Nr. 27
JUGEND
1912
aus der Tür. „Jetzt wollen wir speisen, Daniel"
sagte er noch zur Katze.
Da stand ich aber schon im Sonnenscheine
in der Klostergasse und hielt den Heimatstein mit
meinen Fingern umklammert. Ich lief auf den
nahen Friedhof bei der Frauenkirche, dort setzte
ich mich auf eines der Grabhügelchen, ich packte
meinen Schatz aus seiner Hülle und versenkte
mich lang, lang in seine Betrachtung. Von dort
oben kann man die ganze Stadt sehen, die vielen
Dächer und den Rathausturm, den Fluß und
sogar die Dörfer der Umgebung in den Feldern,
die Halbkugel des Kahlenberges und auf der
andern Seite den bewaldeten Spitzberg. Und ich
könnte nun sagen, daß ich das alles durch den
Heimatstein erblickt habe. Aber ich erinnere mich
nicht daran und weiß auch nicht, ob mir im An-
blicke meines Heinmtstädtchens, der Heimatstein
überirdisch zu funkeln begann.
Ich weiß es wirklich nicht. Aber ich glaube,
ich habe die Landschaft meiner Heimat erst zu
sehen begonnen, als wir schon lange von dort
weggezogen waren; denn Kinder sehen keine
Landschaften. Und wenn sich die Menschen später
einbilden, daß sie ihre Heimat so lieben müssen,
weil es auf der ganzen Welt keine lieblichere
Landschaft gebe als eben die heimatliche, dann
lieben sie doch nur ihre Erinnerungen an ihre
Jugendzeit, ihre Träume und die Märchen, die
ihre erwachende Seele in diese Landschaft ge-
dichtet hat.
Ich weiß es nicht; ich weiß auch nicht, wie
lang ich den Heiinatstein noch aufbewahrt habe.
Aus meiner Heimat ist niemals ein Echo zu mir
gedrungen, ich habe dort nie ein Echo geweckt.
Die Bürger dort sind, wie ich manchmal in den
Zeitungen lese, große Politiker, denn die Be-
schäftigung nüt der Politik des Tages oder der
Stunde ist für den Schuster die geistige Betäti-
gung, bei der er zu schieben glaubt, indes er ge-
schoben wird. Ich habe den Heimatstein gewiß
in der größeren Stadt, in die wir übersiedelten,
vergessen. Jetzt erst habe ich mich an ihn und
den Zauberer, von dem ich ihn erstanden habe,
erinnert; aber jetzt will ich auch nicht mehr in
meine Heimat wallen.
Denn jetzt, da ich diese Zeilen niedergeschrieben
habe, ist es mir, als ob die kleine deutsche Stadt,
die ich als meine Heimat liebe, vielleicht gar nicht
wirklich vorhanden sei, als lebe sie nur in meiner
Einbildung. Und in diese Heimat kann ich ja
immer wieder heimkehren. Und weil ich mich
heute an den Zauberer aus der Klostergasse —
— ja, er war ganz bestimmt ein guter Zauberer!
— erinnert habe, so will ich fürderhin, wenn ich
meine empfindsame Stunde habe, mich rück-
erinnernd auf ein Hügelchen des Frauenkirch-
hofes setzen, ich will den Heimatstein in die Hand
nehmen und will ihn für einen Edelstein halten ..
Streit
Ich sage blau und du sagst rot! —
Drum schlagen wir uns beide tot!
Und wenn wir einmal auferstehn
Und uns lebendig wiedersehn:
Dann sagst du blau und ich sag rot:
Dam: schlagen wir uns wieder tot! —
Und also mag der schöne Streit
Durch alle Zeit und Ewigkeit
Behaglich weitergehn!
Max Hayek
weiblich
Von Larl Bulcke
Er stand vor den: Spiegel seines Iunggesellen-
zimmers, noch leidlich jung und unternehmungs-
lustig, und machte sich zun: Ball fertig. Hinter
ihm stand Fräulein Böttcher, seine alte Wirtin,
hielt die Lainpe empor und hatte Ballfieber. Der
Hemdkragen wollte nicht schließen, auf dem linken
Frackärmel fand sich ein stecknadelgroßer Fleck
und Fräulein Böttcher jammerte, „so" könne er
nicht gehn. Schließlich waren die Gummischuhe
nicht zu finden. Ob er auch sein Taschentuch
nicht vergessen habe, und ob er auch die Börse
und die Hausschlüssel und die weißen Handschuhe
habe? Ja, ja, es war alles da. Als er die
Treppe hinunterging, merkte er, daß er sich um
eine halbe Stunde verspätet hatte.
Die Wohnung der Gastgeber lag weit draußen
vor der Stadt. Eine Droschke war nicht zu finden;
die Wege waren von: Tauwetter aufgeweicht und
unpassierbar. So nmßte er die kleine langsan:e
Pfucheisenbahn, ein trauriges, holperndes Vehikel,
benützen. Da das Geleise mit einen: großen Hin-
weg nach seinen: Ziele führte, berechnete er, daß
er nicht eine halbe, sondern eine ganze Stunde
zu spät kommen würde und war darum nicht
eben rosiger Laune.
Er setzte sich, den Mantelkragen hochgeschlagen,
die Beine weit vorgestreckt in eine dunkle Ecke
des Wagens. Er war der einzige Fahrgast.
Nach ein paar Minuten steigen an einer
Haltestelle vier Dainen in die Pfuchbahn. Drei
alte Damen und eine junge. Sie trugen Theater-
mäntel und Shawls; die junge Dame hatte ein
weißes Ballkleid an. Sie hatte das Kleid bis
über die Kniee aufgeschlagen und nian sah den
weißen gestickten Unterrock. Niedlich. Er wandte
das Gesicht ab, denn er besorgte, daß die Damen
zu derselben Festlichkeit geladen waren, und
war sich im ersten Augenblick nicht klar, ob er
die Damen kannte oder nicht. Doch nein: Er
hörte gleich, daß die Damen nach einer anderen
Straße fuhren.
Die Damen waren sehr glücklich, noch die
Pfuchbahn erreicht zu haben. Es sei keine Freude,
eine Mertelstunde im Tauwetter auf offener Land-
straße in dünnen Kleidern zu stehen und zu war-
ten. Man könne sich auf den Tod erkälten.
„Bist Du auch warm, Trudchen ?" fragte Mamachen.
Trudchen sah mit dunkelbraunen Augen aus
ihrer dicken Federboa, zog den grauwollnen The-
atermantel fest um die Brust und erklärte: „Ganz
warm, Mamachen."
Trudchen war hübsch. Sie hatte nüt einen:
frischen Blick den Herrn in seiner Ecke gesehen
und versicherte ihm nüt einem zweiten schnellen
Blick, daß sie mit seiner Gesellschaft nicht unzu-
Otto Wirsching (Nürnberg)
776
frieden sei. Er erwiderte den Blick so höflich wie
möglich.
Das Mamachen hatte weißes gebranntes Haar
und ein rosiges gefaltetes Gesicht. Sie sah wie
ein liebenswürdiger alter Pastor in Damenkleidern
aus, lächelte grundlos und war ziemlich aufgeregt.
Auch die beiden anderen alten Damen, die Schwe-
stern von Mamachen zu sein schienen, waren auf-
geregt. Es stellte sich heraus, daß die Schneiderin
erst vor einer halben Stunde das Kleid für Trud-
chen geschickt hatte und daß die Friseuse erst kurz
nach sieben gekommen war. „Es passiert immer
etwas, wenn man es eilig hat," sagte Manmchen.
„Ach Gott."
Mamachen nahm aus ihrem Pompadour ein
Taschentuch, breitete es auf zwei ausgestreckten
Fingern aus, un:klan:merte dann mit diesen Fin-
gern fest die dicke Nase, prustete mißtönig und
schneuzte sich dann so heftig, daß der Herr fürchtete,
ihr ganzer Perstand würde durch die Nase heraus-
fliegen. So. Nun war sie wieder glücklich. Sie
knüllte das Taschentuch in den Pompadour, streckte
sich vor und legte die Hände behaglich auf den
Schoß.
Auch jede der drei anderen Damen hatte einen
Pompadour. Trudchen hatte den größten. Darin
steckten ihre Ballschuhe. Der Herr sah darauf
hin und infolgedessen entstand eine Verlegenheits-
pause. Trudchen warf ihn: wieder einen Blick
zu. Sie sind langweilig, n:ein Herr. Sie sah
schnell wieder weg und fragte Tante Elli, ob
Onkel Max auch nicht vergessen habe, daß an:
Freitag Abonnementsvorstellung „im Thalia"
wäre. Nein, Tante Elli hatte Onkel Max natür-
lich erinnert. Trudchen möge doch morgen nach
der Malstunde einmal vorsprechen. Tante Elli,
die nach einer Klavierlehrerin aussah, bekan: plötz-
lich einen Schreck. „Merthelchen, Du hast doch den
Hausschlüssel nicht vergessen?" Tante Merthelchen
klopfte zur Antwort ruhig auf ihren Pompadour
und die Schlüssel klirrten. Sie war in ihrem
früheren Leben einmal ein Kanarienvogel gewesen.
Er saß in seiner Ecke und döste. Eine kleine
Petroleumlainpe beleuchtete die fünf Personen nüt
stillem Humor. Der Wagen rumpelte und hum-
pelte vorwärts.
Trudchen sah mit zusammengepreßten Knieen
geradeaus, Merthelchen und Tante Elli tuschelten,
und das Manmchen fuhr fort, grundlos zu lächeln.
Da trat der Schaffner ein, — er hatte bis jetzt
draußen auf der Plattform einen Cigarrenstummel
geraucht —, legte die Hand an den Schirn: der
Mütze und holte die Fahrscheine hervor. Ma-
nmchen raffte ihren Pompadour auf und verlangte
vier Billets. Der Schaffner löste die Fahrscheine
von seinem Block, knipste und breitete sie zwischen
Daumen und Zeigefinger fächerförnüg aus. Er
nahm eine höfliche Haltung an und wartete auf
ein Trinkgeld.
Manmchen kramte ungeduldig in ihren: Pom-
padour, die drei anderen Damen sahen uninteressiert
vor sich hin. Der Schaffner trat höflich zur Seite.
„Kinder, ich glaube, ich habe mein Portemonnaie
vergessen", sagte Mamachen aufgeregt. „Ich kann
das Portemonnaie doch nicht finden . . es ist doch
nicht da. . es ist doch ganz unglaublich . ." Um
den anderen zu beweisen, daß es wirklich nicht
da war, kranüe sie schnell ihren ganzen Pompa-
dour aus. Da Trudchen sich plötzlich quer setzte,
konnte der Herr den Inhalt des Pompadours
leider nicht erkennen.
„Wie schrecklich", sagte Merthelchen, „nein, wie
peinlich. Mein Gott."
„Es ist wirklich nicht da. . Trudchen, ich
glaube, ich habe es auf den: Waschtisch liegen
lassen. Trudchen, ich hatte Dir doch noch fünf-
zehn Pfennig gegeben, als das Kleid kan: . ."
Ellichen sah sie ängstlich an. „Lenchen, Du
hast es doch nicht etwa unterwegs verloren? Viel-
leicht ist es beim Einsteigen in die Bahn in den
Schnee gefallen. Oder Du hast es auf den Stufen
verloren. . Herzchen, sag, war viel drin?"
JUGEND
1912
aus der Tür. „Jetzt wollen wir speisen, Daniel"
sagte er noch zur Katze.
Da stand ich aber schon im Sonnenscheine
in der Klostergasse und hielt den Heimatstein mit
meinen Fingern umklammert. Ich lief auf den
nahen Friedhof bei der Frauenkirche, dort setzte
ich mich auf eines der Grabhügelchen, ich packte
meinen Schatz aus seiner Hülle und versenkte
mich lang, lang in seine Betrachtung. Von dort
oben kann man die ganze Stadt sehen, die vielen
Dächer und den Rathausturm, den Fluß und
sogar die Dörfer der Umgebung in den Feldern,
die Halbkugel des Kahlenberges und auf der
andern Seite den bewaldeten Spitzberg. Und ich
könnte nun sagen, daß ich das alles durch den
Heimatstein erblickt habe. Aber ich erinnere mich
nicht daran und weiß auch nicht, ob mir im An-
blicke meines Heinmtstädtchens, der Heimatstein
überirdisch zu funkeln begann.
Ich weiß es wirklich nicht. Aber ich glaube,
ich habe die Landschaft meiner Heimat erst zu
sehen begonnen, als wir schon lange von dort
weggezogen waren; denn Kinder sehen keine
Landschaften. Und wenn sich die Menschen später
einbilden, daß sie ihre Heimat so lieben müssen,
weil es auf der ganzen Welt keine lieblichere
Landschaft gebe als eben die heimatliche, dann
lieben sie doch nur ihre Erinnerungen an ihre
Jugendzeit, ihre Träume und die Märchen, die
ihre erwachende Seele in diese Landschaft ge-
dichtet hat.
Ich weiß es nicht; ich weiß auch nicht, wie
lang ich den Heiinatstein noch aufbewahrt habe.
Aus meiner Heimat ist niemals ein Echo zu mir
gedrungen, ich habe dort nie ein Echo geweckt.
Die Bürger dort sind, wie ich manchmal in den
Zeitungen lese, große Politiker, denn die Be-
schäftigung nüt der Politik des Tages oder der
Stunde ist für den Schuster die geistige Betäti-
gung, bei der er zu schieben glaubt, indes er ge-
schoben wird. Ich habe den Heimatstein gewiß
in der größeren Stadt, in die wir übersiedelten,
vergessen. Jetzt erst habe ich mich an ihn und
den Zauberer, von dem ich ihn erstanden habe,
erinnert; aber jetzt will ich auch nicht mehr in
meine Heimat wallen.
Denn jetzt, da ich diese Zeilen niedergeschrieben
habe, ist es mir, als ob die kleine deutsche Stadt,
die ich als meine Heimat liebe, vielleicht gar nicht
wirklich vorhanden sei, als lebe sie nur in meiner
Einbildung. Und in diese Heimat kann ich ja
immer wieder heimkehren. Und weil ich mich
heute an den Zauberer aus der Klostergasse —
— ja, er war ganz bestimmt ein guter Zauberer!
— erinnert habe, so will ich fürderhin, wenn ich
meine empfindsame Stunde habe, mich rück-
erinnernd auf ein Hügelchen des Frauenkirch-
hofes setzen, ich will den Heimatstein in die Hand
nehmen und will ihn für einen Edelstein halten ..
Streit
Ich sage blau und du sagst rot! —
Drum schlagen wir uns beide tot!
Und wenn wir einmal auferstehn
Und uns lebendig wiedersehn:
Dann sagst du blau und ich sag rot:
Dam: schlagen wir uns wieder tot! —
Und also mag der schöne Streit
Durch alle Zeit und Ewigkeit
Behaglich weitergehn!
Max Hayek
weiblich
Von Larl Bulcke
Er stand vor den: Spiegel seines Iunggesellen-
zimmers, noch leidlich jung und unternehmungs-
lustig, und machte sich zun: Ball fertig. Hinter
ihm stand Fräulein Böttcher, seine alte Wirtin,
hielt die Lainpe empor und hatte Ballfieber. Der
Hemdkragen wollte nicht schließen, auf dem linken
Frackärmel fand sich ein stecknadelgroßer Fleck
und Fräulein Böttcher jammerte, „so" könne er
nicht gehn. Schließlich waren die Gummischuhe
nicht zu finden. Ob er auch sein Taschentuch
nicht vergessen habe, und ob er auch die Börse
und die Hausschlüssel und die weißen Handschuhe
habe? Ja, ja, es war alles da. Als er die
Treppe hinunterging, merkte er, daß er sich um
eine halbe Stunde verspätet hatte.
Die Wohnung der Gastgeber lag weit draußen
vor der Stadt. Eine Droschke war nicht zu finden;
die Wege waren von: Tauwetter aufgeweicht und
unpassierbar. So nmßte er die kleine langsan:e
Pfucheisenbahn, ein trauriges, holperndes Vehikel,
benützen. Da das Geleise mit einen: großen Hin-
weg nach seinen: Ziele führte, berechnete er, daß
er nicht eine halbe, sondern eine ganze Stunde
zu spät kommen würde und war darum nicht
eben rosiger Laune.
Er setzte sich, den Mantelkragen hochgeschlagen,
die Beine weit vorgestreckt in eine dunkle Ecke
des Wagens. Er war der einzige Fahrgast.
Nach ein paar Minuten steigen an einer
Haltestelle vier Dainen in die Pfuchbahn. Drei
alte Damen und eine junge. Sie trugen Theater-
mäntel und Shawls; die junge Dame hatte ein
weißes Ballkleid an. Sie hatte das Kleid bis
über die Kniee aufgeschlagen und nian sah den
weißen gestickten Unterrock. Niedlich. Er wandte
das Gesicht ab, denn er besorgte, daß die Damen
zu derselben Festlichkeit geladen waren, und
war sich im ersten Augenblick nicht klar, ob er
die Damen kannte oder nicht. Doch nein: Er
hörte gleich, daß die Damen nach einer anderen
Straße fuhren.
Die Damen waren sehr glücklich, noch die
Pfuchbahn erreicht zu haben. Es sei keine Freude,
eine Mertelstunde im Tauwetter auf offener Land-
straße in dünnen Kleidern zu stehen und zu war-
ten. Man könne sich auf den Tod erkälten.
„Bist Du auch warm, Trudchen ?" fragte Mamachen.
Trudchen sah mit dunkelbraunen Augen aus
ihrer dicken Federboa, zog den grauwollnen The-
atermantel fest um die Brust und erklärte: „Ganz
warm, Mamachen."
Trudchen war hübsch. Sie hatte nüt einen:
frischen Blick den Herrn in seiner Ecke gesehen
und versicherte ihm nüt einem zweiten schnellen
Blick, daß sie mit seiner Gesellschaft nicht unzu-
Otto Wirsching (Nürnberg)
776
frieden sei. Er erwiderte den Blick so höflich wie
möglich.
Das Mamachen hatte weißes gebranntes Haar
und ein rosiges gefaltetes Gesicht. Sie sah wie
ein liebenswürdiger alter Pastor in Damenkleidern
aus, lächelte grundlos und war ziemlich aufgeregt.
Auch die beiden anderen alten Damen, die Schwe-
stern von Mamachen zu sein schienen, waren auf-
geregt. Es stellte sich heraus, daß die Schneiderin
erst vor einer halben Stunde das Kleid für Trud-
chen geschickt hatte und daß die Friseuse erst kurz
nach sieben gekommen war. „Es passiert immer
etwas, wenn man es eilig hat," sagte Manmchen.
„Ach Gott."
Mamachen nahm aus ihrem Pompadour ein
Taschentuch, breitete es auf zwei ausgestreckten
Fingern aus, un:klan:merte dann mit diesen Fin-
gern fest die dicke Nase, prustete mißtönig und
schneuzte sich dann so heftig, daß der Herr fürchtete,
ihr ganzer Perstand würde durch die Nase heraus-
fliegen. So. Nun war sie wieder glücklich. Sie
knüllte das Taschentuch in den Pompadour, streckte
sich vor und legte die Hände behaglich auf den
Schoß.
Auch jede der drei anderen Damen hatte einen
Pompadour. Trudchen hatte den größten. Darin
steckten ihre Ballschuhe. Der Herr sah darauf
hin und infolgedessen entstand eine Verlegenheits-
pause. Trudchen warf ihn: wieder einen Blick
zu. Sie sind langweilig, n:ein Herr. Sie sah
schnell wieder weg und fragte Tante Elli, ob
Onkel Max auch nicht vergessen habe, daß an:
Freitag Abonnementsvorstellung „im Thalia"
wäre. Nein, Tante Elli hatte Onkel Max natür-
lich erinnert. Trudchen möge doch morgen nach
der Malstunde einmal vorsprechen. Tante Elli,
die nach einer Klavierlehrerin aussah, bekan: plötz-
lich einen Schreck. „Merthelchen, Du hast doch den
Hausschlüssel nicht vergessen?" Tante Merthelchen
klopfte zur Antwort ruhig auf ihren Pompadour
und die Schlüssel klirrten. Sie war in ihrem
früheren Leben einmal ein Kanarienvogel gewesen.
Er saß in seiner Ecke und döste. Eine kleine
Petroleumlainpe beleuchtete die fünf Personen nüt
stillem Humor. Der Wagen rumpelte und hum-
pelte vorwärts.
Trudchen sah mit zusammengepreßten Knieen
geradeaus, Merthelchen und Tante Elli tuschelten,
und das Manmchen fuhr fort, grundlos zu lächeln.
Da trat der Schaffner ein, — er hatte bis jetzt
draußen auf der Plattform einen Cigarrenstummel
geraucht —, legte die Hand an den Schirn: der
Mütze und holte die Fahrscheine hervor. Ma-
nmchen raffte ihren Pompadour auf und verlangte
vier Billets. Der Schaffner löste die Fahrscheine
von seinem Block, knipste und breitete sie zwischen
Daumen und Zeigefinger fächerförnüg aus. Er
nahm eine höfliche Haltung an und wartete auf
ein Trinkgeld.
Manmchen kramte ungeduldig in ihren: Pom-
padour, die drei anderen Damen sahen uninteressiert
vor sich hin. Der Schaffner trat höflich zur Seite.
„Kinder, ich glaube, ich habe mein Portemonnaie
vergessen", sagte Mamachen aufgeregt. „Ich kann
das Portemonnaie doch nicht finden . . es ist doch
nicht da. . es ist doch ganz unglaublich . ." Um
den anderen zu beweisen, daß es wirklich nicht
da war, kranüe sie schnell ihren ganzen Pompa-
dour aus. Da Trudchen sich plötzlich quer setzte,
konnte der Herr den Inhalt des Pompadours
leider nicht erkennen.
„Wie schrecklich", sagte Merthelchen, „nein, wie
peinlich. Mein Gott."
„Es ist wirklich nicht da. . Trudchen, ich
glaube, ich habe es auf den: Waschtisch liegen
lassen. Trudchen, ich hatte Dir doch noch fünf-
zehn Pfennig gegeben, als das Kleid kan: . ."
Ellichen sah sie ängstlich an. „Lenchen, Du
hast es doch nicht etwa unterwegs verloren? Viel-
leicht ist es beim Einsteigen in die Bahn in den
Schnee gefallen. Oder Du hast es auf den Stufen
verloren. . Herzchen, sag, war viel drin?"