Von Jules (Kopenhagen)
Ein altes, gemütliches Provinz-Cafe mit mo-
derner Ausstattung und elektrischem Licht. Der
Aintmann und der Oberst, zwei weißhaarige ele-
gante Junggesellen im Frack kommen, eifrig
flüsternd, aus dem Speisesaal. Sie setzen sich
auf das hohe Paneelsofa in der Ecke und stecken
die Köpfe zusammen.
„Ich versieh're dir. . sagt der Oberst.
„Unmöglich!" sagt der Amtmann.
„Auf Ehre!"
„Unmöglich — wir haben ihn ja bis auf den
letzten Tropfen ausgetrunken."
„Wir wollen den Wirt holen lassen."
Der Wirt kommt und stellt sich vor den Tisch
der beiden Herren. Diese erheben sich ein wenig
von ihren Sitzen und geben dem alten Manne
die Hand.
„Erinnern Sie sich unsrer noch, Herr Hansen?"
fragt der Oberst.
„O ja, Herr Oberst."
„Das ist nun viele Jahre her, seitdem wir
zwei Junggesellen hier am Abend zusammen-
saßen. Und jetzt hat uns auf unsre alten Tage
der Zufall hier in derselben Stadt wieder zu-
sammengeführt. Es sind viele Rumtoddys feit
jener Zeit auf den Strand geflossen . . ."
„Za, haha!" sagt Hansen.
„Aber hören Sie mal," der Oberst senkt die
Stimme, der Amtmann rückt näher heran, und
Hansen beugt sich lauschend über den Tisch —
„heut ist mein Geburtstag. Sie hat—ten einmal
einen alten Zamaika-Rum ..."
Hansen sieht zur Decke und denkt seinen Keller
durch. Die Augen der beiden Herren heften sich
an seinen emvorgewandten Blick, und der Oberst
zieht Hannen ungeduldig auf den Tisch hinab
und zischt:
„Haben Sie den noch?"
„Ich glaube."
„Er glaubt es," sagt der Oberst, als Hansen
gegangen ist, um den Keller zu untersuchen.
„Kannst du versteh'n, daß einer nicht ganz be-
stimmt weiß, ob er so eine Flasche Zamaika-Rum
in seinem Keller hat oder nicht?"
„Zch glaube, er hat ihn nicht mehr," sagt der
Amtmann, ein Skeptiker aus Prinzip.
Drüben im Cafe schlägt eine Türe zu. Es
ist Hansen. Erbringt eine Flasche, die aussieht, als
hätte sie tausend Zahre im Chausseegraben gelegen.
„Es ist die letzte."
„Die letzte."
Zn den Gesichtern der beiden Herren leuchtet
ein überirdisches Lächeln auf, das nur zeitweilig
dem Ausdruck der Angst und Spannung Platz
macht, als Hansen mit teuflischer Kaltblütigkeit
einen Pfropfenzieher in den morschen Kork hinab-
zubohren beginnt.
„Zn des Himmels Namen!" sagt der Oberst.
„Gott befohlen!" ruft der Amtmann.
Sie stoßen einen Seufzer der Erleichterung
aus, als der Kork mit leisem Schwappen aus
dem Flaschenhalse gleitet. Die Flasche wandert
hin und her zwischen den Nasen des Amtmanns
und des Obersten.
„Er ist's," sagt der Amtmann.
„Meiner Seel, er ist's!" bestätigt der Oberst.
Hansen zieht sich zurück in dem bescheidenen
Bewußtsein, daß sein weiterer Beistand nicht er-
forderlich ist. Die beiden Herren trinken das
erste Glas, das Hansen eingeschenkt hat, bevor
er sich entfernte. Zhre Gesichter spiegeln Glück-
seligkeiten mystischer Welten, während die Gold-
tropfen die alten Kehlen hinabrinnen und ein
singendes Gewirr erfreulicher Erinnerungen wecken.
Die beiden Herren fallen in einen Trancezustand.
Der Oberst wacht zuerst auf: „Er hat ihn
wahrhaftig noch gehabt!"
Auch der Amtmann kommt wieder zu sich: „Za,
ous muß ich sagen — das muß ich wirklich sagen!"
Der Oberst, der der Mutigste der beiden ist,
erhebt sich halb vom Sofa, umfaßt die Flasche
mit den Händen und füllt die Gläser, vor Er-
regung zitternd. Wieder trinken sie, verdrehn
die Augen und versinken in Trance.
Als der Oberst bei Verstände ist, meint er:
„Sollen wir die Flasche mit zu mir nach Hause
nehmen? Zch bin ja Geburtstagskind."
Man beschließt dementsprechend, und der Oberst
ruft den Wirt und fragt ihn, wieviel sie für die
Flasche zu zahlen haben. Hansen berechnet im
Kopfe die Zinsen und Zinseszinsen von Jahr-
hunderten.
„Zehn Kronen."
Der Amtmann ist nahe daran zu sagen: „Mehr
nicht?" und der Oberst hätte beinah gerufen:
„Das ist aber billig!" — aber es fällt ihnen noch
zur rechten Zeit ein, daß man auch ein bißchen
an sich selber denken müsse, und fast gleichzeitig
sagen sie: „Das ist übrigens teuer!"
Die Flasche wird in eine Zeitung gewickelt,
und die Herren ziehen ihre Uberzieher an.
„Wer soll sie tragen?" fragt der Oberst.
„Das kannst du tun," erwidert der Amtmann.
„So was-verstehst du besser!"
Vorsichtig nimmt der Oberst die Flasche und
legt sie sanft in seinen linken Arm.
„Gib acht," warnt der Amtmann, „sie liegt
schief!"
„Uff!" sagt der Oberst. „Du machst mich
ganz nervös."
Und als sie draußen sind und der Oberst auf
dem glatten Trottoir beinah ausgleitet, ruft er
zornig: „Aber das will ich dir sagen: den ganzen
Weg trag' ich sie nicht!"
„Doch, das mußt du! Du weißt ja, mein
Arm ... die Gicht . . . Gluckste es drinnen?"
„Za, es hat gegluckst . . . haha!" antwortet
der Oberst.
Und der Amtmann, der nicht nur ein großer
Skeptiker ist, sondern auch immer große Angst
davor hat, zerbrechliche und kostbare Gegenstände
anzufassen, und der daher ordentlich aufgeräumt
ist bei dem Gedanken, daß der Oberst die Flasche
doch wohl den ganzen Weg nach Hause tragen
werde, bekommt plötzlich Lust, den Ernst der
Situation durch einen kleinen Witz, den er auf
der Lippe hat, zu unterbrechen:
„Man sollte meinen, du hättest ein kleines
Kind gekriegt, Oberst!"
Der Oberst bleibt auf dem Trottoir stehen,
verbissen — erbittert; denn es ist betrüblich, mit
ansehen zu müssen, wie sorglos der andre ist,
während man selber die ganze Verantwortung
zu tragen hat. Er legt die rechte Hand be-
schwichtigend auf die Flasche und sagt:
„Hör mal, lieber Amtmann, wir kennen ein-
ander seit unsrer frühesten Zugend, aber es gibt
gewisse Punkte in deinem Charakter, aus denen
ich nicht klug werden kann. Offen gestanden,
findest du — ich frage dich — findest du, daß
jetzt der Augenblick ist zu spaßen? Findest du?"
Der Oberst bebt vor Indignation, und der
Amtsmann ist beschämt: „Zch dachte . . ."
„Dachte, dachte, dachte! Aber sei dann doch
wenigstens so gut, mich nicht zu stören, solange
ich hier gehe und trage!"
„Aber . . ."
Der Oberst stampft auf die Erde: „Sie ver-
trägt es nicht — es schadet ihr!"
Die beiden alten Herren gewinnen ihr be-
drohtes seelisches Gleichgewicht erst wieder, als
die beschmutzte Flasche heil und glücklich auf dem
Tisch im Rauchzimmer des Obersten gelandet ist.
Da muß auch der Oberst zugeben, daß es
ist, als ob sie ein lebendes Wesen mit nach Hause
gebracht hätten.
„Sieh doch das Kind!" sagt er mit gedämpfter
Stimme. „Sieh, wie wundervoll dreckig es ist!"
(Deutsch von Hermann Kiy)
843
Ein altes, gemütliches Provinz-Cafe mit mo-
derner Ausstattung und elektrischem Licht. Der
Aintmann und der Oberst, zwei weißhaarige ele-
gante Junggesellen im Frack kommen, eifrig
flüsternd, aus dem Speisesaal. Sie setzen sich
auf das hohe Paneelsofa in der Ecke und stecken
die Köpfe zusammen.
„Ich versieh're dir. . sagt der Oberst.
„Unmöglich!" sagt der Amtmann.
„Auf Ehre!"
„Unmöglich — wir haben ihn ja bis auf den
letzten Tropfen ausgetrunken."
„Wir wollen den Wirt holen lassen."
Der Wirt kommt und stellt sich vor den Tisch
der beiden Herren. Diese erheben sich ein wenig
von ihren Sitzen und geben dem alten Manne
die Hand.
„Erinnern Sie sich unsrer noch, Herr Hansen?"
fragt der Oberst.
„O ja, Herr Oberst."
„Das ist nun viele Jahre her, seitdem wir
zwei Junggesellen hier am Abend zusammen-
saßen. Und jetzt hat uns auf unsre alten Tage
der Zufall hier in derselben Stadt wieder zu-
sammengeführt. Es sind viele Rumtoddys feit
jener Zeit auf den Strand geflossen . . ."
„Za, haha!" sagt Hansen.
„Aber hören Sie mal," der Oberst senkt die
Stimme, der Amtmann rückt näher heran, und
Hansen beugt sich lauschend über den Tisch —
„heut ist mein Geburtstag. Sie hat—ten einmal
einen alten Zamaika-Rum ..."
Hansen sieht zur Decke und denkt seinen Keller
durch. Die Augen der beiden Herren heften sich
an seinen emvorgewandten Blick, und der Oberst
zieht Hannen ungeduldig auf den Tisch hinab
und zischt:
„Haben Sie den noch?"
„Ich glaube."
„Er glaubt es," sagt der Oberst, als Hansen
gegangen ist, um den Keller zu untersuchen.
„Kannst du versteh'n, daß einer nicht ganz be-
stimmt weiß, ob er so eine Flasche Zamaika-Rum
in seinem Keller hat oder nicht?"
„Zch glaube, er hat ihn nicht mehr," sagt der
Amtmann, ein Skeptiker aus Prinzip.
Drüben im Cafe schlägt eine Türe zu. Es
ist Hansen. Erbringt eine Flasche, die aussieht, als
hätte sie tausend Zahre im Chausseegraben gelegen.
„Es ist die letzte."
„Die letzte."
Zn den Gesichtern der beiden Herren leuchtet
ein überirdisches Lächeln auf, das nur zeitweilig
dem Ausdruck der Angst und Spannung Platz
macht, als Hansen mit teuflischer Kaltblütigkeit
einen Pfropfenzieher in den morschen Kork hinab-
zubohren beginnt.
„Zn des Himmels Namen!" sagt der Oberst.
„Gott befohlen!" ruft der Amtmann.
Sie stoßen einen Seufzer der Erleichterung
aus, als der Kork mit leisem Schwappen aus
dem Flaschenhalse gleitet. Die Flasche wandert
hin und her zwischen den Nasen des Amtmanns
und des Obersten.
„Er ist's," sagt der Amtmann.
„Meiner Seel, er ist's!" bestätigt der Oberst.
Hansen zieht sich zurück in dem bescheidenen
Bewußtsein, daß sein weiterer Beistand nicht er-
forderlich ist. Die beiden Herren trinken das
erste Glas, das Hansen eingeschenkt hat, bevor
er sich entfernte. Zhre Gesichter spiegeln Glück-
seligkeiten mystischer Welten, während die Gold-
tropfen die alten Kehlen hinabrinnen und ein
singendes Gewirr erfreulicher Erinnerungen wecken.
Die beiden Herren fallen in einen Trancezustand.
Der Oberst wacht zuerst auf: „Er hat ihn
wahrhaftig noch gehabt!"
Auch der Amtmann kommt wieder zu sich: „Za,
ous muß ich sagen — das muß ich wirklich sagen!"
Der Oberst, der der Mutigste der beiden ist,
erhebt sich halb vom Sofa, umfaßt die Flasche
mit den Händen und füllt die Gläser, vor Er-
regung zitternd. Wieder trinken sie, verdrehn
die Augen und versinken in Trance.
Als der Oberst bei Verstände ist, meint er:
„Sollen wir die Flasche mit zu mir nach Hause
nehmen? Zch bin ja Geburtstagskind."
Man beschließt dementsprechend, und der Oberst
ruft den Wirt und fragt ihn, wieviel sie für die
Flasche zu zahlen haben. Hansen berechnet im
Kopfe die Zinsen und Zinseszinsen von Jahr-
hunderten.
„Zehn Kronen."
Der Amtmann ist nahe daran zu sagen: „Mehr
nicht?" und der Oberst hätte beinah gerufen:
„Das ist aber billig!" — aber es fällt ihnen noch
zur rechten Zeit ein, daß man auch ein bißchen
an sich selber denken müsse, und fast gleichzeitig
sagen sie: „Das ist übrigens teuer!"
Die Flasche wird in eine Zeitung gewickelt,
und die Herren ziehen ihre Uberzieher an.
„Wer soll sie tragen?" fragt der Oberst.
„Das kannst du tun," erwidert der Amtmann.
„So was-verstehst du besser!"
Vorsichtig nimmt der Oberst die Flasche und
legt sie sanft in seinen linken Arm.
„Gib acht," warnt der Amtmann, „sie liegt
schief!"
„Uff!" sagt der Oberst. „Du machst mich
ganz nervös."
Und als sie draußen sind und der Oberst auf
dem glatten Trottoir beinah ausgleitet, ruft er
zornig: „Aber das will ich dir sagen: den ganzen
Weg trag' ich sie nicht!"
„Doch, das mußt du! Du weißt ja, mein
Arm ... die Gicht . . . Gluckste es drinnen?"
„Za, es hat gegluckst . . . haha!" antwortet
der Oberst.
Und der Amtmann, der nicht nur ein großer
Skeptiker ist, sondern auch immer große Angst
davor hat, zerbrechliche und kostbare Gegenstände
anzufassen, und der daher ordentlich aufgeräumt
ist bei dem Gedanken, daß der Oberst die Flasche
doch wohl den ganzen Weg nach Hause tragen
werde, bekommt plötzlich Lust, den Ernst der
Situation durch einen kleinen Witz, den er auf
der Lippe hat, zu unterbrechen:
„Man sollte meinen, du hättest ein kleines
Kind gekriegt, Oberst!"
Der Oberst bleibt auf dem Trottoir stehen,
verbissen — erbittert; denn es ist betrüblich, mit
ansehen zu müssen, wie sorglos der andre ist,
während man selber die ganze Verantwortung
zu tragen hat. Er legt die rechte Hand be-
schwichtigend auf die Flasche und sagt:
„Hör mal, lieber Amtmann, wir kennen ein-
ander seit unsrer frühesten Zugend, aber es gibt
gewisse Punkte in deinem Charakter, aus denen
ich nicht klug werden kann. Offen gestanden,
findest du — ich frage dich — findest du, daß
jetzt der Augenblick ist zu spaßen? Findest du?"
Der Oberst bebt vor Indignation, und der
Amtsmann ist beschämt: „Zch dachte . . ."
„Dachte, dachte, dachte! Aber sei dann doch
wenigstens so gut, mich nicht zu stören, solange
ich hier gehe und trage!"
„Aber . . ."
Der Oberst stampft auf die Erde: „Sie ver-
trägt es nicht — es schadet ihr!"
Die beiden alten Herren gewinnen ihr be-
drohtes seelisches Gleichgewicht erst wieder, als
die beschmutzte Flasche heil und glücklich auf dem
Tisch im Rauchzimmer des Obersten gelandet ist.
Da muß auch der Oberst zugeben, daß es
ist, als ob sie ein lebendes Wesen mit nach Hause
gebracht hätten.
„Sieh doch das Kind!" sagt er mit gedämpfter
Stimme. „Sieh, wie wundervoll dreckig es ist!"
(Deutsch von Hermann Kiy)
843