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Nr. 28

JUGEND

1912

„ach unten ziehn und überall festhalten, daß ich
nich wieder nach oben flutsch — wißt Ihr, wie
auf 'n Rostocker Pingstmarkt der lütte Düwel
in die Glasröhr.

Ra, ich komm denn auch richtig in die Gast-
ftüb 'rin „nb — nu hört — da sitzt Kunkelsd) auf
'n Stuhl in 'n halwen Negileh und hat 'n fweres
ifern Bügeleisen auf ’rt Schooß und fuchtelt mit 'n
Handbesen in die Luft 'rum — ich sag all wieder
Luft — und ich mein', sie is verrückt geworden.

Da sah das aber auch bull aus in den: Krug!
An der Deck' lagen leerigte Buddeln und aller-
hand Geräte und Stühl'. Die Luft _ war hier
noch viel dicker wie oben und sah aus wie Selters-
wasser und man mußt sich die einzelnen Blasen
greifen und wie Snuwtobak in die Ras' stoppen,
wenn man nich sticken wollt. Aus 'n Kachelofen-
sims saßen wol 'n Dutzend Duwen und Sparling,
auch 'n Bookfink. Asiens wie ins Märchen, wo
in gehext wird.

Kunkelfch! sag ich was bedeut't dat all? Sind
wir behext?

,Min leiw Kaptaihnsi sagt Kunkelsch, ,das
geht allens natürlich zu. Dit is 'ne richtigen
Doppelnewel von die swerste Art, wie er alle
hunnert Jahr vielleicht man einmal kömmt. Wir
hatten gestern Abend all 'ne ziemliche dicke Newel
und nu hat der Nordost uns noch 'ne fwere Newel
von Swäden rübergeweht und die beiden Newels
haben sich nu in 'n anner versackt und nu is
dat 'ne richtige Doppelnewel, dat is beinah wie
schieres Wasser. Geh man wieder nach baben
und leg dich im Bett. In zwei Stunden wird
wol alles vorbei fein. Hei is swer, de' versackt
sich snell wedder. — Willst rut! du Aas si rief sie
denn und füchtelt nüt dem Besen nach das Fenster,
wo zwei Ruten in kaput waren. — -Kaptaihnh
sagt sie noch, sich muß auf die freßmäuligen Kabel-
jaus auch aufpassen, die haben mich all die beiden
Fenster ingerannt. Sie sind nämlich heut morgen
doll achter (hinter) die Sparling und Duwen
her und die haben sich denn all ne ganze Mass'
hier reingeflücht. Wenn nu so 'n Freßbeest
kömmt, denn slag ich ihm mit 'n Besen wieder
raus, sonst rämmsen sie mich noch die teuern
Spiegel entzwei mit ihre dicken Köpp!‘ —

Denkt Euch! — Muß das oll Mensch die
Fisch aus 'n Zimmer jagen wie an 'n Sonnner-
tag die Fliegen und setzt sich wegen der Aufdrift
'n Plättisen auf 'n Schooß!

Na, so snell und leicht bin ich ja noch nie
'ne Trepp raufgekommen. Ich geh oder swimm
ja denn auch richtig wieder in mein Bett rein
und slaf noch so 'n Stundener vier, trotzdem mid)
das Wasservieh noch öfters gegen die Fenster
rümmst. —

Wie id) aufwach', fdjeint mid) die Helle Sonn'
ins Fenster und is allens klar und dröd) (trocken),
so daß ich mir verwunnert die Augen reib'. Bon
den Doppelnewel keine Spur mehr zu sehen!
Nur die Rumflasch liegt auf der Erd, wo ich sie
in die Eck' gesmissen hatte. Id) geh denn runter
zu die Ollsch'.

,Na? utslapen Kaptaihn?* fragt sie mit ihr
olles gründliches Gesid)t und griflacht so vor sich
hin, ,'t is elf Uhr und nu braud) ich did) wol
keinen Kaffich mehr zu kod)en. Wo wär das
mit 'ne lütt' Kalwskarmenad', oder soll id) did)
'n paar Duwen braden?*

Kunkelsd), dat sind wohl weld)e von die Art,
wo Hecke morgen die Kabeljaus invalid gebissen
haben, in den Doppelnewel? fragt id), äwerst da
wurd' sie krätig und denn redt sie ümmer ge-
wöhnliches Platt.

,Badder, wat redt hei vör dumm Tüg? Hei
is wohl nod) duhn (betrunken) von gistern Awend?
Oder will hei mi oll Fru brüden? (zum Besten
haben.) In de ganze Ostsee giwwt dat keinen
Kabeljauswanzsi

Kunkelsd), sag id), Kabeljau hin, Kabeljau
her, nimm mid) das nich vor übel, aber das
Haus is verhext! — Wie war denn das mit
den Doppelnewel? frag ich, und lauer ihr so 'n
bißd)en von unten an.

,Hei mad) sid) sd)ön wat tausamen drömt (ge-
träumt) hewwen hüt (heute) Nad)t, dat hei sitzt
nod) nid) ganz klar in 'n Kopp is, und nu möt
(muß) min ihrlich Hus verhext finb !£ sagt sie
und is ganz obstinat.

Ick weit, wat ick weit, sag id) und bestell
mid) 'ne Karmenad und 'ne lütte Grog.

Meine Freund! — Id) soll duhn gewesen
- sein? Soviel Grog hat das all seit zwanzig
kalte Winter nid) mehr gegeben, üm Käpten
Bohnsack duhn zu machen! — Und träumt soll
ich heben? — Id) geträumt? — Wo doch die
leere Rumbuddel heut nwrgen nod) auf die Erd
lag? — Tja! — die leerigte Buddel noch auf
die Erd lag?"

„Die Sach is mid) ganz klar," sagte Käpten
Bratbors. „Die Ollsch wollt dod) nid) zugeben,
daß dir das in ihrem Haus' passiert is, von
wegen dem Remoneh! — Äwerst Glück hast du
damals doch gehabt, Baddermann. Denk did)
bloß mal das Malöhr, wenn nu noch Frost dazu
gekommen wär und der Dopelnebel wär oben-
wärts zugefroren!"

„Denn wären wir ja wohl all tausamen ver-
sapen!" sagte Bohnsack.

„Die Gesd)id)t is dod) für 'ne Fachmann ganz
natürlid)," meinte Knarrmast, „aber wenn nu
noch einer verzählen tät, daß sie oben auf den
Newel Kahn gefahren hätten, denn sag id): dat
sünd utgestunkne Lägen!"

„Tja! Tja" — „Tja, Tja" — „Tja, Tja!"

Das Pflegekind

Wenn es am Tische trank und aß,

Bei seinen neuen Eltern saß,

Da floß ein rätselhaftes Licht
Bon seinem glatten Angesicht.

Die Augeir eines fremden Maitns
Erftackerten in jungem Glanz.

Der Vater dieses Kindes schien
Ernst in die Stube einzuziehn.

Da wurden alle dumpf beklemmt
Bon einer tiefgeheimen Kraft.

Das Kind saß staunend, kühl und fremd
Und blickte starr und puppenhaft.

Arthur Silbergleit

Der Fall der Madame y.

Von Alexander Castcll

Der Fall der Madame H. ist nid)t nur um
seiner Kuriosität willen geeignet, eine Mehrzahl
von Menschen nad)denklid) zu stimmen, sondern
es liegt in ihm, besonders in der bluteinfachen
Tatsächlichkeit, in der er sich abspielte, eine etwas
groteske Art paradoxer Lebensweisheit, die so-
gar einer scheuen und unterdrückten Tragik nicht
entbehrt. Dennoch wird man im Folgenden nid)t
große und verblüffende Ereignisse erfahren, sondern
nur einen Ausschnitt aus dem Leben einer einfadien,
bürgerlichen und bescheidenen Frau betrachten, die
an sid) weder den Wunsch nod) die Leidenschaft
hätte, eine weithin sichtbare Rolle zu spielen.

Im Jahre 1908 vermählte sid) Marie Anne
Leonard, Tod)ter des M. Vincent Leonard, An-
gestellten der 8ociets 6enerals, mit M. Martin
Huet, einem Angestellten derselben Kompagnie. M.
Vincent Leonard hatte mit seinem Sd)wiegersohn
etlid)e Jahre im selben Bureau, am selben Pult
gearbeitet und in ihm während dieser Zeit einen tüch-
tigen und sparsamen Mensd)en kennen gelernt,
der sich schon früh zu einer sehr achtbaren Stellung
emporgearbeitet hatte und der so alle Eigenschaften
besaß, die sid) der sehr auf das Praktische be-
dadste Pariser Kleinbürger für einen Schwieger-
sohn erwünsd)t. So war denn eine selbstverständ-
liche und kluge Ehe gesd)lossen worden. Marie
Anne liebte ihren Gatten nicht aus irgend einem
klaren, äußern Grunde, der etwa die Eigenschaften
seines Geistes oder Körpers betroffen hätte, aud)
nid)t aus einem tieferen mystischen Triebe, sondern
Martin Huet bedeutete für sie ein paar Jahre
lang einfach die Institution des Gatten, den man
zu schätzen hat, weil er eben als Person etwas
gesd)ätzt werden muß, was bei einer nid)t allzu
temperamentvollen Veranlagung der Frau und
einer Durchschnittsbegabung des Mannes, sogar
einer Pariserin nid)t besonders sd)wer fällt.

Der Haushalt war also im allgemeinen recht
glücklich. Kinder wurden keine geboren und die
beiden konnten die kleinen Vergnügen der Vor-
stadt in Muße genießen, an einem Tag der Woche
ins Theater und nad)her für eine Stunde ins Cafe
zum Konzert gehn und jeden Monat einmal an
einem Abend Gäste empfangen. Nid)ts hätte die
Harmlosigkeit dieses Ehepaares gestört, wenn sid)
nid)t Martin Huet, der jetzt Anfangs der Dreißig
stand, im Laufe der Jahre, dank der Pflege seiner
kleinen, praktisd)en Frau aus einem Durchschnitts-
junggesellen zu einem auffallend hübschen Manne
ausgewad)sen hätte, dem die Kokotten auf den
Straßen und in den Cafes Augen machten und auf
dem oftmals der träumerisd)e Blick eines jungen
Müdd)ens oder einer verheirateteil und libertinen
Dame ruhte.

Marie Anne en,Pfand diese,: Zustand zunäd)st
nicht ohne Stolz. Sie hätte aud) weiter nid)t an
eine Gefahr gedad)t, wenn nicht einer jener Zufälle,
die in solchen Umständen gerne eintreten, sie auf-
geklärt hätte.

Sie eilte eines Abends in der Dämmerung, in
der letzten Minute vor den, Diner nad) einer
Konditorei, um das Dessert einzukaufen, als ihr
Martin Huet, eine elegante, brünette Person am
Arm, in einer Nebenstraße begegnete, und ohne
sie zu sehn, gleid) einem OrandssiZneur, an ihr
vorbeischritt.

Sie war zu Tode ersd)rocken und außerdem
von so furd)tsamenr Charakter, daß sie es nie gewagt
hätte, ihm eine Szene zu nmd)en. Was ihr aber von
dem ganzen Vorfall in besonders demütigender Er-
innerung blieb, war nicht allein die Tatsad)e der
augensd)einlid)en Untreue ihres Gatten, sondern vor
allem der innere Grund dafür, den sie im Kontrast
ihres einfadien hausfraulichen Wesens und den,
pompösen Aufwand der Person erkannte. Sie
fühlte dabei den ewigen, für so viele Frauen
schmerzlichen Gegensatz zwisd)en ihrem, durd) das
normale Dasein bedingten bescheidenen Äußern

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Register
Alexander Castell (auch: Castel): Der Fall der Madame H.
Arthur Silbergleit: Das Pflegekind
Karl Itschner: Illustration zum Text "Das Pflegekind"
 
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