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-Abstammung

Wir sind nur Blüten an einem Baum:

Ein Jeder träumt seinen Blütentraum
Und weiß nicht viel vom Andern;

Wir brechen hervor aus Zweiglein und Ast,
Wir fühlen der Blätter und Blättchen Getast
Und der Winde und Wolken Wandern.

Der Baum der Menschheit, der uns trägt,
Der Sturmwind Tod, der uns niederfegt,
Sind's, die unser Dasein umründen.

Wir stanunen aus Erde und Himmelslicht,
Mehr wissen auch unsere Weisesten nicht:
Den Stanun konnte keiner ergründen.

Ludwig Scharf

fjomunculus

Von Alfred Manns

Mit heißen, müden Augen saß Doktor Berthold
Imag vor seinem großen Mikroskop und starrte
voll ungeheurer Spannung durch das Okular. Sn
der Hand hielt der junge Gelehrte ein Capillar-
Tropfröhrchen, in dem sich eine seltsam rötliche
Flüssigkeit befand und das Berthold von Zeit
zu Zeit dem Beobachtungsobjekt auf dem Glas-
plättchen näherte.

Plötzlich sprang er auf. „Kein Zweifel," mur-
melte er, „mein Crescentin verwandelt die Kraft
der Teilungsfortpflanzung bei diesen runden Ein-
zellern in eine Kraft der Fortentwicklung. Das
ist nicht bloß Teilung — ein festes organisches
Gefüge baut sich aus vielen Zellen auf! — Da
üben gewisse Zellgruppen ganz bestiimnte Funk-
tionen aus! Nicht mehr der Gesamtkörper ist es,
der sich fortbewegt — fadenförmige Randteile ver-
treten bereits die Stelle der Gliedmaßen-"

Zmag schwindelte es; etwas Unerhörtes war
geschehen: Alle Versuche, die zur Umformung be-
stehender Arten führten, waren unter Ausnutzung
bekannter Naturgesetze durch die Natur selbst aus-
geführt. Er, Berthold, war der erste, dem cs ge-
lungen, mit Hilfe der Chemie, die schöpferischen
Entwicklungskräfte willkürlich zu beeinflußen, ganz
im kleinen natürlich nur, aber: welche Perspek-
tiven eröffneten sich!

Alle Gegenstände im Zimmer schienen sich vor
den Augen des Naturforschers zu drehen: „Mit
meinem Crescentin tut sich ein ganz neuer Zweig
der Wissenschaft auf, die Experimental-Anthro-
pologie!" schrie er begeistert. Dann entnahm er
seinen Reinkulturen eine neue Kolonie von Mikro-
ben, legte sie unter das Mikroskop, tat von der
roten Flüssigkeit hinzu und beobachtete abermals:
Die einzelnen Kernzellen spalteten sich im Innern,
vermehrten sich, wuchsen und, was war das, bil-
deten sich nicht da regelrechte Gliedmaßen aus? —
Noch ein Atömchen Crescentin. — Ein Tierchen
war besonders stark und füllte bald das ganze
Gesichtsfeld aus, seine Durchsichtigkeit hatte es
längst verloren, doch die Seitenspiegel belichteten
es noch eine Zeitlang und jetzt, wahrhaftig, das
waren wirkliche Ruderfüßchen und Facetteaugen,
auch Kiefer ließen sich erkennen.

Der Gelehrte zitterte so heftig, daß er den
ganzen Rest seines Präparates aus der Pipette
auf das Glasplättchen spritzte. Doch er merkte
es nicht, denn er war gezwungen, sich auf dem
Stuhle zurückzulehnen und die Augen zu schließen;
das Gesehene drohte ihm den Verstand zu ver-
wirren und machte ihn unfähig zu weiteren Be-
obachtungen. So hörte er nicht das Klirren des
Glases und ein sonderbares Krabbeln, Rutschen
und endlich Poltern. Erst als das Mikroskop
umfiel, öffnete er die Augen und da sah er: einen

K. Arnold

nackten Menschen, der auf der Tischkante saß
und ihn groß anblickte.

Die Glieder des Geschöpfes waren zart, aber
von einer herrlichen Ebenmäßigkeit; am auf-
fallendsten aber waren die wunderbaren Augen,
und die gewaltigen Ausmessungen des Schädels,
die indessen nichts Pathologisch-Makrocephales
an sich hatten.

Ein Schauer der Ehrfurcht durchrieselte Ber-
thold. Dem großen Weltgeist hatte es gefallen,
ihm die Lösung des Schöpfungsrätsels zu geben,
ihm, der sich zu diesem Meisterwerk verhielt, wie
ein Australneger zu einem Kaukasier. Ja, die
Geheimnisse. des Werdens waren enthüllt, zwar
nicht ursächlich, aber doch effektiv.

Atemlos saß Dr. Imag, er wagte sich nicht
zu rühren und wartete auf die ersten Äußerungen
des Intellekts mit einer Aufregung, die noch zehn-
mal größer war, als vorhin, wie er die erste
Wirkung des Crescentin wahrnahm.

Eine Weile herrschte Totenstille im Raum,
dann ertönte eine sonderbar rauhe, krächzende
Kehlstimme:

„Nein, wirklich, lieber Mann, Sie muffen
nicht von mir erwarten, daß ich mich über mein
Dasein wundere, ich bin darüber viel mehr im
klaren, als Sie es sind. Gewundert habe ich
mich nur eine kurze Zeit darüber, daß Sie mich
durch Ihre Verständnislosigkeit dazu zwingen,
mich der kümmerlichen, atavistischen Reste meines
Sprechvermögens zu erinnern. Ihre niedrige
spirituelle Organisation war mir nicht sofort ge-
läufig, trotzdem ich meine Gedankenwellen mit
beleidigender Deutlichkeit mehrere Male erfolglos
gegen Ihren Hirnbehälter geworfen habe. Nun
denn, so sei es gesagt: Wollen Sie mir nicht
eine Hose leihen?"

Berthold Imag war beleidigt, aber er erhob sich
und holte einige Garderobe. „Von Ihnen hätte
ich zu allerletzt Kränkungen erwartet," konnte er
sich nicht enthalten, zu sagen, „wenn Sie aus sich
heraus die fertige, höchstmögliche Geistesentwick-
lung mitbringen, so sollten Sie doch wissen, daß
Sie meiner exakten Forschung Ihr Dasein ver-
danken."

Während das wunderbare Geschöpf sich etwas
umständlich ankleidete, antwortete es:

„Ach so. auf Ihrer Entwicklungsstufe ist man
noch sentimental-"

„Sentimental?"

„Na ja, natürlich, wenn Sie die Gedanken
Ihrer Mitmenschen stets in ihrer ganzen Ur-
sprünglichkeit vor sich hätten, würden Sie sich
daran gewöhnen, alle Wahrheiten zu ertragen,
subjektive, schöne und häßliche. Für Sie ist das
unfaßbar, ein Zustand der Lügenlosigkeit wäre
für Sie eine Hölle, Ihr ganzes Innenleben ist
nicht auf Wahrheiten aufgebaut, sondern auf Ge-
fühlen. Da glauben Sie zum Beispiel allen Ern-
stes, daß Sie in mir das Resultat Ihrer ,ernkten

Forschung* vor sich haben und halten mich Ihnen
zu Danke verpflichtet, während Sie tatsächlich
nur mit wenig Kombination und unglaublich viel
Zufall den Extrakt der Menschenwerdung, das
Anthropologin entdeckt haben. Wirklich, es hat
nichts Berückendes für mich, als einziger eine
Million Jahre zu früh geboren zu sein. Denken
Sie einmal, Sie würden plötzlich in Ihrem Ent-
wicklungsstadium unter die Menschen der Stein-
zeit versetzt. Sind Sie der Ansicht, daß Sie sich
unter ihnen dauernd wohlfühlen würden?"

Doktor Inmg war völlig niedergeschlagen.
„Aber ist es denn so schlimm?" fragte er be-
scheiden. „Wir haben doch schon recht Tüchtiges
geleistet: Mit feindurchdachien Apparaten durch-
fliegen wir die Luft: mit — — —"

„Halt," unterbrach der Wunderniensch Bert-
hold kopfschüttelnd, „bleiben wir erst einmal bei
der Luft. Ich will Ihre Empfindsamkeit nicht
verletzen, die zu Ihrem Wesen nun einmal in
demselben Maße gehört, wie die Tatsache, daß
die Embryonenhaftigkeit Ihrer psychischen Fluid-
kräfte Sie zwingt, die unerkannten, scheinbar-
feindlichen Naturgesetze durch ebenso stümper-
hafte wie komplizierte Mittelchen zu bekämpfen,
anstatt in ihnen den Bundesgenossen zu suchen.
Die konkreten Wirkungen meiner reingeistigen
Willensfähigkeit verhalten sich zu den Kräften
Ihrer gewaltigsten Maschinen, wie diese zu dem
Hammer des Steinzeitmenschen. Ihr gerühmtes
Fliegen nun gar, war schon ein paar hundert-
tausend Jahre vor meinem Zeitalter höchster mensch-
licher Vollendung kein Problem mehr, schon da-
mals hatte der Geist Gewalt über die Materie
erlangt, schon damals ward mit dem Kinde die
unwillkürliche Fähigkeit geboren, die Wirkung
des Erdmagnetismus auf die Molekulargewichte
der Körpersubstanz nach Belieben zu verändern
oder aufzuheben. Diese Fähigkeit auf die tan-
gential wirkende Erdrotation angewandt, ist das
,Fliegen* meiner Zeit."

Mit diesen Worten erhob sich die Gestalt des
Sprechenden langsam vom Erdboden und stieg,
ohne ein Glied zu rühren, zur Decke empor.

Imag faßte sich an die Stirn: „Das ist un-
erhört. unfaßbar-"

„Aber nicht im mindesten," schnarrte es von
oben. „Denken Sie einmal reiflich nach und Sie
müssen mir zugeben: bei weitem wunderbarer ist
der Umstand, daß und wie die Milliarden Zellen
Ihres Gewebes, teils selbst schaffend, teils von
Ihrem Willen beeinflußt, in den Gesamtfunktionen
Ihr animalisches Leben und Ihre Psyche dar-
stellen. Die Gewöhnung hat Sie zu einer sonder-
baren Resignation gebracht, während Sie über
die einfachsten und elementarsten Dinge schier das
bißchen Verstand verlieren wollen."

„Sie haben Recht." stöhnte der Gelehrte ver-
zweifelt ; schüchtern wies er auf ein wundervolles
Fernrohr in einem kleinen Observatorium.

„Ist das auch nichts? Der Mond erscheint
nur 100 Kilometer weit."

„Lieber Freund," entgegnete der andere, „meine
Netzhaut hat helio-aktive Fähigkeiten. Für mein
Auge existiert keine Atmosphäre, keine Perspektive,
keine Entfernungen, ich sehe die Dinge im ganzen
Weltenraume wie sie sind. Überhaupt gibt es
keine Fähigkeit, die der Mensch nicht durch die
Gewalt seines Willens erlangen könnte, voraus-
gesetzt, daß er es intensiv genug will und die
kurze Spanne von einigen hunderttausend Jahren
nicht als eine zu große Geduldsprobe ansieht. Je
niedriger nun die Entwicklungsstufe der Menschen,
um so geringer ist die Intensität der fluidalen,
empororganisierenden Willenskräfte, um so mehr
Zeit ist also auch zur Hervorbringung einer be-
stimmten Wirkung erforderlich. Glauben Sie mir,
die langsame, unbewußte Ilmformung eines Ur-
tierchens in ein darmloses ist ein ungleich rätsel-
hafterer Vorgang als die Erkennung und Aus-
nutzung der sogenannten Naturgeheimnisse durch
ein vollorganisiertes Wesen."

„Wenn Sie Recht haben, sind Sie also das
absolut vollkommene Zukunftsgeschöpf?"
Register
Karl Arnold: Vignette
Alfred Manns: Homunculus
Ludwig Scharf: Abstammung
 
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