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TIeujat]rs=Pt]Uofoptjie

„Horcht, wie es wieder gährt im Zeitenschoße!
Ein neues Jahr ringt sich empor zum Licht.
Was wird es sein? — In einer neuen Sauce
Das alte, unverdauliche Gericht!"

So spricht der Pessimist und reiht verdrossen
Den letzten Zettel vom Kalenderblock,

Dann geht er hin und treibt Silvesterpossen,
Füllt sich den Bauch mit Karpfen und mit

Grogk.

Wie anders handelt da der Optimiste!

Er dankt dem Himmel für das alte Jahr
Und steigt vergnügt in seine Schlummerkiste
Und wacht erst wieder auf im Januar.

O Mensch, hast du den Unterschied begriffen?
Dann änd're dich, solange es noch Zeit!
Bald wird dein Lebensfaden abgekniffen,
Und dich verschlingt der Schlund der Ewigkeit!

Or. Landmann

vie drei Kanari

von Jul. Fr. Schütz

Die Kuratel ist eine gutbürgerliche Rcchtswohl-
tat: Dazu gehört erstens Geld, zweitens eine ge-
fü.,.volle, vielleicht sogar einflußreiche Verwandt-
schaft. Ohne Kreuzer keine Schweizer.

Nur manchmal verirrt sich das Taktgefühl der
bürgerlichen Kultur auch dorthin, wo man in An-
betracht der rustikalen Lebensverhällnisse unter
gewöhnlichen Umständen nicht die Voraussetzung
! gen zu dürfen glauben sollte . . . usw. Das
geht immer so fort. Das ist der Iuristenstil.

Der Moslbauer hielt einen Zettel in der Faust,
der lauter solche Sätze enthielt. Der Mostbauer
war ein alter Pfiffikus und hatte schon manches
Schriftstück in der Hand gehabt. Und so-
gar gelesen. Den Zettel aber drehte er
nach allen Seiten, schüttelte seinen grauen
Schädel und suchte sich über den Inhalt
klar zu werden.

Bezirksgericht Umgebung X 1. Dezem-
ber 191t.

... Mostbauer ... 5. Dezember 1911,

1/210 Uhr vormittags . . . Bezirksgericht
Umgebung X, VII. Stiege, V. Stock, Tür
Nr. 123 ...

Das andere war unleserlich. Wenigstens
für einen Nichtjuristen.

Was konnten die nur von ihm wollen?

Der Mostbauer holte sein schlechtes Ge-
wissen hervor: zwei Hasen gefangen, ein-
mal Milch gepanscht — aber das war ja
nichts. Höchstens das mit den zwei Hasen.

Wenn einer einen Gamsbock schießt, kriegt
er ja soviel wie für einen Totschlag. Also
die zwei Hasen — was war da zu machen?

Die waren längst den Weg des Irdischen
gegangen.

Stiege VII war eine Wendellreppe.

Dort gingen die Gläubigen der leidenden
und streitenden Justiz in dichten Wogen
auf und nieder. Ein Sachse hätte sich
die Stiefletten schwer nageln lassen und
einen Eispickel mitgenommen. Aber das
Bezirksgericht Umgebung X liegt nicht in
Sachsen.

Also das war Stiege VII. Stiege V
und VI waren baufällig und daher nur
zum Holztragen verwendbar, Stiege II,

III und IV waren noch nicht gebaut,
sondern harrten auf die Zeit, wo nian
durch die, durch die Zunahme der Bevöl-
kerungsziffer immer steigendere Frequenz
des Gerichts und durch die erhöhte In-
anspruchnahme aller Räume in die Notwen-
digkeit versetzt zu sein glauben wird... usw.

Stiege I war Galatreppe. Am Anfänge der-
selben war eine Marmortafel angebracht, die be-
sagte, daß am 1. April 1847, 3/4 12 Uhr vor-
mittags der Landesvater die Gnade gehabt zu
haben geruht habe, diese Stiege der Ehre seines
Namens würdigen zu wollen. Hinausgegangen
war noch nieuiand. Aber an der Stiege 1 wohnte
der Portier. —

Mit besorgter Miene stolperte der Mostbauer
im Gebäude des Bezirksgerichts herum, bis er
endlich über die Stiege VII in den Stock V ge-
langte und in das Trücherl spucken konnte, das
vor Tür Nr. 123 stand.

Er nahm den Hut in beide Hände und drückte
mit deni Ellbogen die Türklinke auf. Im Zimmer
waren drei Stühle, ein Schreibtisch, ein Akten-
kasten und ein Spucknapf. Neben dem Schreib-
tisch saß ein Kanzlist, in den Spucknapf spuckte
der Mostbauer. Sonst war es totenstill.

Der Mostbauer wurde belehrt, daß man warten
müsse. Wenn man dort aufgefordert wird zu
warten, so soll man sich einen Schlafsack holen
lassen. Es rentiert sich nämlich. Aber das wußte
der Mostbauer nicht.

Endlich kamen zwei Herren. Der eine hatte
einen dunklen Vollbart und sah sehr gutmütig
aus, der zweite war schlank, glattrasiert und trug
ein Monokel.

Die beiden Herren führten den Mostbauer in
das anstoßende Zimmer, der Kanzlist folgte.

Der Mostbauer räusperte sich und überlegte:
Hasen — Milch — Hasen —

Der Herr mit dem Monokel ging aus dein
Zimmer, der andere trat ans Fenster und trom-
melte auf den Scheiben. Es war sehr langweilig.

Hasen — Milch — Milch — Hasen —

„Zählen Sie mir drei gelbe Vögel auf!" —

Dem Mostbauer ging der Mund aus dem
Leim: drei gelbe Vögel — was wollte man eigent-
lich von ihm?

Aber der Herr betrachtete die Dächer der Nach-
barhäuser, und gähnte. Dann trommelte er wieder.

„Also —"

Deni Mostbauer trat der Schweiß auf die
Stirn. Seine zoologischen Kenntnisse waren zwar
tiefgründig, aber nicht umfassend.

„Also vorwärts —"

„Da erschte — dös is a Kanari."

„Iajajaja, also vorwärts!"

Nun war es vorbei mit dem Wissensschatz des
Mostbauern. Eine tiefe Stille entstand. Der Herr
trommelte, der Mostbauer dachte.

Aber plötzlich erhellte sich das runzlige Bauern-
gesicht: Nun hatte er sie: den zweiten und de»
dritten.

„Der zwoat — bös is da Säu von an Kanari."

Dann schwieg er eine Weile stillbeglückt, denn
er sparte mit seinem Wissensschatz. Die Tür hinter
ihm ging ans und zu, der Herr mit dem Monokel
war wieder eingetreten. Der Mostbauer war be-
seligt.

„Also vorwärts, wir haben keine Zeit zu ver-
lieren!" — Wieder das Trommeln.

Jetzt kam es, langsam und kostbar:

„Da dritt — dös is da Jung von an Kanari."

Nun war es gelungen. Der Mostbauer rieb
sich im Geiste die Hände.

Da schnarrte hinter ihm eine Stimme:

„Herr Medizinalrat, was haben Sie denn
um Gotteswillen gefragt?"

Der Herr mit dem Vollbart drehte sich um
und nach langem Einblick ins Protokoll gestand
er mit Würde:

„Drei gelbe Vögel."

„So — na, sehr schön," schnarrte der andere,
setzte sich neben den Kanzlisten und schob mit
ärgerlichem Ruck das große Tintenfaß beiseite:

„Der Geist des Gesetzes geht dahin, daß der
die Einvernahme leitende Richter sowie der unter-
suchende Arzt" — ein vernichtender Blick auf den
Bollbärtigen — „mit Klugheit und Verständnis
sich dem Geistesleben des Ktiranden nähere, um ihm
Vertrauen einzuflößen und so die Möglichkeit
einer sicheren Gewähr dafür zu bieten, daß usw."

Er sprach sehr lange. Dann sage er:

„Also Mostbauer, Ihr habt ja einen schönen
Besitz."

„Sex Joch Grund," erklärte der Moskauer.

„Sehr gut. Sie sind hier vorgeladen, um
uns zu beweisen, daß Sie jene unentbehrlichen
geistigen Qualitäten besitzen, roeldie Sie zu
Ihrem Berufe nötig haben, durch welche
Sie daher in die Lage versetzt sein müssen,
an der Hand Ihrer ökonomischen Erfah-
rungen einen entscheidenden Einblick in die
Chancen zu haben, die durch den Einfluß
des Klimas rc. im Laufe eines Jahres sich
darbieten. Sie werden uns daher folgende
Chance berechnen:

Sie besäen die 6 Joch mit Roggen, und
zwar dergestalt, daß auf jeden Quadrat-
dezimeter 8 Körner kommen. Bei normaler
Entwicklung jedes Samenkorns müßte die
Ernte 770°/» der Zahl jener Körner be>
tragen, die Sie gesät haben. Nun kommt
aber ein Hagelschlag und vernichtet auf
2'/- Joch 5'/2°/o der Samenkörner, auf
3'/- Joch aber 15°/» der kommenden
Frucht. Sie bekommen von der Ver-
sicherungsanstalt 60°/» des Schadens ver-
gütet, außerdem durch die Gnade des
Landesherrn eine Entschädigung für wei-
tere 25"/» des Schadens. Wenn nun in
einen Hektoliter 125,650 Roggenkörner
gehen, Sie aber den Hektoliter im Ver-
gleich zum Vorjahre um 4'/-°/» teurer
verkaufen, wieviel haben Sie, wenn Sie
die Steuern abrechnen, gewonnen?"

Jetzt aber konnte sich der Mostbauer
nimnier halten. Das Gesicht wurde blau-
rot vor Lachen, die dicken Tränen kugelten
ihm über die Wangen, er tippte bedeutungs-
voll an die Stirne und sagte endlich mit
vor Lachen gicksender Stimme das salo-
monische Wort:

„Wissen's ebba Sö's?" — —

Die Herren sahen einander betroffen
an und schwiegen lange. Dann wurde
der Mostbauer entlassen. Man sagt, daß
er nicht unter Kuratel gekommen sei. — —
Register
Robert v. Landmann: Neujahrs-Philosophie
Heinrich Kley: Prost Neujahr!
Julius Franz Schütz: Die drei Kanari
 
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