Gott—Maler
Mit safranrotem Pinsel überfuhr
Gott seinen Himmel: Siehe da, es war
Ein einziger Strich auf dunkler Goldlasur,
Unendlich sorgsam, fein und farbenklar.
Darüber, in des Westens Rostbraun, schlug
Der liebe Gott den hellen Abendstern
Als einen goldnen Nagel. Recht und klug,
Nicht allzunah dem Strich und nicht zu fern.
Dann, mit der Spitze seines Daumens, riß
Er hoch ins Licht den silbergrünen Rand
Des jungen Mondes, zart und ungewiß,
Davor die Erde blau in Dämmrung stand.
Das alles war, wie nach der Kunst gemacht,
Die aus der Andacht stillen Schauens quillt
Und war so liebevoll unb wohlbedacht,
Wie eines alten Meisters Tafelbild.
Es war der liebe Gott an jenem Tag
Ein frommer Künstler. Nicht wie sonst bedacht
Auf Menschentum und eifernden Vertrag
Und rächendes Verkünden seiner Macht.
Llaee Schmid Rombeug
Der Letzte
Von A. De Nora
„©3 ist noch ein Herr im Wartezimmer, der
letzte."
„Lassen Sie ihn eintreten!" sagte Dr. Poinceau
und lehnte sich in seinem Sessel zurück.
„Sehr wohl!" Der Diener verschwand.
Dr. Poinceau, der Liebling und Modearzt
von Paris, einer der gesuchtesten Internisten
Frankreichs, faltete die Hände über der grau-
seidenen Weste, die zwischen den dunklen Ufern
seines Gehrocks einen breiten silberhellen Strom
darstellte, und ließ sie wie ein Schifflein auf
diesem Strome auf und nieder wogen. Er war
mit sich zufrieden. Seit ein Uhr nachmittags
hatte ein Patient dem andern die Türklinke in
die Hand gegeben und in dem großen, dicken
Folianten, der auf dem Schreibtisch lag, standen
wieder zehn bis zwölf neue Nummern ver-
zeichnet. Vierstellige Nummern, müßt Ihr wissen,
obwohl man sich erst im Monat Juni befand!
Jede dieser Nummern bedeutete einen Louisdor
oder mehr, und sie stellten nicht einmal das ganze
Ergebnis dieses Tages dar. Mehr als ein Dutzend
alter Patienten kam hinzu, solcher, die schon im
Journal numeriert und eingetragen waren, und
manche darunter bedeckten mit ihren Krankheits-
geschichten zwei, drei Seiten des gewaltigen Buches.
Das waren die goldenen Kühe, die famosen, teuren,
nicht genug zu schätzenden Patienten, deren Ge-
sundheit unverwüstlich äst und deren Leiden daher
unendlich ist. ^ Die immer wiederkehren und nie
ihre Krankheit, aber regelmäßig ihr Geld ver-
lieren ....
Der Doktor schmunzelte und hatte beinah
vergessen, daß seine Tätigkeit noch gar nicht zu
Ende war. Die kleine Pause hatte ihm wohl-
getan, allein plötzlich ward er sich wieder seiner
Pflicht bewußt und erinnerte sich, daß der Diener
noch einen Klienten gemeldet habe.
Er fuhr auf. Warum kam der Mensch nicht?
Meinte der, eine Autorität wie Er hätte seine
Zeit gestohlen und würde gemütlich warten, bis
es dem Herrn gefällig wäre?
Trotz seines Bäuchleins und der kurzen Beine
war Dr. Poinceau sehr flink aufgesprungen und
hatte eine rasche Wendung gemacht, um seinen
Diener nach dem Grunde der Verzögerung zu
fragen. Da bemerkte er, daß der erwartete Herr be-
reits im Zimmer stand. Ein bescheidener, kleiner
magerer Mann in sonderbarem Anzug. Nicht als
ob die Kleider auffallend gewesen wären. Hose,
Nock und Weste waren schwarz. Eine schwarze Hals-
binde bedeckte Vorhemd und Kragen. Die schwarz-
behandschuhten Hände drehten einen alten Zylinder.
Karl Lürtzingf
Er sah aus wie ein Leichenbitter. Aber das Sonder-
bare war, daß ihm der Anzug viel zu groß zu sein
schien. Er schlotterte um seine Beine, seine Arme,
sogar um seine Hüften wie ein Sack auf einer
Stange. Nur der Schädel war solid, rund und
wohlgebaut, und die Zähne von auffallender Schön-
heit. Eine schwarze Brille schützte die klugen.
„Sind Sie schon lange hier?" frug der Doktor,
fast etwas verlegen; denn wer weiß, wie lange
ihn der Mann schon beobachtet haben mochte.
„Nein, nicht allzulange," sagte der Patient
mit einer wohlklingenden, etwas tiefen Stimme,
die man dem dünnen Kerl gar nicht zugetraut hätte.
„Schön, dann bitte ich Platz zu nehmen und
mir zu sagen, was Sie hergeführt. Vorher ge-
statten Sie nur zur Aufnahme der Anamnese
einige persönliche Fragen. Wie ist Ihr werter
Name?"
„Mein Name dürfte Ihnen bekannt sein,"
lächelte der fremde Herr, „ich bin der Tod."
Der Doktor hatte bereits die Feder einge-
tunkt, aber er ließ sie fallen und sah den Sprecher
mit scharfen Augen und halbgeöffnetem Munde
erstaunt an.
„Machen Sie keine Witze, mein Herr!" sprach
er streng, „meine Zeit ist zu kostbar für Allotria
und mein Beruf zu ernst für solche Scherze!"
„Es ist durchaus kein Scherz," sagte der Tod.
„Ich wundere nach aber, daß Sie mich nicht er-
kennen, nachdem wir doch schon dreißig Jahre
zusannnen gearbeitet haben." Dabei bleckte er
fröhlich grinsend alle 32 Zähne und richtete wie
belustigt seine schwarzen Brillengläser auf das
Gesicht des Arztes.
Diesem fiel die Ähnlichkeit seines Gegenübers
mit dem vulgären Typ des Todes allerdings auf,
allein als wissenschaftlich denkender Mann lehnte
er den unsinnigen Gedanken auf der Stelle weit
von sich ab. „Ein Narr," dachte er, und weil
Furcht nicht seine Schwäche, der Verkehr mit allen
möglichen kranken Menschen aber seine Gewohn-
heit war, versuchte er dem Fall auf den Grund
zu kommen:
„Schön! Nehmen wir an, Sie seien der Tod,
lieber Freund! Womit kann ich Ihnen dienen?"
„Womit Sie mir schon so oft gedient haben:
mit einem Menschenleben."
„Sie wollen dmnit andeuten, ich hätte Ihnen,
d. h. dem Tode schon so manchen meiner Patienten
geliefert, nicht wahr? Wissen Sie, daß dieser Vor-
wurf eine Unverschämtheit ist?"
„Die Wahrheit ist immer eine Unverschämtheit,"
grinste der Tod. „Damit Sie mich jedoch nicht
für unhöflich halten, will ich sie Ihnen beweisen.
Ich komme soeben" — er winkte mit der linken
Hand zum Fenster hin, das sich von den Strahlen
der untergehenden Sonne gerade zu röten be-
gann — „von einer kleinen, dreizehnjährigen,
sehr hübschen und wohlgezogenen Patientin Ihrer
Praxis, die da drüben am Bois wohnte. Sie hieß,
wenn Sie sich erinnern wollen, Ieanne Lesage
und war die Tochter eines Fabrikanten —"
„Sie heißt noch so. Es geht ihr sehr
gut," warf der Doktor dazwischen.
„2a!" erwiderte der Tod. „sehr gut: denn
sie ist vor einer Stunde gestorben. Ich danke
Ihnen für ihre freundliche Bemühung!"
„Wie? Meine Bemühung? Sie behaup-
ten, daß ich an dem Sterben dieses Kindes schul-
dig bin?"
„Aber natürlich, verehrter Meister! Natür-
lich! Wer denn sonst?" Der Tod lachte,
daß es ihn schüttelte und man wirklich das
Klappern seiner dürren Knochen unter den
weiten Kleidern hören konnte. Der Doktor
ärgerte sich.
„Sie sind wahrscheinlich ein Verwandter
des Mädchens und wollen mir hier Vorwürfe
machen?"
„Nicht im geringsten! Vorwürfe? Wo den-
ken Sie hin, lieber Herr! Sie hören ja, daß
ich mich bei Ihnen bedanke. Denn wer weiß,
wenn Sie keine falsche Diagnose gestellt und
die Kleine richtig behandelt hätten, wer weiß,
wie lange es gedauert hätte, bis sie zu mir
gekommen wäre!"
„Nun wird's mir aber entschieden zu bunt!"
rief Dr. Poinceau und sprang von seinem
Stuhle empor. Aber der Tod legte sanft die
Hand auf seinen Arm und sagte:
„Ärgern Sie sich nicht, lieber Freund! Setzen
Sie sich ruhig hin. Es war ja nicht die erste
falsche Diagnose, die Sie stellten. Und was liegt
schließlich an einer mehr? Es kommen alle zu mir.
alle, früher oder später, mit und ohne Diagnose.
Und Ihre Tätigkeit als Arzt war im großen und
ganzen für nach, d. h. gegen mich, ohne alle
Bedeutung!"
„Was? Ohne Bedeutung?" Diese Gering-
schätzung erregte den Doktor noch mehr als der
vorhergegangene Vorwurf. „Ohne Bedeutung!!
Habe ich Ihnen nicht hunderte von Malen schon
Kranke aus den Zähnen geräumt, die Sie beinahe
Ihr eigen wähnten, habe ich nicht Tausende vor
dem Tode gerettet, wenigstens auf Jahre hinaus
zurückgerissen? _ Und Sie wagen zu behaupten,
mein Kampf sei ein nichtiger gewesen?"
„Bilden Sie sich nichts ein, lieber Doktor!
Nicht hundertmal, nicht zehnmal, ja nicht einmal,
soweit ich mich erinnern kann, verdankt irgend
jemand Ihnen die Verlängerung seines Lebens.
Sie waren immer nur das blinde Werkzeug in
der Hand von Mächten, die stärker sind als Sie
und denen es beliebte, Ihre Patienten am Leben
zu erhalten. Den Mächten der Körperkraft, der
Blutbeschaffenheit, der Keimvernichtung, des Säfte-
reichtums und hundert anderen, die Sie nicht
einmal dem Namen nach kennen! Deren Wesen
Ihnen erst recht unbekannt ist! Von denen Sie
nie reden, obwohl Sie derselben benötigen! Ah,
Sie geben Ihre Ratschläge und Medikamente?!
Sie operieren! Schön. Aber wer erlaubt Ihnen
denn, ungestraft diese Muskeln, Adern, Nerven
zu durchschneiden, in diesen Eingeweiden zu wühlen
und Millionen Keime in alle Winkel dieser Körper
zu tragen, wenn nicht die unbekannte Heilkraft
der Natur, die gutmütig Eure Wunden wieder
schließt, Eure Keime unschädlich macht und den
beleidigten Organen die Fähigkeit gewährt sich
zu erholen? Wo kämt Ihr hin, wenn dies Blut
auch nur die einzige Eigenschaft verlöre, zu ge-
rinnen, oder wenn der Druck dieser Luft, die Eure
Knochen im Gelenke hält, auch nur um ein paar
Gramm geringer würde? Ist es Euere Kunst,
Euer Verdienst, ist es die Kraft Ihrer Hände,
verehrter Herr, die verhindert, daß ein Faden
abreißt, den Sie gar nicht sehen?"
Der Tod räckelte sich nach dieser Rede bequem
in seinen Sessel zurück, als erwartete er die Antwort.
Der Arzt war nicht verlegen sie zu geben. „Un*
sinn!" sagte er. „Wir leugnen selbstverständlich
diese Kräfte nicht, allein wir benützen sie, um Ihnen
entgegen zu arbeiten."
„Nein, sie benützen Euch. Und Ihr würdet
weniger stolz auf Eure Verdienste um das Leben
sein, wenn Ihr wüßtet, wie gering sie sind. Daß
sie bei den Besten von Euch vielleicht nicht weiter
gehen, als gerade soweit, dem Tod nicht in die
Hände zu arbeiten."
„Ach was!" schrie nun der Doktor, dem die
Sache anfing unangenehm zu werden. „Schließen
Mit safranrotem Pinsel überfuhr
Gott seinen Himmel: Siehe da, es war
Ein einziger Strich auf dunkler Goldlasur,
Unendlich sorgsam, fein und farbenklar.
Darüber, in des Westens Rostbraun, schlug
Der liebe Gott den hellen Abendstern
Als einen goldnen Nagel. Recht und klug,
Nicht allzunah dem Strich und nicht zu fern.
Dann, mit der Spitze seines Daumens, riß
Er hoch ins Licht den silbergrünen Rand
Des jungen Mondes, zart und ungewiß,
Davor die Erde blau in Dämmrung stand.
Das alles war, wie nach der Kunst gemacht,
Die aus der Andacht stillen Schauens quillt
Und war so liebevoll unb wohlbedacht,
Wie eines alten Meisters Tafelbild.
Es war der liebe Gott an jenem Tag
Ein frommer Künstler. Nicht wie sonst bedacht
Auf Menschentum und eifernden Vertrag
Und rächendes Verkünden seiner Macht.
Llaee Schmid Rombeug
Der Letzte
Von A. De Nora
„©3 ist noch ein Herr im Wartezimmer, der
letzte."
„Lassen Sie ihn eintreten!" sagte Dr. Poinceau
und lehnte sich in seinem Sessel zurück.
„Sehr wohl!" Der Diener verschwand.
Dr. Poinceau, der Liebling und Modearzt
von Paris, einer der gesuchtesten Internisten
Frankreichs, faltete die Hände über der grau-
seidenen Weste, die zwischen den dunklen Ufern
seines Gehrocks einen breiten silberhellen Strom
darstellte, und ließ sie wie ein Schifflein auf
diesem Strome auf und nieder wogen. Er war
mit sich zufrieden. Seit ein Uhr nachmittags
hatte ein Patient dem andern die Türklinke in
die Hand gegeben und in dem großen, dicken
Folianten, der auf dem Schreibtisch lag, standen
wieder zehn bis zwölf neue Nummern ver-
zeichnet. Vierstellige Nummern, müßt Ihr wissen,
obwohl man sich erst im Monat Juni befand!
Jede dieser Nummern bedeutete einen Louisdor
oder mehr, und sie stellten nicht einmal das ganze
Ergebnis dieses Tages dar. Mehr als ein Dutzend
alter Patienten kam hinzu, solcher, die schon im
Journal numeriert und eingetragen waren, und
manche darunter bedeckten mit ihren Krankheits-
geschichten zwei, drei Seiten des gewaltigen Buches.
Das waren die goldenen Kühe, die famosen, teuren,
nicht genug zu schätzenden Patienten, deren Ge-
sundheit unverwüstlich äst und deren Leiden daher
unendlich ist. ^ Die immer wiederkehren und nie
ihre Krankheit, aber regelmäßig ihr Geld ver-
lieren ....
Der Doktor schmunzelte und hatte beinah
vergessen, daß seine Tätigkeit noch gar nicht zu
Ende war. Die kleine Pause hatte ihm wohl-
getan, allein plötzlich ward er sich wieder seiner
Pflicht bewußt und erinnerte sich, daß der Diener
noch einen Klienten gemeldet habe.
Er fuhr auf. Warum kam der Mensch nicht?
Meinte der, eine Autorität wie Er hätte seine
Zeit gestohlen und würde gemütlich warten, bis
es dem Herrn gefällig wäre?
Trotz seines Bäuchleins und der kurzen Beine
war Dr. Poinceau sehr flink aufgesprungen und
hatte eine rasche Wendung gemacht, um seinen
Diener nach dem Grunde der Verzögerung zu
fragen. Da bemerkte er, daß der erwartete Herr be-
reits im Zimmer stand. Ein bescheidener, kleiner
magerer Mann in sonderbarem Anzug. Nicht als
ob die Kleider auffallend gewesen wären. Hose,
Nock und Weste waren schwarz. Eine schwarze Hals-
binde bedeckte Vorhemd und Kragen. Die schwarz-
behandschuhten Hände drehten einen alten Zylinder.
Karl Lürtzingf
Er sah aus wie ein Leichenbitter. Aber das Sonder-
bare war, daß ihm der Anzug viel zu groß zu sein
schien. Er schlotterte um seine Beine, seine Arme,
sogar um seine Hüften wie ein Sack auf einer
Stange. Nur der Schädel war solid, rund und
wohlgebaut, und die Zähne von auffallender Schön-
heit. Eine schwarze Brille schützte die klugen.
„Sind Sie schon lange hier?" frug der Doktor,
fast etwas verlegen; denn wer weiß, wie lange
ihn der Mann schon beobachtet haben mochte.
„Nein, nicht allzulange," sagte der Patient
mit einer wohlklingenden, etwas tiefen Stimme,
die man dem dünnen Kerl gar nicht zugetraut hätte.
„Schön, dann bitte ich Platz zu nehmen und
mir zu sagen, was Sie hergeführt. Vorher ge-
statten Sie nur zur Aufnahme der Anamnese
einige persönliche Fragen. Wie ist Ihr werter
Name?"
„Mein Name dürfte Ihnen bekannt sein,"
lächelte der fremde Herr, „ich bin der Tod."
Der Doktor hatte bereits die Feder einge-
tunkt, aber er ließ sie fallen und sah den Sprecher
mit scharfen Augen und halbgeöffnetem Munde
erstaunt an.
„Machen Sie keine Witze, mein Herr!" sprach
er streng, „meine Zeit ist zu kostbar für Allotria
und mein Beruf zu ernst für solche Scherze!"
„Es ist durchaus kein Scherz," sagte der Tod.
„Ich wundere nach aber, daß Sie mich nicht er-
kennen, nachdem wir doch schon dreißig Jahre
zusannnen gearbeitet haben." Dabei bleckte er
fröhlich grinsend alle 32 Zähne und richtete wie
belustigt seine schwarzen Brillengläser auf das
Gesicht des Arztes.
Diesem fiel die Ähnlichkeit seines Gegenübers
mit dem vulgären Typ des Todes allerdings auf,
allein als wissenschaftlich denkender Mann lehnte
er den unsinnigen Gedanken auf der Stelle weit
von sich ab. „Ein Narr," dachte er, und weil
Furcht nicht seine Schwäche, der Verkehr mit allen
möglichen kranken Menschen aber seine Gewohn-
heit war, versuchte er dem Fall auf den Grund
zu kommen:
„Schön! Nehmen wir an, Sie seien der Tod,
lieber Freund! Womit kann ich Ihnen dienen?"
„Womit Sie mir schon so oft gedient haben:
mit einem Menschenleben."
„Sie wollen dmnit andeuten, ich hätte Ihnen,
d. h. dem Tode schon so manchen meiner Patienten
geliefert, nicht wahr? Wissen Sie, daß dieser Vor-
wurf eine Unverschämtheit ist?"
„Die Wahrheit ist immer eine Unverschämtheit,"
grinste der Tod. „Damit Sie mich jedoch nicht
für unhöflich halten, will ich sie Ihnen beweisen.
Ich komme soeben" — er winkte mit der linken
Hand zum Fenster hin, das sich von den Strahlen
der untergehenden Sonne gerade zu röten be-
gann — „von einer kleinen, dreizehnjährigen,
sehr hübschen und wohlgezogenen Patientin Ihrer
Praxis, die da drüben am Bois wohnte. Sie hieß,
wenn Sie sich erinnern wollen, Ieanne Lesage
und war die Tochter eines Fabrikanten —"
„Sie heißt noch so. Es geht ihr sehr
gut," warf der Doktor dazwischen.
„2a!" erwiderte der Tod. „sehr gut: denn
sie ist vor einer Stunde gestorben. Ich danke
Ihnen für ihre freundliche Bemühung!"
„Wie? Meine Bemühung? Sie behaup-
ten, daß ich an dem Sterben dieses Kindes schul-
dig bin?"
„Aber natürlich, verehrter Meister! Natür-
lich! Wer denn sonst?" Der Tod lachte,
daß es ihn schüttelte und man wirklich das
Klappern seiner dürren Knochen unter den
weiten Kleidern hören konnte. Der Doktor
ärgerte sich.
„Sie sind wahrscheinlich ein Verwandter
des Mädchens und wollen mir hier Vorwürfe
machen?"
„Nicht im geringsten! Vorwürfe? Wo den-
ken Sie hin, lieber Herr! Sie hören ja, daß
ich mich bei Ihnen bedanke. Denn wer weiß,
wenn Sie keine falsche Diagnose gestellt und
die Kleine richtig behandelt hätten, wer weiß,
wie lange es gedauert hätte, bis sie zu mir
gekommen wäre!"
„Nun wird's mir aber entschieden zu bunt!"
rief Dr. Poinceau und sprang von seinem
Stuhle empor. Aber der Tod legte sanft die
Hand auf seinen Arm und sagte:
„Ärgern Sie sich nicht, lieber Freund! Setzen
Sie sich ruhig hin. Es war ja nicht die erste
falsche Diagnose, die Sie stellten. Und was liegt
schließlich an einer mehr? Es kommen alle zu mir.
alle, früher oder später, mit und ohne Diagnose.
Und Ihre Tätigkeit als Arzt war im großen und
ganzen für nach, d. h. gegen mich, ohne alle
Bedeutung!"
„Was? Ohne Bedeutung?" Diese Gering-
schätzung erregte den Doktor noch mehr als der
vorhergegangene Vorwurf. „Ohne Bedeutung!!
Habe ich Ihnen nicht hunderte von Malen schon
Kranke aus den Zähnen geräumt, die Sie beinahe
Ihr eigen wähnten, habe ich nicht Tausende vor
dem Tode gerettet, wenigstens auf Jahre hinaus
zurückgerissen? _ Und Sie wagen zu behaupten,
mein Kampf sei ein nichtiger gewesen?"
„Bilden Sie sich nichts ein, lieber Doktor!
Nicht hundertmal, nicht zehnmal, ja nicht einmal,
soweit ich mich erinnern kann, verdankt irgend
jemand Ihnen die Verlängerung seines Lebens.
Sie waren immer nur das blinde Werkzeug in
der Hand von Mächten, die stärker sind als Sie
und denen es beliebte, Ihre Patienten am Leben
zu erhalten. Den Mächten der Körperkraft, der
Blutbeschaffenheit, der Keimvernichtung, des Säfte-
reichtums und hundert anderen, die Sie nicht
einmal dem Namen nach kennen! Deren Wesen
Ihnen erst recht unbekannt ist! Von denen Sie
nie reden, obwohl Sie derselben benötigen! Ah,
Sie geben Ihre Ratschläge und Medikamente?!
Sie operieren! Schön. Aber wer erlaubt Ihnen
denn, ungestraft diese Muskeln, Adern, Nerven
zu durchschneiden, in diesen Eingeweiden zu wühlen
und Millionen Keime in alle Winkel dieser Körper
zu tragen, wenn nicht die unbekannte Heilkraft
der Natur, die gutmütig Eure Wunden wieder
schließt, Eure Keime unschädlich macht und den
beleidigten Organen die Fähigkeit gewährt sich
zu erholen? Wo kämt Ihr hin, wenn dies Blut
auch nur die einzige Eigenschaft verlöre, zu ge-
rinnen, oder wenn der Druck dieser Luft, die Eure
Knochen im Gelenke hält, auch nur um ein paar
Gramm geringer würde? Ist es Euere Kunst,
Euer Verdienst, ist es die Kraft Ihrer Hände,
verehrter Herr, die verhindert, daß ein Faden
abreißt, den Sie gar nicht sehen?"
Der Tod räckelte sich nach dieser Rede bequem
in seinen Sessel zurück, als erwartete er die Antwort.
Der Arzt war nicht verlegen sie zu geben. „Un*
sinn!" sagte er. „Wir leugnen selbstverständlich
diese Kräfte nicht, allein wir benützen sie, um Ihnen
entgegen zu arbeiten."
„Nein, sie benützen Euch. Und Ihr würdet
weniger stolz auf Eure Verdienste um das Leben
sein, wenn Ihr wüßtet, wie gering sie sind. Daß
sie bei den Besten von Euch vielleicht nicht weiter
gehen, als gerade soweit, dem Tod nicht in die
Hände zu arbeiten."
„Ach was!" schrie nun der Doktor, dem die
Sache anfing unangenehm zu werden. „Schließen