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Stimme der Glocken

Es kam eine Stimme zu mir in der Nacht.
Die Glocken sind vom Schlaf erwacht.

Mit schweren Zungen, von hier und dort,
Tönen sie ein gewaltig Wort.

Von dunklen Türmen, schwankend und gellend,
Süß versiegend, in Wellen anschwellend,

Mit Lallen lind Schallen sprechen sie aus,
Was dunkel umgeht in jedem Haus.

Sie wissen alles: Not, Angst und Schmach;
Es jagen die Glocken dem Leide nach.

Die Glocken haben in stiller Nacht
Für jeglich Leid einen Namen erdacht.

Wer schmerzlich wachte, der sinkt in Schlaf,
Wenn ihn der Glocken Wort betraf.

Wilhelm Michel

Cyklopenstadt

Eine hohe Brücke führt im Bogen
Ueber einen schwärzlich-grauen Fluß,

Die getrennte Ufer, trag umzogen,

Ob der dunkeln Flut verbinden muß.

Und dahinter, deinen Durchblick lohnend.

Wölbt sich eine steingetürmte Stadt,

Gleich der Felsenburg Europas thronend,

Die Cyklopenhand gemauert hat.

Mächtige und massige Gebäude,

Grau die Wände, kolossal die Mauern,

Nicht erbaut für morgen oder heute.

Nein: bestimmt, Jahrtausende zu dauern.

Hier der Cirkus, wo man Bestien bändigt,

Die mit Peitsch und Zucker man dressiert
Und allabends, menschlich verlebendigt,

Vor ein lüstern Volk von Gaffern führt.

Dort das Zuchthaus, wo man Triebkanaillen,
Wenn ihr wildes Blut nach Freiheit schreit,
Hinter Kerkerwand und Eisentraillen,

Zur Besinnung bringt, zur Fügsamkeit.

Rechts ein Dombau, links ein Freiheitstempel,
Hier Kasernen, dort ein Prunkpalast:

Jedes Haus trägt Ewigkeitenstempel,

Bis zum First von Quadern eingefaßt.

Und den Fluß hinauf zieh» derbe Knechte
Kähne, schwer von Eisen und Granit,

Dumpf umkrallt des Taues End die Rechte,
Und der krumme Nacken zieht und zieht.

Doch der sieghaft übern Brückenbogen
Jetzt sein Kampfroß lenkt im Eisenkleid,

Ist ein Schatten aus der Zeiten Wogen,

Ist ein Fronherr der Vergangenheit.

Nie zuvor halt' ich die Stadt gesehen,

Die Cyklopenstadt und ihre Werke —
Nächstens mußt ich ihr vorübergehen
Grau'ngeschüttelt ob der dunkeln Stärke.

Ludwig Scharf

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AUS GIESING

E. Enzler

Das Perlen=fjalsbanö

Von Llcmentine Rrämer

Lachend und tanzend war sie durchs
Leben getollt und hinaus aus der Welt —
26 Jahre alt — —

Und nun sollte sich jedes ein Andenken
erbitten an die tote Sitta, die so plötzlich
gestorben war. Die Augen von Sitta's
Mutter und den Schwägerinnen, da das
Fräulein Schwend um das Perlenkollier
gebeten hatte.

Was war sie eigentlich, verwandt? Wie
kam sie dazu, wer war sie überhaupt?
— Eine Freundin! Was weiter? Eine
Frechheit war das, eine veritable Frechheit.
Wußte sie überhaupt, welchen Wert das
Halsband repräsentierte? Hatte sie eine
Ahnung, 10 000 Mark hatte es seinerzeit
gekostet und seitdem waren Perlen fast um
das Doppelte im Wert gestiegen.

Wie kam sie überhaupt darauf? — —

Hatte Sitta am Ende-? Nein, Sitta

hatte es ihr nicht vermacht oder so, nein,
das könne sie nicht sagen.

Aber sie wollte es so gerne haben als
Andenken. — — Es kam zögernd über
ihre Lippen. Sie wurde dunkelrot, da sie
aller Blicke aus sich ruhen fühlte. Warum
es gerade das Kostbarste sein mußte, oben-
drein als Souvenir am wenigsten geeignet,
darum, weil Sitta gerade das Kollier eigent-
lich im letzten Jahre beinahe auffällig wenig
getragen hatte. Warum sie sich nicht den
Ring, den man der Toten vom Finger zog,
oder die Ohrringe erbat — —

„Na," sagte der Gatte, „Fräulein Schwend,
darf ich Ihnen den Ring mit den Smaragden
geben?" und sie erwiderte beinahe stotternd:
„Ich möchte schon gerne, ich möchte schon
lieber — das Perlenhalsband haben."

War sie verrückt, was hatte sie denn
überhaupt? Hatte es eine eigne Bewandt-
nis damit? Der Gatte der toten Sitta nahm
Fräulein Schwend bei der Hand und führte
sie ins Nebenzimmer.

„Bitte, Fräulein Schwend, hat sie es
Ihnen vielleicht doch vermacht?" fragte er
leise und wehmütig. Nun traten ihr die

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großen Tränen in die Augen wie einem
geängstigten Kinde und sie hob flehend die
Hände empor.

„Ich bitte Sie, geben Sie es mir, ich
bitte Sie." Und ehe er sich's versah, flehte
sie knieend: „Ich bitte Sie."

„Um Gotteswillen, was machen Sie,
stehen Sie doch auf — — kommen Sie|
Fräulein Schwend," sagte er dann, und
tiefe Rührung lag in seiner traurigen
Stimme.

Sie konnten alle kein Wort vor Wut
und Zorn hervorbringen, da er mit Fräu-
lein Schwend in der Türe erschien und
sagte: „Schön, ich werde Ihnen morgen
die Perlen in Ihre Wohnung schicken."

„Ich danke Ihnen, aber vielleicht,
wenn ich sie gleich mitnehmen könnte — ?"
„Nein, das können Sie nicht, da sind
vorher noch einige Formalitäten."

„Ich danke Ihnen," sagte das Fräulein
Schwend und ging. —

Den andern Mittag kam der Gatte der
toten Sitta und brachte den Schmuck selber.
„Das Collier ist imitiert, und Sie wußten
das."

„Ja, sie hatte das echte verloren und
fand nicht den Mut —"

„Nein, das nützt Ihnen jetzt nichts mehr,
mein liebes Fräulein. Ich fand auch —
dies —" dabei hebt er einen Brief empor.
„Fräulein Schwend weiß, was darinnen
steht. Es ist der Dank von Sittas ,Freundß
die ihn mit dem Erlös für das Collier aus
einer bösen Spieler - Affaire gerettet hat.
Der Dank dafür — und — — für mehr
— — ja, ja, Fräulein Schwend. Lustig
gelebt und fröhlich gestorben, hat dem Teufe!
das Spiel verdorben, was?"

Und der Mann der toten Sitta lachte.
Doch dies Lachen war trauriger anzuhören,
als gestern sein Weinen um die Tote.

Aphorismen

Bon vr. Baer (Oberdorf)

Man kann die Menschen nicht immer
emporziehen, man muß zuweilen zu ihnen
heruntersteigen, um sie glücklich und besser
zu machen.

*

Narben sind oft schmerzhafter als Wunden.

*

Es gibt eine Sorte gottverdammter, ge-
bildeter Rohlinge, die da meinen, das Recht
auf seelischen Schmerz beginne erst dort,
wo die Nahrungssorgen aufhören.



In der guten Gesellschaft fängt der Lump
erst an beim — Skandal.



Die Diener Gottes verschenken Himmel
und Hölle — und behalten die Erde selber.

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Clementine Krämer: Das Perlen-Halsband
E. Enzler: Aus Giesing
Dr. Baer: Aphorismen
Wilhelm Michel: Stimme der Glocken
Ludwig Scharf: Cyklopenstadt
 
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