucka

dem ganz gerade und
ruhig in die Luft ragten

— es gab sogar ein zwei-
stöckiges Haus in dieser
Gasse, den Stolz meiner
Heimat! — und die Kreuz-
gasse, o, die Kreuzgasse,
in der wir wohnten, Gott,
jedes Fenster in dieser
Gasse hat für mich seine
Geschichte, jeder Pflaster-
stein fängt mir wieder zu
erzählen an, wie da-
mals, da diese Gasse als
erste in meinem Heimats-
städtchen gepflastert wurde,
jeder Name über den La-
dentüren berichtet mir eine
sehr ausführliche Fami-
liengeschichte; vor allen
den vielen Häusern dieser
Gasse — seltsam, daß ich
jetzt nur zehn Häuser zu-
sammenzühlen kann und
daß sie mir doch so un-
glaublich lang vorkommt!

— überall stehen Bu-
ben, die meine Gespie-
len und Freunde oder
meine Kampfgenossen und

Feinde sind, Richard, der so wunderschön mit Blei-
stift und Pinselchen hantierte, und Heini, der
Fleischhauerssohn, in dessen Stall wir, mein Bruder
und ich, unsere Kaninchenzucht aus zwei lebenden
Kaninchen betrieben; und mitten unter den Buben
steht Emma, meine Braut, die ein wenig sommer-
sprossig, dafür aber ganz rothaarig war, mit der
ich immer Hand in Hand wandelte, weil ich sie
ja ganz bestimmt einmal heiraten wollte: sie hat
unser Gelöbnis gebrochen und ist eine sehr brave
Gerbersfrau geworden, denn sie war viel, viel
früher als ich heiratsfähig und ich hätte später ganz
gut ihre Tochter heiraten können! Und dann taucht
auf dem Topfmarkt, gegenüber unserer Wohnung,
der lange Wilhelm auf, der den Hut quer auf den
Kopf setzte, die Arme verschränkte und sich dann
Napolium nannte, und der Schnapshändler Schiffer,
der mich danmls beim Kragen erwischte, als ich
der junge David aus der biblischen Geschichte war,
eine Schleuder besaß und eine Fensterscheibe an
seinem Hause eingeworfen hatte; ich weiß noch,
als wäre es heute, wie ich mich danmls zur Erde
bückte und einen Kieselstein vorwies, als Gegen-
beweis, daß ich gar nicht geschleudert haben könne,
da ich doch noch den Stein in Händen hielt! Und
dann blitzt der geliebte Fluß in meiner Erinnerung
auf, in dem wir badeten, der mir unendlich breit,
ein richtiger Strom, erscheint uud den ich noch heute
gegen die abscheuliche Verkleinerungssucht der
Leute verteidige, die ihn ein Flüßchen oder gar
einen Bach nennen! Solch eine Vermessenheit!
Was sind alle Brücken der Welt gegen die Brücke
über diesen Heimatsfluß, darauf ein sehr gequälter
heiliger Nepomuk steht lind von der sich sogar ein-
mal ein Mädchen, die Müller Anna, ins Wasser
geworfen hat; es war nur zu seicht, das Wasser,
aber über die Ursache ihres Selbstmordversuches
wurde viele Wochen lang getuschelt. Und dort
drüben erhebt sich das Kloster mit dem dunklen
Kreuzgang um den verwilderten Garten, das
Kloster, darin das Gymnasium war! Warunl
habe ich Narr so viele Kirchen und Klöster auf
nieinen Reisen besucht und warum schreibt niemand
über dieses Kloster meiner Heimat, das ja doch
einzig und unerreichbar schön in meinen, Gedächtnis
steht! Und warum, um Gotteswillen, warum

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Register
Karl Berner: Gewitter
Hugo Salus: Der Heimatstein
Moritz Müller-Liebenthal: Brunnen: Das Märchen
Emil Lucka: Lied
 
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