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„Erlaucht haben dem Herrn Konuner-
zienrat ein Glas an den Kopf geworfen,"
sagte er, als erkläre er einem neuhinzuge-
konnnenen Gast den Gang der Handlung.

„Sie haben mich falsch verstanden, Herr
Graf," rief Gaston Flinsberg schmerzlich lä-
chelnd, und das Blut rieselte ihm aus der
Serviette, die er nun wie eine Dornenkrone
über dem tierhaft verstörten Antlitz trug. „Er-
laucht haben nicht alles begriffen, was ich
vorgetragen habe. Das sehe ich daraus, daß
Sie mir das Glas au den Kopf geworfen
haben. Ich habe hier vor allen meinen
Gästen Zeugnis dafür abgelegt, daß meine
Frau nur aus Verzweiflung eine Hure ge-
worden ist, weil sie zu mir in das Haus
gekommen war und darin gewohnt, gespeist,
geschlafen, gebetet, zwei Kinder geboren und
sie auferzogen hat, — ich danke ihr, daß sie
nur meine Kinder gut auferzogen hat und
sie die Not ihres Herzens nicht hat entgelten
lassen. Es sind häßlich gewachsene Kinder
mit jüdischen Mienen und engen Nasen, es
werden meine sein und nicht die von den
gefürchtetsten Liebhabern der Stadt. Ich
danke meiner Frau dafür öffentlich aus der
Seele meiner Kinder heraus, daß es meine
Geschöpfe sind und nicht die von andern
Männern! Gott segne meine Frau Ange-
lina Flinsberg dafür! .... Nein, Herr
Graf, Sie haben mich falsch verstanden, als
Sie mir Ihr Glas an den Kopf warfen! Jetzt
will ich meiner Frau Angelina Flinsberg, ge-
schiedenen Baronin Koi, geborenen Hirschstein,
zukünftigen Gräfin Czentorski Ehre antun. Ich
trinke dieses Glas auf dein Wohl, Angelina! Du
sollst leben, ich soll sterben! Prosit Angelina,
mein Gold!"

Gaston Flinsberg kletterte mühselig mit den:
Glas in der Hand auf seinen Stuhl. Er delirierte
von dort aus:

„Ich fahre begnadet zum Himmel, denn ich
habe eine wahrhaft große, ich habe eine meta-
physische Leidenschaft mit diesen meinen Augen
gesehen." — Gaston Flinsberg strich sich nnt der
flachen Hand, als sei er erblindet, über seine
Augen. — „Meine Frau Angelina Flinsberg und
Graf Adam Casimir Czentorski, .... unberufen,
meine Kinder, mir ist speiübel, aber mir foü’s
nie schlechter gehn im Leben als jetzt vor meinem
Tod . . . Casimir Czentorski, ich bitte dich, . . .
du wirst eineni alten sterbenden Mann, der es
Zeit seines Lebens mit dir gut gemeint und dir
viel schönes Geld geborgt hat, nicht vor allen
seinen Güsten den letzten Wunsch abschlagen: die
wahrhaft große, die metaphysische Leidenschaft
möchte ich noch einmal von Gesicht zu Gesicht
sehen! .... Erlaucht, umarme und küsse meine
Frau! Erlaucht, umarme sie vor meinen Gästen!"

Angelina stand mit leidenschaftlich zurückge-
bogencm Kopf seitwärts an der Tafel, stützte die
freie Hand im Gewühl der hingestreuten Orchideen
flach auf den Tisch und suchte mit einem Auf-
slammen ihrer grausamen Augen in den Augen
des Freundes den Wille:: und die Zustimmung
für das kommende Verbrechen. Czentorski, in
dessen Haltung sich Angelinas Entflammtheit
wiederholte, konnte seinen Blick nicht lösen von
der betörenden Landschaft zwischen ihren Lidern.
Noch zögerte er, noch flehte sein Auge um
Frist und Mitleid, als eine furchtbare Gewalt
im Nacken ihre Häupter zusanunenriß und wie
durch Hammerschläge ihre Gesichter zu einem
Doppelantlitz auseinanderschmiedete. In einer
so unerbittlichen Inbrunst küßten sich ihre Lippen
und berührten sich ihre rasenden Stirnen, daß
die Liebenden mit einem Schrei und Wehelaut
blutenden Mundes in die Kniee sanken.

Gaston Flinsberg sah cs, hob das Glas, rief:
„Gott Abrahams!" und stürzte entseelt von sei-
nem Stuhl zu Boden.

Der Diener deutete mit entsetzt ausgestrecktem
Arn, zu ihm hin und schrie, heiß vor Empörung,
den Liebenden zu:

F. Staeger

„Der Herr Kommerzienrat sind soeben zu-
samMengebrochen!" An der Tafel entlang stürmte
er durch das Gemach, hob den Leichnani seines
Herrn vom Boden auf und trug ihn wehklagend
davon.

Angelina umschloß, auf den Knieen liegend,
mit ihren kühlen freien Händen Czentorskis Ant-
litz wie eine entschwindende Welt.

„Mein Süßer," sagte sie unter Tränen lächelnd,
„ich bin so glücklich . . ."

Kaum aber hatte sie diese Worte gesprochen,
da geschah es, daß die blumenüberschüttete Tafel
sich wie eine zu Tod gepeinigte Natter krümmte
und bäumte, daß die Wände und das Decken-
gebälk des Hauses zu schwanken und zu beben
begannen und die Gemälde aus Jahrtausenden
krachend zu Boden stürzten. Das Flinsberg'sche
Palais, dieses gewaltige mythische Tier, ent-
äußerte sich, seiner inneren Kraft beraubt, brüllend
der Last seiner Schönheit und brach in der geister-
haft schweigende» Straße verröchelnd zusammen.
Inmitten einer so fließenden und taumelnden Uni-
gebung sah der Träumende Angelinas lächelnde
und weinende Erscheinung vor seine» Augen in
Schutt und Asche hinwelken und zerfallen, hob
in der allgemeinen Flucht die Arme verzweifelt
zum Himmel und rief die Entschwindende mit
ihrem Namen. ..

Mit einem Schrei auf den Lippen erwachte
Czentorski, stürzte die Treppe des Kasinos hin-
unter und blieb im gespenstisch verdunkelten
Spiegelsaal auf seinem Wege stehen. Sein Herz,
das unter dem weißen Waffenrock zum Zer-
springen hämmerte und pochte, bedeckte er mit
der Hand.

Die Ordonnanz stand neben ihm und betrach-
tete ihn lächelnd mit ihren treuen guten Blicken.

„Erlaucht haben geträumt," sagte die Ordonnanz.

Czentorski ließ die blutunterlaufenen Augen
im Saal umherschweifen.

„Wo bin ich?"

„Erlaucht sind auf der Treppe eingeschlafen
und haben geträumt. Erlaucht haben geschrieen:
.Angelina, rette dich!*"

Czentorski antwortete nicht. Die Ordonnanz
brachte ihm den Pelz, den er sich willenlos an-
legen ließ.

Plötzlich griff er nach dem Arm des Soldaten.

„Ordonnanz," fragte er erschrocken, „ist sie ge-
storben?"

„Wer, Ew. Erlaucht?" entgegnete die Or-
donnanz und neigte den Kopf erwartungsvoll
zur Schulter hin.

Czentorski blickte sich um.

„So," sagte er beruhigt, „ich bin im Ka-
sino ..."

Eine Stille.

„Wie viel ist die Uhr, Ordonnanz?"

„Fünf Uhr zehn, Ew. Erlaucht."
Czentorski bedeckte das Haupt mit dem
Helm.

„Geben Sie mir Sekt!"

Der Soldat schenkte ihm ein.

Czentorski zögerte zu trinken. Er schien
sich auf etwas weit Entferntes besinnen zu
müssen.

„Ist denn der Wein vergiftet?" fragte
Czentorski erstaunt.

Der Soldat lächelte bescheiden.

„Erlaucht haben geträunü."

Czentorski trat, angestrengt nachdenkend,
auf die Straße. Ein Sturm trieb ihm Schnee
i» das schlafmatte Gesicht. Ein Droschken-
pferd klopfte mit dem Huf durch den Schnee
auf das Pflaster.

„Ordonnanz," fragte Czentorski und ließ
den Blick über den wogenden Himmel schwei-
fen, „liest man jetzt in St. Marien die Messe?"
„Zu Befehl, Erlaucht, ich glaube, man
liest die Messe."

„Zur Messe, Ordonnanz!" sagte Czentorski
und bestieg den Wagen.

„Gute Nacht, Ew. Erlaucht!"

„Gute Nacht!"

Czentorski drückte sich frierend in eine Ecke'
des Wagens. Er sah im Spiegel an der Glas-
wand sein hohlwangiges Bild, das ihn mit geister-
haftem Spott begrüßte.

Er faltete die Hände unter dem Kinn und
begann ein Gebet zu sprechen, das er als einziges
von seiner Kindheit her kannte:

„Verwunde, o süßer Jesus, das innerste Mark
meiner Seele mit den lieblichen und heilsamen
Flanunen Deiner Liebe..."

*

MäöekgeLächtnis

Das; ich an sie mein schwaches Herz verloren,
Vergas; sie schnell, als sei es nur ein Traum!
Daß sie mir ewig Treue zugeschworen,
Behielt die Schnöde vierzehn Tage kaum!

Wie wir zusammen durch die Wiesen tollten,
Behielt die Lose kaum der Monde zwei!
Und wenn wir uns um sieben treffen wollten,
Behielt sie es bis höchstens gegen drei!

Die schönen Verse, die ich ihr gedichtet,
Behielt sie im Gedächtnis kaum ein Jahr.
Daß ich für sie auf manches Glück verzichtet,
Behielt sie überhaupt nicht offenbar.

Nichts, was in süßen Stunden uns gediehen,
Behielt die schlimme flatterhafte Maid.

Die Bücher einzig, die ich ihr geliehen,
Behält sie treulich und in Ewigkeit!

Kartellen

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Register
Ferdinand Staeger: Vignette
Karlchen: Mädelgedächtnis
 
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