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Obergeschoß mit lautem Knall zugeworfen
wurde.

Pfeifend lag die Stimme des Windes in
dem alten Haufe und Fräulein de Boer konnte
kaum verstehen, was der Unbekannte, der vor
der Tür stand, murmelte. Sie verstand nur,
daß er etwas abzugeben habe und daß sie es
recht vorsichtig tragen möge, dann schlug die
Tür wieder zu, und Fräulein de Boer stand
mit einer Art Wäschekorb im Arm da, ohne
recht zu wissen, wie sie dazu gekommen war
und wem sie eigentlich den Korb abgeben sollte.

Vorsichtig riegelte sie die Tür wieder ab
und kehrte den Korb vor sich hertragend, in
den Saal zurück, wo ihre Stiftsfreundinnen
sie mit verwunderten Augen empfingen.

„Nun?" fragte Fräulein Türeisen.

„Ja, ich weiß nicht, was darin ist," ant-
wortete Fräulein de Boer, noch etwas atem-
los vom Tragen und Treppensteigen. „Weiß
auch nicht von wem es kommt. Es war
jemand da, der ihn als Christgeschenk für
das Stift abgegeben hat!"

Neugierig umdrängten alle den Korb, den
Fräulein Türeisen vorsichtig auszupacken be-
gann, bis sie plötzlich, nachdem die erste Hülle
entfernt waren, einen Schrei ausstoßend, die
weiße Decke, die sie hatte abheben wollen,
wieder fallen ließ — und vor plötzlichem
Schrecken in den nächsten Stuhl sank.

In dem Korbe lag — ein lebendiges Kind.

Alle waren betreten, verwundert, beleidigt,
empört!

„Das grenzt denn doch an Unverschämtheit!"
sagte Fräulein Schmitz, und die übrigen nickten
und sagten: „Nein es ist nicht zu glauben! So
etwas! Da muß man die Polizei benachrichtigen!"
Fräulein Lammers aber rief: „Himmel und Vater
— nein!" was sie immer sagte, wenn sie sich
verwunderte.

Bestürzt und fassungslos standen die alten
Fräulein im Kreise um den Korb, schüttelten die
greisen Köpfe und sahen mit großen Augen auf
das kleine Wesen, das nackend und frierend vor
ihnen lag. Allmählich und langsam aber begann
der Ärger über die Verhöhnung, die man in dem
merkwürdigen Geschenk sah, von Mitleid mit dem
armen elternlosen Kinde abgelöst zu werden.

Fräulein Klockgater war die erste, die zugriff.
Sie hob das Kind vorsichtig aus dem Korbe
heraus, setzte sich bamit auf einen Stuhl und
fing an, dem armen, halberstarrten Wesen Brust
und Rücken zu reiben, wickelte es dann kurz
entschlossen in ihre Schürze und bedeckte es mit
dem wollenen Tuch, das sie gerade über den
Schultern trug.

„So — foftfo — so — o!" summte sie leise,
den Säugling, der zu weinen begonnen hatte,
auf ihrem Schoße wiegend, und wie mit einem
Zauberschlage war mit dieser Geberde auch in
allen anderen, die niemals das Glück der Mutter-
schaft erfahren hatten, ein Hauch von Zärtlich-
keit und Liebe zu dem armen, nmtterlosen Kinde
erwacht.

„Wir könnten etwas Milch anwärmen!" be-
gann Fräulein Schmitz.

„Und ein paar Decken müßten am Ofen ge-
wärmt werden!" rief Fräulein Klenke.

„Ich hole ein paar Kiffen aus meinen: Bett!"
entschloß sich Fräulein Mahlmann, die stark an
der Gicht litt und nun in ihr Zimmer humpelte,
um die Pfühle zu bringen.

„Wenn wir nur eine Flasche und einen Gummi-
sauger besäßen!" meinte Fräulein de Boer. „Das
arme Ding wird ja hungrig fein!"

Fräulein Schmitz entschloß sich, einen Versuch
zu machen, ob sie im nächsten Laden das Not-
wendige bekommen werde. Fräulein Trinkler
schürte das Feuer im Ofen, und Fräulein Kreidler
ging in die Küche, um eine Wärmeflasche zu be-
reiten.

, Selbst Fräulein Türeisen hielt es nicht länger.
Sie schüttelte die Bettstücke auf, die Fräulein
Mahlmann aus ihrem Bett herbeigetragen hatte,
legte sie in den Korb und machte dem Kinde ein
Bett, wie es sauberer und netter nicht sein konnte.


^Irmenbegräbnis

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Ionckrrrn "Delbrück

Niemals hatten die Wände des Stifts und die
alten Bilder an den Wänden so viel Unruhe und
Geschäftigkeit im Stift gesehen, wie an diesem
Abend, nur die Kerzen am Baume brannten still
und ruhig in festlich heiterem Glanze. Aber man
hatte kein Auge mehr für sie.

Als nun Flasche, Gummisauger und Milch
zur Stelle waren, entstanden lebhafte Meinungs-
verschiedenheiten. Einige meinten, die Milch
müsse bei einem so kleinen Kinde einen starken
Zusatz von Wasser haben, andere wollten wenig
Wasser zugesetzt haben und Fräulein Schmitz
bestand darauf, daß ein so ausgehungertes Wesen
reine Milch trinken müsse.

Mit atemloser Spannung beobachteten dann
alle lächelnd, wie das Kind trank. Wie es mit
zarten Fingern schon kräftig den Sauger um-
spannte! Wie gierig es trank und den kleinen
Mund beim Trinken drollig verzog, wobei es
ein Paar großer blauer Augen aufschlug!

Nachdem es sich satt getrunken, schlief es
wohlig matt von der Wärme der Kissen, ein, in
seinem Korbe.

Wie nun alles auf Zehenspitzen durch das
Zimmer ging! Nur im Flüstertöne unterhielt man
sich und hatte nun erst Zeit, ausführlich auf den
Fall zurückzukommen, was bei der Sorge um
das Kind bisher unmöglich gewesen war.

Fräulein Schmitz hatte den ganzen Tag schon
so eine Ahnung gehabt, daß etwas passieren

werde, Fräulein Mahlmann hatte es den
ganzen Morgen in der linken großen Zehe
gezuckt, und das hatte noch immer etwas zu
bedeuten gehabt. Fräulein de Boer endlich be-
hauptete, wenn des Morgens die Funken
unter dem Kessel liefen, so könne man sicher
sein, etwas Besonderes zu erleben. Und heute
hätten sie das getan, jedesmal wenn sie den
Kessel vom Feuer genommen.

Uber all dem aber erhob sich die eine
große Frage, was mit dem Kinde werden
solle?

Die meisten meinten, man müsse unbedingt
der Polizei Nachricht geben. Die werde das
Kind dann schon irgendwie unterbringen.

Aber andere wollten von dieser Art der
Fürsorge durchaus nichts wissen. Es sei nicht
unmöglich, daß das arme Wurm einer Zieh-
mutter übergeben würde und unter denen
sollte es ja wahre Rabenmütter geben!

Als man noch leise hin und her stritt,
meinte Fräulein Klockgater plötzlich, die selbst
das schlafende Kind noch nicht aus den
Augen lassen konnte, wie es denn wäre, wenn
man das Kind im Stift behielte? Das Sankt
Annenheim wäre doch reich genug, um neben
den zwölf Insassen so ein Wurm groß zu
machen. ^ Sie wenigstens habe keine Angst,
daß es ihr einmal das Brot schmälern würde
. . . Und die Arbeit wolle sie gern auf sich
nehmen. Sie hätte in ihrer Jugend schon ein
Kleines aufziehen müssen, ihre Schwester Doro-
thee, die vor ein paar Jahren an der Schwind-
sucht gestorben sei, und darum wisse sie wohl,
wie so kleine Wesen verhandhabt werden müßten ..

Der Gedanke, das Kind im Stift zu behalten,
war allen so neu, daß sich nur ein zaghafter
Widerspruch dagegen erhob. „Ja, ich weiß nicht
recht, ob wir —! Wenn die Verwaltung keinen
Widerspruch erhebt! Es ist ja vielleicht doch ein
wenig sonderbar, daß wir ein Kind hier im
Stift!" Aber es ließ sich bei näherem Zusehen
doch so wenig dagegen sagen, daß nach und
nach alle überzeugt waren, daß das der beste
Weg sei, den man auf jeden Fall versuchen solle.

„Wenn man es recht überlegt," sagte das alte
Fräulen Türeisen, „so liegt doch ganz gewiß
ein Wink des Schicksals darin, daß uns ein
Kind gewissermaßen unter den Weihnachtsbaum
gelegt wird."

„Nicht wahr? Nicht wahr?" sagten alle,
nickten mit den Köpfen und schauten voll Zärtlich-
keit nach dem Körbchen, wo der Säugling, un-
bekümmert um die Sorgen, die in den Herzen
seiner Hüterinnen umgingen, schlief und zuweilen
die Lippen zu einen: kaum merklichen Lächeln
verzog.

„Man müßte einmal mit den Herren von der
Verwaltung reden!" meinte Fräulein Schmitz
etwas vorlaut, worauf Fräulein Türeisen mit
der gebührenden Würde erklärte, daß sie nicht
verfehlen werde, das zu tun. Die Verwaltung
würde auch die übrigen Schritte zu tun wissen,
die nötig seien.

„Daß wir plötzlich ein Kind hier zu verpflegen
haben, ist eigentlich — nun, ich weiß nicht wie
ich mich ausdrücken soll, wie ein Märchen!" fuhr
Fräulein Türeisen fort. „Mir wenigstens ist
es so!"

„Mir auch!" sagte Fräulein Klenke, dieleicht
gerührt war, und wischte sich die Augen.

„Wenn alles so kommt, wie wir denken,"
nahm Fräulein Türeisen nach der kleinen Unter-
brechung ihre Rede wieder auf, „so wird das
Kind hier langsam heranwachsen, größer und
stärker werden, mit seinen Füßen das Stift durch-
messen, von einer Stube zur andern trippeln und
uns unsre Tage verschönen. Manche von uns
werden vielleicht darüber hinsterben, aber einige
werden es auch einmal groß und erwachsen sehen.
Aber das sind so Aussichten!" setzte sie trübe
lächelnd hinzu und schwieg, an den Tod denkend,
der ihr von allen am nächsten stand.

„Wir werden das Kind — das uns namen-
los übergeben wurde — taufen lassen, „fuhr sie
nach einer Pause fort „und ich denke, wir werden

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Register
Ferdinand Staeger: Illustration zum Text "Armenbegräbnis"
Joachim v. Delbrück: Armenbegräbnis
 
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