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Ü7argeritmfäfer

Hoch oben durch die Spitzen
Der Gräser schwillt das Blau.

Ich mag nicht unten sitzen:

Hinan die Margerite
Zur reichern Überschau!

Hoch, höher klimmen meine
Sechs nimmermüden Beine —
Aufschwung: und ich gebiete
Der weiten, grünen Au.

Wie blitzt der Morgentau
Zn tausendfachem Beben!

Mein Herz, von Lust geschwellt,
Nutzt breit auf breitem Stern,
Mitten im goldnen Kern.

Hub Blütenstrahlen schweben
Von nur rund in die Welt.

Josef Schänder!

Kurgaft

Von Hermann Hesse

Badenau, Sommer 1912.

Lieber Freund!

Eigentlich schäme ich mich ein wenig, Dir mein
Hiersein und überhaupt meinen gegenwärtigen
oustand zu gestehen; aber ich bin Dir schon lange
einen Brief schuldig, und jetzt kommt noch die
hiesige Langeweile dazu — etwas, was ich seit
den Feriensonntagen der Iünglingszeit nicht mehr
gekannt habe. Jetzt weiß ich: Langeweile ist etwas
unendlich Furchtbares, an das zu denken schon
Lähmung und tiefes Grauen bedeutet, furchtbarer
als alle Übel, sogar als Seekrankheit.

Die Sache ist die: Ich bin seit zwei Wochen
hier in Badenau Kurgast! Du wirst verwundert
lachen, und ich selber tue es auch, so oft ich dazu
komme mir meine Lage zu überlegen. In drei
Wochen etwa werde ich entlassen, bis dahin ist
kein Entrinnen.. Ein sehr kluger und feiner Arzt
hat mir für . diese Zeit die Verantwortung für
meine Nerven abgenommen, und ein wohlhaben-
der Freund, den Du errätst, bezahlt mir die be-
deutende Hotelrechmmg; sonst wäre ich natürlich
nicht hier. Mein Tageslauf ist so: Nach dem
Aufstehen nehme ich ein Thermalbad, dann das
Frühstück, dann muß ich bis ein Uhr „promenieren".
Um eins wird gegessen, dann soll ich bis vier
Uhr liegen, dann darf ich bis abends lesen und
schreiben, was der höfliche Doktor arbeiten nennt.
Und abends um halb zehn Uhr erscheint ein weiß-
leinener Boy in meinem Zimmer, der taucht ein
großes Leintuch in kaltes Wasser, hüllt mich dar-
ein und schlägt dann mit flachen Händen drauf,
bis er müde . wird. Es ist sehr lustig und der
Bursche kann ohne Zweifel nachher vorzüglich
schlafen, ich natürlich nicht.

Du weißt, , ich bin geborener Schwarzwälder,
und als ich ein kleiner Bub war, habe ich mir
die vielen Kurgäste, die im Sommer zu uns
kamen und die wir Luftschnapper hießen, oft mit
Verwunderung und Verachtung angesehen. Und
jetzt bin ich selber ein Luftschnapper, steige vor-
sichtig in anständiger Kleidung auf den sauberen
Waldwegen einher, ruhe nachmittags stunden-
lang auf dem geflochtenen Liegestuhl im Hotel-
garten, sehe den arbeitenden Bauern mit Neid
und Langeweile zu und mache wahrscheinlich das-
selbe matte und etwas hilflose Gesicht, wegen
dessen ich einst als Bub alle Luftschnapper für
Idioten ansah.

Anfangs, in den ersten Tagen, hat alles hier
mich geärgert. So ein Kurort vermag auch das
ausgesucht schönste Schwarzwaidtal gründlich zu
entzaubern und zu vergewaltigen. Freche, viel
zu große und grelle Bauten, hunderte von völlig
unnützen Wegzeigern in allen Farben, künstliche
winzige Teiche mit verkümmernden Schwänen

6. Herlting (Dresden)

und dummen Goldfischen, künstliche winzige Wasser-
fällchen mit blechernen Gnomen oder Rehen und
Tropfsteinmüuerchen. Dazu erfüllt täglich drei-
mal eine Musikbande das ganze stille Waldtal
anderthalb Stunden lang mit einer teuflischen,
verzweifelten Blechmusik, vor welcher kein Ent-
rinnen ist. Und das alles wird von einem großen,
eleganten, internationalen Publikum nicht nur
hingenonunen, sondern anscheinend genossen. Es
ist zum Weinen.

Die ersten Tage war ich so müde und das
Wetter so naß, daß ich von Badenau nichts als
diese Kurherrlichkeiten zu sehen bekanr. Später
sah ich dann freilich, wie klein und läppisch dieser
elegante Kurbezirk ist — ein lächerliches Kinder-
gürtlein, in dem sich das ganz sonderbare, affen-
hafte Kurleben abspielt, und ringsum steht dunkel
der inächtige hundertjährige Wald und stehen die
weichen blauschwarzen Berge und lächeln ernst
über die kleinen bunten Kindereien zu ihren Füßen
hinweg. Das sind die Fichtenstände und Weiß-
tannenwälder, die schnellen, glasklaren Forellen-
bäche und alten, .verlorenen Mühlen unb Säge-
werke meiner ersten Zugendzeit, und sie grüßen
mich wieder und haben für mein Ohr und Herz,
trotz allem was seither war, den alten vertrauten
Klang, auf den gibt tief aus meiner Seele etwas
Antwort, und das verborgen rufende Etwas ist
meine Zugend, ist der Rest von Kindheit und Kin-
dersinn im Herzen, über den die Wellen gegangen
sind, ohne ihn zu verletzen.

Diese ganze Welt, Berge und weite, hohe
Waldräume, Farnkrautwildnisse mit Erdbeeren
und Eidechsen, Felsentobel und schlafend stille,
braungoldene Bachecken im Erlengebüsch, das
alles gehört mir ganz allein, jeden Tag für die
vier, fünf Stunden meines Draußenseins.

Denn,, so sonderbar es klingt, die Kurgäste
wollen nichts davon wissen. Sie kennen das
alles nicht, ignorieren es, lehnen es ab. Sie
promenieren langsam, ratlos und unentschlossen
auf den paar ebenen Kurwegen, sitzen feistglücklich
oder gelbverdrießlich aus den zahlreichen Ruhe-
bänken herum, und keiner entfernt sich jemals
mehr als tausend Meter von: Kursaal. In diesem
engen Bezirke leuchtet es von weißen Kleidern,
flirrt von kostbaren Damenhüten und Frisuren,
duftet von allen Blumen und Parfümen, schwirrt
von zehn Sprachen — aber darüber hinaus,
draußen, wo der eigentliche Wald und die gute
Luft erst beginnt, da ist keiner von den Kurgästen
zu treffen. Sie bezahlen für die Schwäne, Teich-
lein, Blechgnomen, Wegweiser und Konzerte eine
hohe Kurtaxe. Rur einige dicke Herren, welche
abmagern möchten, keuchen emsig auch außerhalb
dieses Allerheiligsten auf den Waldwegen umher.
Es ist nicht Schwäche und Krankheit, was die
tausend Kurgäste vom Wandern abhält — an
Tanzabenden sind sie alle erstaunlich gesund und
regsam. Aber sie alle fürchten die Natur, sie
können sie nur in der tausendfach verdünnten

Form von Kurpromenaden vertragen. Sie ahnen
dunkel, daß da draußen im Freien ihre engen,
selbergemachten Gesetze nimmer gelten, daß dort
ihre eitlen Ansprüche hinfällig und ihre kleinen
Sorgen und Krankheiten lächerlich werden würden.
Da draußen, ein paar Stunden weit abseits im
Gebirg, könnte ihnen unversehens etwa einmal
der alte Pan in die unfreien Augen schauen und
ihnen seinen wohlbegründeten Schreck in die
Glieder jagen. Denn das Furchtbare, was jeden
„da draußen" erwartet, sind nicht Abgründe und
Wölfe — es ist die Einsamkeit, und die erträgt
kein Kurgast. Darum bleiben sie in ihrem engen
Gärtlein drunten und wagen die ringsum lockende
Ferne nur gelegentlich auf geselligen Wagen-
partien ein wenig zu besuchen. Dagegen erscheinen
manche, um doch etwas zu tun, vormittags zum
Parkkonzert in kurzen Sporthosen und Loden-
hüten, die sie nachher schnell wieder ablegen.
Wenn jemand im Rufe steht, zuweilen ein paar
fernere Berghöhen zu besuchen und etwa einmal
einen Tag ordentlich zu marschieren, so wird er
mit unsicherer Scheu halb als ein Held, halb als
ein Irrsinniger betrachtet.

Bei Tische, wo ich täglich für eine Stunde
unter , meinen Herren Mitkurgästen sitzen muß,
höre ich sie mit Ernst und unermüdlicher Gründ-
lichkeit von il)ren Leiden sprechen. Der eine hat
nachts wieder schlecht geschlafen, der andre hat
seit vier Wochen erst um ein Pfund zugenommen.
Ein noch, junger Fettleibiger ist gestern vier
Stunden im Walde herumgelaufen, immer den-
selben Weg hin und her, hat sich der wohltätigen
Folgen dieser Arbeit aber in unbegreiflichem Leicht-
sinn selber wieder beraubt, indem er dann abends
der verlockenden Mehlspeise (die ihm verboten ist)
nicht widerstehen konnte. Nun hat sein Gewicht
wieder nicht abgenommen, und so ist es ihm nun
schon viermal gegangen. Bald fastet er, läuft
aber zu wenig, bald umgekehrt.

Bon diesen törichten und lächerlichen Leiden,
deren Anblick einen erzürnt, ist es gut und wohl-
tuend, sich zu wirklicheu zu wenden. Die gibt
es nämlich, hier auch, für sie sind ja ursprünglich
auch alle diese Bäder und Gasthäuser gebaut, aber
sie halten sich im verborgenen und werden von
der Eleganz und langweiligen Pracht des Kur-
bummlerlebcns übertönt. Aber abseits, auf ein
paar bescheideneren Waldwegen und in den Liege-
hallen einiger Pensionen, sieht man da und dort
ergriffen und erschrocken dein wirklichen Elend
und dein wirklichen Leid ins bleiche Gesicht, und
das tut merkwürdigerweise wohl. Dann lächelt
man nicht nur über die Wichtigtuerei dieser kleinen,
drolligen, unnützen Welt, man sieht auch die
eigeneir Beschwerden im richtigen Maßstab und
nimnit sie niinber wichtig. Unb etwa einmal kann
man still und brüderlich in ein weißes, leidendes
Menschengesicht blicken, einen neugierlosen, ernsten
Blick freundlich erwidern, einen stummen Gruß
tauschen.

Das ist mein Kurgastleben in Badenau. Mor-
gens schweife ich auf stillen Waldwegen, nach-
mittags dümmere ich in träger Ruhe, abends lese
ich manchmal im Walther von der Vogelweide
oder im Mörike, bis der Weißleinene mit dem
Wasserkübel erscheint. Manche Stunden denke
ich gar nichts, höre nur Baumkronen und Bäche
rauschen. Manche Stunden denke ich an alle die
Leiden, die mich von bangen, blassen Gesichtern
gegrüßt' haben. Und dazwischen habe ich ineinen
Spaß an den Gästen, an den kleinen Teichen
und dem übrigen Schwindel. Dian kann auch
hier, wie überall, einige schöne Menschen sehen.
An wahrhaft schönen Engländern ist Mangel, die
siild im Hochgebirge oder an der See. Aber
slawische, deutsche, romaiüsche Rasseköpfe finden
sich wohl, und nette geputzte Kinder und manche
interessante Frauengesichter. Und dann freist es
mich zu finden, daß unser gutes Schwarzwülder
Volk sich zwischen allen diesen Typen wohl sehen
lassen darf, und daß die alemannischen Köpfe den
Vergleich mit festen, gutgeschnittenen Ausländer-
Köpfen aller Art recht wohl aushalten können.

Jetzt genug! Du hörst bald wieder von Deinem

H-
Register
Hermann Hesse: Kurgast
Georg Hertting: Schmetterling
Josef Schanderl: Margeritenkäfer
 
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