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Verlorene Liede

Die Nymphe, die zur Mitternacht
Ein kalter Marmor stand,

Ging selig, da der Tag erwacht,

Ins sonnentrunkne Land.

Ging Wege, die mein Herz sich wo
Für Wunder froh gedacht,

Und ging aus goldenem Tage so
Aufs neue in die Nacht.

Ward wie der Stein und kalt und stumm,
Ward wieder blind und schwer —

Wann ist die lange Nacht herum?

O Seele, nimmermehr . . .

Victor Hardung

Traurige Heiken

Des Lebens Sinn: ein Morgenblick zum Himmel,
Ob Sonne wird, ob nicht, Blauhimmelglück,
Trübwolkendumpfheit, Dunkel oder Licht.

Und ob nun Sonne scheint, ob Regen rauscht,
Einsamer Weitertrott dem Grabe zu.

Unnahbar drüber thront ein ernster Gott.

Und jenseits deines Grabs? Starr sucht dein Blick.
Leucht' endlich auf, du ewiges Sterngefunkel!

Es ist nichts ewig als das ewige Dunkel ....

Hugo Salus

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Von Svend Fleuron

vertrauen

Ein Kleiner Bluthänfling hat im Dorn-
busch dicht am Wege Wohnung genommen.
Das nenn ich Vertrauen!

Denn der Busch steht offen da, und halb-
nackt ist er noch — nur ein Gestell zu einem
grünen Sonnenschirm.

Schon von weitem springt das Nest in

die Augen.-Die Halbkugel aus Stroh,

in einen Gabelast hineingepreßt, glänzt und
erzählt, daß sie neu ist.

Im Borbeigehn guck ich hinab:

Ja, der Vogel liegt da; er drückt und
macht sich klein; wird ängstlich. . .

„Nein, er geht vorbei! Er hat mich ge-
wiß nicht gesehen!"

Welch rührendes Vertrauen. . .

Zu den Dornen des Dornbuschs, den
schützenden... zur Mutter Natur, die binnen
drei Tagen das grüne Versteck bereit haben
wird.

Zum Menschen?

Niemals!

Raulquappen

Pünktchen an Pünktchen, stehen da unten
die schwarzen Köpfe. Und die dünnen Schwänze
krümmen und schlängeln und winden sich in
flimmernder Unendlichkeit.

Am Ufer entlang, in dem lauwarmen
Wasser, schwimmt der Schwarm, rund und

tief und dicht — biegt dann ein Ende zur
Seite, rennt im ovalen Bogen rund, und
läuft zuletzt in sich selbst zurück.

Kreislauf. . .

Leben . . .

Unaufhörlich.

Was treiben denn die Bürschchen?

Der liebe Gott mag's wissen!

Vorwärts, vorwärts und wieder vorwärts:
vor den andern, um den nächsten herum,
vorüber — drauf los, nicht gefaulenzt. . .

Ist etwas geschehn?

Weiß es nicht!

Warum rennst du?

Weil die andern rennen!

Man biegt ein ... im Bogen herum ...
und zurück zu der Stelle, von wo man kam.

Kaulquappen!

Abgestorben

Nicht viel war übrig von der alten Esche.

Alles: das Gewölbe der Krone, Aste und
Zweige, ja selbst die Rinde sank hinab —
und stehen blieb nur der Rest von Stamm,
dessen Aststümpfe nackt und unheimlich in
die Luft starrten, dem Himmel zum Zeugnis,
daß der Jungwald der Esche das Leben stahl.

Aber einst. . .

Ja, einst fegte die Esche die Wolke dort
oben, die Raben bauten ihre Nester in der
gewaltigen Krone, und in den Spalten des
Wurzelwerks fand der Sauerklee ein üppiges
Heim. Geschlecht auf Geschlecht spielte zu
Füßen der Esche, ritzte Runen in ihre harten
Flanken, eilte zum Stelldichein unter ihre
schimmernde Wölbung... Jetzt mochte nicht
einmal der Specht sie besuchen!

Das nennt man im Walde: vergessen!

(Deutsch von H. Kiy)

cHßenö

Die Stille lebt, die Stille spricht:

Merk' auf, nun will dein Herz erklingen.

Im Westen schmilzt das spate Licht;

Die ferne Liebe will dir singen

Der Heimkehr süßen Schlafgesang.

O dämpfe dich und hör' ihm zu!

Ein Tag verging, ein Tag gelang;

Zu Traum und Liebe, Nacht, gib Ruh!

Wilhelm Michel

Welke Kastanienblätter tanzen durch das
schmale, hochvergitterte Gehege, in dem Ruß, der
Elchgabler, steht. Man taufte ihn Ruß, weil ihn
ein russischer Großfürst, dessen Name an der
Außenseite des Gitters auf schwarzer Tafel prangt,
dem zoologischen Garten gestiftet hat.

Die gewaltige Ramsnase gegen die Draht-
wand seines Kerkers gedrückt, schaut Ruß aus
seinen kleinen listigen Schweinsaugen zu dem
alten Wapiti hinüber, der mit klagendem Brunst-
schrei rastlos durch sein Gefängnis wandert.

Der hat doch wenigstens etwas Platz in seinem
Gehege, Ruß aber kann mit sechs seiner weit-
ausgreifenden Stelzschritte seinen Kerker bequem
durchmessen, und die schwüle Hitze seines Blutes
lechzt doch nach Bewegung, nach ausgiebigem
Troll auf weiten, freien Flächen.

Für die beiden Pfauen und die paar Perl-
hühner, die ihr Gehege neben dem seinen haben,
ist überreichlich gesorgt; ihn aber, den Riesen,
sperrt man in diesen kleinen Verschlag.

Mürrisch wendet er sich zu dem inneren,
niedrigen Gitter, das ihn von seinen Vogel-
nachbarn trennt, stemmt sich mit gesenktem Ge'
weih gegen die Drahtwand, tritt bedächtig zu-
rück, reckt sich hoch auf und-über-

fällt plötzlich mit steifem Sprung das lästige
Hindernis.

Hei, wie die Pfauen flattern und die Perl-
hühner rennen! Ruß freut sich über die Ver-
wirrung, die er angerichtet und wandert gemäch-
lich durch sein erobertes Reich . . .

In besten Mitte steht hoch und ausladend ein
starker Schneeballenstrauch wie ein breitspuriger
Gegner. Kampflustig schreitet Ruß drauf los ...
ein unwiderstehliches Verlangen überkommt ihn,
daran sein Geweih zu erproben. Jetzt steht er
dicht vor dem Strauch und gabelt gereizt durch
die schnellenden Zweige, doch ohne Widerstand
zu finden gleitet der Stoß in die Luft. Ärgerlich
tritt Ruß in den schwankenden Busch hinein ...
ah, jetzt geht es schon bester! Äste knicken,
Blätter stieben, weiße Früchte kugeln dutzend-
weise zu Boden, aber noch immer hat der erboste
Elch nicht genug. Tiefer tritt er hinein in den
Busch, reitet den Hauptstamm nieder, fetzt mit
scharfer Gabel durchs Gezweige, und je weiter sein
Zerstörungswerk fortschreitet, desto mehr wächst
seine Wut. Nicht mehr einen widerspenstigen
Busch, der ihm im Wege steht, einen ebenbürtigen
Gegner, einen Elch sieht Ruß vor sich, der ihm

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Register
Wilhelm Michel: Abend
Hermann Kiy: Im Freien
Svend Fleuron: Im Freien
Hugo Salus: Traurige Zeilen
Victor Hardung: Verlorene Liebe
Arthur Schubart: Ruß
Paul Segieth: Vignette
 
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