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Nr. 35

Ton, der sonst dem Freund am Ende wilder
Nächte eigen war, wenn ihn die Schönheit großer
Werke rührte; sprach:

„Klei mezzo del cammin di nostra vita
mi ritrovai per una selva oscura . .

Ich schlug die Augen auf; aber der mich be-
gleitete, trug die Züge des gramvoll wissenden
Dichters, der einst aus der Freske Signorellis
in Orvieto am Hellen Morgen zu mir gesprochen
hatte. Und ich faßte Mut und folgte dem hei-
ligen Wanderer.

Da sah ich sie alle, die sonst in heiterer Ge-
meinschaft manche Stunde besiegten, aber ohne die
Hülle der Fröhlichkeit, die welk und tot dalag,
wie das Geäst zu meinen Füßen. Da sah ich
diese Besten und Feinsten, deren Freundsdiaft
mir das Leben als retdjfte Gabe geboten hatte,
im Leide ihrer einsamen Nächte, wie sie ihre ge-
knechtete Menschlichkeit überfiel und mit teuflischer
Freude höhnte, sah sie, wie ihnen die lockenden
Weiten schöner Ziele winkten, um die sie alles
aufgaben, was sonst Jugend und Blüte bringt.
Id) sah, wie ihr Dasein ein vergeblid)er Kampf
war, ein Spiel, von Dämonen ersonnen und nur
ihnen zur Lust, ein Spiel, in dem nur das Ge-
meine gewann, weil es nicht zu verlieren wußte,
ein Spiel, in dem der leidvoll Erkennende aus-
harren mußte, sid) getreu und dem vor Ewigkeiten
verlorenen Bilde eines ewigen letzten Grundes.
Und dod) waren es die, um deren willen einzig
ich noch Mensch sein mochte und der Erde Früdste
genießen. Ihre teuren Gestalten umgaben mich
in bitterer Not, und id) schritt, ein sehend Ge-
wordener, durch Qualen und Hölle. Erhabene
Tote kamen aus der unendlid>en Öde des Wal-
des, Geister, deren Andenken mich überwältigte,
und von erbleichten Lippen rang sich die gräß-
lidje Eintönigkeit der grauen Klage.

Unaufhaltsam drängte der Führer zu einer
jähen Höhe. Hier stand eine kleine Kapelle,
deren Mauern gegen die Nacht bebten. Bläulich
flackerte eine Grabfackel vor dem Bilde des Erlösers.

„Heute ist er tot," sagte eine Stimme, und
es war die meines Freundes — „und die Ver-
dammten haben freien Weg. Aber nur Ver-
dammten dürfen sie erscheinen."

Ich erschrak. O nun erkannte ich, nun wußte
ich, daß einerlei Verdammnis ist im Tode wie
im Leben, und Güte und Größe ihr Zeichen; daß
alle Opfer nur Opfer sind, unser Tun und Leiden
ein Müssen, unsere Sehnsudst ein Adel und Fluch.
So lag es im Grauen dieser Karfreitagnacht. Ver-
geblid) denn alles, und Leid ohne Ende besiegelt
vom Anbeginn! Weh! Wehe! Wehe!

Der schrille Klang riß mich auf. Ich suchte
mich zurecht und fand mein Zimmer und das
Buch vor mir und die Vase;' langsam fand ich
das alles. Aber konnte es Traum gewesen
sein? ....

Der Ton der Klingel ward dringender. Nie-
mand in der Wohnung? So ösinete ich. Ein
Brief aus den Bergen. Die Freunde verlangten
nad) mir. Für das Fest wenigstens möge id)
der ihre sein.

Meine Blicke fielen auf die dunkle Lilie. Sie
war zu drohender Größe voll erblüht.

JUGEND

Sehnsucht

Die Sonne hat in tausend Flammengarben
Ihr letztes Licht versprüht; und hell und hoch
Wölbt sich der Himmel über blaue Täler,
Von zackigsteilen Höhen rings geengt.

Die Sterne blitzen auf; in ihrem Licht
Erglänzt ein Gletscherfeld in milder Bläue.
Der Wald gebiert die tausendstimmge Nacht,
Die sehnsuchtsvoll empor zum Himmel loht
Und seine letzte Klarheit zärtlich greift,

Um sie in ihrem Schoße tief zu bergen.
Ein müdes Rasten ringsum. Da und dort
Läßt sich ein Sternlein glitzernd niedergleiten
Und löscht in Schattenwogen flackernd aus.

Das ewig neue Schauspiel bannt

mein Denken

In seines Werdens hehren Zauberkreis.
Und dämmernd wird die Lehre in mir wach,
Die der Brahmane feinen Schülern kündet:
Vom Atman, dem Allew'gen, Großen, Einen,
Der alles Sein aus feinem Schoß entließ,
Zu dessen Einheit alles wiederkehrt,

So wie die Sterne bei der Sonne Aufgang
Erlöst in ihrem Lichte untergeh'n.

Wohl bist Du ich — bald bin

ich Du, o Atman!
Ein müder Pilger, kehr' ich heim zu Dir,
Bis Du in neues Leben mich entsendest.
Komm doch, Tod, und fäll die Schranke,
Die mich von dem Einen scheidet!

Sterben, modern? Der Gedanke
Ist nicht länger mir verleidet!

Jubelnd ruft das All mir zu:

„Tat tvam asi — das bist Du!"

Ernst Freißler

Alfred Rethel f

1912

Der Schwäne-erlaß

Die Geschichte einer Bekanntmachung.

Auf Grund amtlid)er Quellen
bearbeitet von Hermann Strauß-Olsen

Als im Jahre 1852 die Reaktion auch in
meiner Heimat Petzenhausen, der Residenz des
Fürstentums, siegreich gewesen war, herrschte am
Hofe Franz Ludewigs VII. große und bered)tigte
Freude. Man hatte sd)on genug Arger mit der
Affäre gehabt, denn die 48 er Revolution fand,
wie Alles in Petzenhausen, etwas später, nämlich
im Jahre 1850 statt und gab deswegen Anlaß
zu immer neuen Spöttereien. Diese Verspätungen
hatten aber auch ihr Gutes. Das Petzenhausener
Ministerium war lange gewohnt, sid) genau die
Berliner Regierung zum Muster zu nehmen. Das
war bequem und für alle Dummheiten galt die
Entschuldigung: Ja aber in Berlin haben fie’s
gerade so gemacht. Aus diesem Grunde machte
man auch im Fürstentum eine Reaktion, natur-
gemäß etwas verspätet. Sie war aud) entschieden
schwerer durchzuführen als die Berliner, denn
eigentlich war sd)on alles höd)st reaktionär, selbst
die Revolution war reaktionär gewesen. Immer-
hin — es ging, und man freute sich darüber.

Franz Ludewig VII. war ein guter Mensd).
Wenn er sich freute, sollten seine Untertanen sich
auch freuen. So öffnete er am 1. Juli 1852
einen etwas abseits gelegenen Teil des alten
weitläufigen Schloßparks für den öffentlid)en Ver-
kehr und statt der 1850 angekündigten konstitu-
tionellen Verfassung führte er ein Dutzend wunder-
schöne weiße Schwäne in seinem Lande ein. Ja,
die landesherrliche Gnade ging noch weit über
dies erklärliche Maß hinaus. Die gute Durch-
laudst gestattete sogar, daß der Besitzer des „Hotel
de Kus8ls", der Gastwirt Piepenbrink, sed)S
kleine Nachen ansd)affte, die zu den Sd)wänen
auf den Schloßteich gesetzt wurden, und in denen
man für einen Silbergroschen 14. 2/3 eine Stunde
lang rundum fahren konnte. Dermaßen lernten
die Untertanen genau einsehen, daß sie einen
guten Tausch gemacht hatten, denn die Sd)wäne
waren immerhin etwas Greifbares, Hübsdies und
Fettes, während von der Verfassung dod) nie
jemand etwas gesehene hätte.

Indessen: Nichts ist vollkommen. Es stellten
sid) auch in biefem Idyll, dessen Ruhe bnvd)
27 Warnungstafeln genügsam geschützt fd)ien,
Ubelstände ein. Um sold)e abzustellen fand ein
Ministerrat statt, an deni der Hofmarschall Graf
Hahn von Hönerhusen in eigener Person teil-
nahm. Das war der zweite Ministerrat seit der
Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1822,
und man ersieht daraus, welche Wid)tigkeit aud)
in höd)sten Kreisen dem Ereignis beigelegt wurde,
von dem meine Erzählung berid)ten soll:

Einen Monat nad) dem Ministerrat am 9. Mai
des Jahres 1854 veröffentlichte das Petzenhausener
Regierungs- und Amtsblatt an der Spitze folgende
Bekanntmachung:

„Es wird diesseitig darauf aufmerksam ge-
macht, daß die Sd)wäne, weld)e jetzt ihre
Brütezeit beginnen, ihre Nester ängstlich gegen
Störungen zu schützen pflegen, besonders heran-
nahenden Böten oft mit angreifenden Gebärden
entgegensd)wimmen und dadurd) die Insassen
selbiger Böte veranlassen, mit Rudern und
Stöcken zuzusd)lagen.

Die unterzeid)nete Behörde richtet an das
Publikum die Bitte, die Nähe der Brutstätten
der Sd)wäne zu vermeiden, welchem Unfug zu
steuern man auch durd) sofortige Anzeige nad)
Möglichkeit beitragen wolle, damit diese dem
hiesigen Schloßteich zur Zierde dienenden Tiere
nid)t gestört oder gar verwundet oder sogar
getötet werden möchten.

fürstliches Hofmarschallamt."

Gleichzeitig mit dieser Bekanntmachung ging
dein Amtsblatt ein ministerieller Erlaß zu, der

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Register
Hermann Strauß-Olsen: Der Schwäne-Erlaß
Alfred Rethel: Vignette
Ernst Freißler: Sehnsucht
 
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