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Erinnerung

Da war es, wo die Dinge alle sangen,

Als wäre mir ein neues Ohr verlieh'»;
Hub aus des Wasserfalles Schleiern klangen,
Aus schwanken Blättern leise Melodien.
Mein Wesen war so innig aufgeschlossen,
Du warst mir nah, ich ahnte Dich noch kaum,
Die ganze Welt kam in mein Herz geflossen
In goldnen Wellen, wie ein Morgentraum.

Und wieder drängte Dir mein Herz entgegen
Mit tausendfach lebend'ger Frühlingssaat;
Des Baches Lied, des Waldes frischen Segen,
Den weiten, frohen Blick von Berges Grat,
Dir wollt' ich's dankbar hin zu Füßen legen,
Dein Hauch beseelte, was ich sann mck tat,
Und wie im Glanz ein Staubkorn

schwebt und flimmert,
War ich von Dir gehoben und durchschimmert.

Noch sehe ich das selt'ne Zweiblatt grüßen,
Du lächeltest, als ich es Dir gepflückt,

Noch schaue ich das Moos zu meinen Füßen
Und jeden Stein, nach dem ich mich gebückt;
Hör' noch den Wind durch schwarze

Tannen fahren
Und weiß, wie gläsern fein das Wasser scholl,
ilub fühle, wie vom heilig Wunderbaren
Mein Herz wie eine Quelle überschwoll.

Erika Rhcinsch

Capriccio

Bon Alexander Castell

Der Petersburg-Cannes Expreß hatte eben
Genua verlassen. Prinz Sergei, der die Nacht
schlecht geschlafen, richtete sich von seiner Couchelte
auf und ließ das Fensterrouleau in die Höhe.
Das Wetter war grau und Regentropfen hingen
an den Scheiben. Der Prinz streckte sich wieder
aus. Er schaute seitwärts nach der Weckeruhr,
die in einem Etui aus roten, Leder auf dent
Klapptisch stand. Es ging auf halb neun. ,Noch
fünf Stunden/ dachte der Prinz.

Er fühlte sich unbehaglich, übermüdet. Seit
Donnerstag Abend war er in diesem Zug, hatte im
Speisewagen schlecht gegessen, das Stampfen der
Räder hatte seine Nerven gequält, all das depri-
mierte ihn.

Er nahm einen Stock, der neben ihm aus
Fenster gelehnt war, und schlug dreimal an die
Kabinenwand. Nach einer Weile klopfte der
Diener an der Türe. Der Prinz glitt vom Bett
herunter und zog den Riegel.

Der Diener hielt ein Glas mit frischer Milch
in der Hand. Bor den Augen seines Herrn goß
er zwei Gläser Kognak hinein. Prinz Sergei
schlürfte, im _ Pyjama auf dem Bettrand sitzend,
die Flüssigkeit langsam ein. Trotzdem er groß
und körperlich eher robust war, machte er so den
Eindruck eines kranken Mannes.

Der Diener brachte heißes Wasser, der Prinz
begann seine Toilette. Als er fertig war, ging
er in den Couloir hinaus. Der Diener schloß
hinter ihm die Türe. Der Prinz trat in das
Salonkupee nebenan, nahm Zeitungen, die der
Diener in Genua gekauft hatte, und versuchte zu
lesen. Aber er hatte eigentlich seiner Lebtag nie
mit Genuß in einen» Zug lesen können. Nach
einer Weile stellte er sich wieder in den Couloir
ans Fenster. Der Zug fuhr hart dem Meer

entlang. Das Wasser schoß in großen gelblichen
Wogen her und brach sich in den Felsen.

Schon zwanzig Jahre machte der Prinz jeden
Winter diese Fahrt und jedesmal kan» er zur
Überzeugung, wie außerordentlich gefährlich dieses
Geleise angelegt sei; auf morschem Grund, dem
Wasser unheimlich »iah.

Eine Station flitzte vorbei. Frauen in Feier-
tagskleidern standen auf dem Bahnsteig und starr-
ten den gelben Waggons nach.

Prinz Sergei erinnerte sich plötzlich, daß es
Sonntag Morgen war. Zugleich dachte er: ,Zwei
Ahr achtzehn werde ich in Cannes sein/

Da hörte er die Türe des Compartiments
nebenan aufgehen. Ein Herr stellte sich neben
ihn. Er war rasiert, trug eine Brille, und war
mit einem hochgeschlossenen Gehrock in der Art
der englische!, Geistlichen gekleidet. Er war viel-
leicht in der Nacht in Mailand in den Zug ge-
stiegen. Das Kupee war bis Wien von einer
alten Dame, die mit einer Krankenschwester reiste,
bewohnt gewesen.

Prinz Sergei prüfte das Gesicht des andern
mit einem Seitenblick. Er hatte die Empfindung,
daß der Geistliche diesen Blick fühlte, und es war,
als ob seine Miene darob noch bescheidener und
devoter würde.

Der Prinz bekam einen Hustenanfall, der ihn
schüttelte, niederbeugte, der ihm das Gesicht ver-
zerrte und gegen den er wie in einem verächt-
lichen Zorn anknmpfte. Als er sich wieder auf-
richtete, begegneten sich die Blicke der beiden.
Der Geistliche schaute milde, teilnahmsvoll und
zugleich diskret. Aber gerade diese Diskretion
empfand der Prinz als eine Wohltat. Es war
ihm, als ob dieser Mensch, wenn er nun redete,
elwa sagen würde: ,Sie haben einen leichten
Husten, das ist stets etwas unangenehm.' Er
würde dabei seinen Worten kaum ein Gewicht
geben, so daß in ihnen alle Zurückhaltung au-
gesammclt bliebe und sie ganz ferne von der Tat-
sache waren, daß er eine schwere unheilbare Krank-
heit in seiner Brust trug, daß er vielleicht noch
ein, noch zwei Jahre zu leben hatte.

Der Geistliche starrte mit einem sanften, ruhigen
Blick auf die trübe, bewegte Wasserfläche hinaus.
Der Prinz dachte wieder: ,Es ist Sonntag/
Er empfand dabei die Nähe dieses Menschen gar
nicht unangenehm. Im Gegenteil. Er hatte seit
Donnerstag kaum mit jemandem gesprochen, hatte
nur Landschaften und Bahnhöfe gesehen. Dabei
war ein Geistlicher doch eine neutrale Erscheinung.

.Wenn er nun ein Wort redete/ überlegte de,
Prinz, ,würde ich ihm gerne Antwort geben!'

Er zog sein Etui und rauchte eine Zigarette.
Eben wollte er den Diener rufen, um Feuer
bitten, als ihm der andere seine Dienste aubot.

Der Prinz dankte ihm auf englisch. Der
Geistliche antwortete mit einer leisen Stimme rurd
lächelte dazu ganz charmant: „Ich rauche jede»
Abend nach Tisch meine Pfeife," sagte er. Der
Prinz äußerte, daß ihm persönlich das Rauchen
nicht sehr gut bekomme, er habe einen Katarrh
im Hals.

Da zog der andere eine kleine silberne Dose
und bot ihm schwarze Pastilleir au, die das beste
Mittel gegen Husten wären, da sie ihn selbst von
einem chronischen Katarrh geheilt hätten. Der
Prinz wehrte ab. Er dachte: ,Wie diskret er
ist, denn er muß doch ganz genau hören, daß
mein Übel in der Brust sitzt.' Sie sprachen von
England, von Politik, der Prinz fühlte sich etwas
müde und lud den Geistlichen ein, für eine Weile
in seinem Abteil Platz zu nehmen.

Der Zug hatte Savona noch nicht passiert als
ein Herr in einem dunklen Überrock, der sich aber
in seinem Äußeren — vielleicht was kleine Details
anbetraf — vom Publikum eines Expreßzuges
unterschied, die Couloirs entlang ging, da und
dort einen unauffälligen Blick in ein Abteil wars
und dabei auch den Geistlichen und den Prinzen
eine Sekunde laug mit Interesse betrachtete. Als
aber der Prinz den merkwürdigen Herr» erstaunt
anschaute, zog sich dieser zurück.

„Werden Sie in einer der englischen Kirchen au
der Riviera predigen?" fragte der Prinz nach
einer Weile.

„Rein," sagte der Geistliche, „der Aufenthalt
ist für mich nur eine Frage des Klimas." Er
erzählte, daß er von Deutschland her nach Mai-
land gekommen sei, um auf diesem Wege Nizza
zu erreichen.

Prinz Sergei, dem diese Begegnung eine ganz
ungewohnte Stimmung gab, in der ihm dieser
bescheidene Pastor wie eine höhere von irgend
einen» Zufall her gesandte Instanz zu einer Aus-
sprache erschien, die sein Herz, wie das jedes
kranken Menschen nötig hatte, sagte: „Auch ich
fahre zur Kur nach Cannes, schon viele Jahre
jeden Winter, früher als Gesunder, jetzt aber, seit
ich krank bin. . ."

Der andere machte eine Handbewegung, als
müßte er ihn an dieser Konfession verhindern.

Aber der Prinz lächelte: „Sie uiüssen es doch
gehört haben, daß ich schwer brustkrank bin? . ."

Der Geistliche zuckte bedauernd die Achseln.

Der Prinz hatte sich zurückgelehnt und starrte
vor sich hin: „Und doch erscheinen mir jetzt so
viele Dinge des Lebens in »»einen Zustand ganz
anders, als ich sie sonst je hätte sehen können.
Man wird sozusagen aufmerksamer, mensch-
licher .... können Sie das verstehen?" Der
Prinz trug eine gütige Miene zur Scha»», zu-
gleich eine gewisse Behaglichkeit, als vermöchten
ihn derart allgemeine Redensarten in diesen»
Augenblick wirklich zu beruhigen.

„Oh gewiß," bestätigte der andere. Sie sprachen
jetzt plötzlich französisch, als ob diese Sprache die
schmerzlichen Erfahrungen zarter, delikater aus-
zudrücken vermöchte.

„Man wird auch ruhiger," fuhr der Prinz
fort, „nichts kann einen mehr erschrecken oder
verblüffen, »venn nian sich erst mit den» Pein-
lichste»», mit den» Tod etwas abgefunden hat."

,,Gln»>bei» Sie das wirklich?" Der Geistliche
sah dem Prinzen zu»»» ersten Mal voll ins Gesicht.
Er sah, daß er ziemlich breit gebmit, die Nase
klein und etwas gebogen »var, die Augen über
ei»»er ge»vissen Kühle eine» — vielleicht nur in
seltenen Augenblicken vorhandenen weichen, fast
melancholischen Glanz zeigten.

Der Pri»»z nickte, als rvollte er auf seiner
Meinung verharren.

Da sagte der andere: „Ich könnte Sie sofort
in die größte Überraschung versetzen."

Der Prinz starrte ihn erstaunt an.
Register
Erika Spann-Rheinsch: Erinnerung
Fritz Burger-Mühlfeld: Reiterin
Alexander Castell (auch: Castel): Capriccio
 
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