fPE—T—t-MW -um
Der Patßokogische Anatom
E. Wilke
„iUctnc Herren, ich bitte diese beiden Präparate von Alninxfntzbildung ausrnerksanr zu betrachten. Ls sind dies klassisch
schöne Bilder, wie nran sie jetzt nur noch selten zu sehen bekommt, da sie heutzutage leider durch orthopädische Behand-
lung meist frühzeitig verschandelt werden."
töne. Ich hatte den neuen Wohnungsgenossen
von dieser Seite noch nicht Kennen gelernt. Aber
als er das erstemal an diesem Morgen seine
schnarrende Diskantstimme erhob, durchfuhr niich
gleich ein solcher physischer Ekel, daß ich ihn fast
zu hasse» begann. Ja, auch Tierstimmen können
Sympathien und Antipathien vom ersten Augen-
blicke an entscheiden. Aber es lag wohl noch
mehr in diesem Krähen, als bloße schnarrende
Töne. Denn es war der Buhlgesang seiner er-
wachenden Frühkraft. Und das, das war das
Widerwärtigste daran. Freilich, er hörte die Ge-
nossen ringsum ihm ihren stolzen Lockruf in die
Lüfte schmettern und das steckte ihn wohl an.
Er hat es wohl auch versuchen müssen.
Ich weiß nicht, warum mir damals der ganze
Schlaf verflogen war. Der Ekel, der mich so
ruckartig überlaufen hatte, wird ihn vertrieben
haben. Ich stand auf, ging zum Fenster und
durch die Spalten des Rolladens erschaute ich
den Hühnerhof. Richtig, dort ging er auf und
ab vor den Hühnern, die noch verschlafen und
zusammengeduckt auf den Sprossen hockten. So
oft das Antwortspiel der Stimmen auf den Nach-
barhöfen besonders rege wurde, sperrte auch er
wie in verzerrter Anstrengung den Schnabel auf,
schnellte seinen Körper hoch und ächzte seinen
jammervollen Dreiklang in die Harmonie der
Umwelt.
Dreimal sah ich ihn dies niachen und alle drei-
mal bemerkte ich, wie er beim dritten Ton jäh
abbrach, als wäre ihm das Fehlschlagen seines
Versuches zu quälendem Bewußtsein gekommen.
Er blickte dann jedesmal um sich, erstaunt und
scheu zugleich, als triebe ihn die Schani, danach
auszuschauen, ob jemand es mitangesehen habe.
Drauf schwieg er eine Weile wie vom Mißerfolg
gedüftet, bis ihn der Gesang der andern zu einem
neuerlichen Versuch verlockte.
Auch die Hühner, die mit ihm zusammenge-
sperrt waren, sahen jedesmal erstaunt, mit blödem,
stierem Blick umher und rückten aneinander. Die
Ungewohntheit einer solchen Stimme schien sie zu
verschüchtern.
Dreimal sah ich dasselbe Schauspiel mit an.
Dann nahm ich einen Krug voll Wasser und goß
es in schrägem Schwung hinab durch das Gitter
der Hühnersteige, hinter deni das Tier auf und
»iederging. Die Wasserfetzen flogen scharf in sein
Gefieder und er floh verschreckt nach rückwärts
in eine dunkle Ecke des Käfigs.
Von dann ab schwieg er an diesem Morgen.
Fast schien es, als wäre er selbst sich seiner ab-
stoßenden Bastardnatur bewußt geworden.
Aber Tiere vergessen. Die Herbheit ihres
Mißgeschicks verdämmert mit dem Augenblick.
Am nächsten Morgen begann das Spiel von
neuem. Mit seinem ersten Schrei verscheuchte er
den Schlaf von meinen Lidern. Ich war sofort
wach, so wach, als hätte ich überhaupt nicht ge-
schlafen. Und wieder zog es mich fast gegen
meinen Willen zum Fenster, um die verquälten,
ewig mißlingenden Versuche dieses Unfähigen zu
beobachten. Ich lachte beinahe über mich selbst,
als ich wieder mit aufgestütztcn Ellbogen, im
Nachtgewand hinter dem Rolladen stand und vor-
sichtig nach dem Hühnerhof ausspähte, als fürchtete
ich ertappt zu werden. Aber etwas in mir zwang
mich so zu tun.
Und tatsächlich, mir schien, als hätte das Bild
sich verändert. Die Hühner duckten sich wieder
im Halbschlaf auf der Quersprosse, auf ben Nach-
barhöfen jubelten die Hähne wieder ihre Morgen-
lieder der Sonne entgegen, und auch mein weißer
Hahn stand wieder dort, hochaufgerichtet, und
preßte feine Mißtöne mühselig aus der Kehle.
Trotzdem war etwas verändert. Es schien mir,
als wäre er heute nicht mehr so erschrocken über
ben Mißlaut, den er hervorbrachte, sondern die
Abstände zwischen seinen Krühversuchen wurden
immer kürzer, bis er schließlich in unausgesetzter
Folge mit seinen nachbarlichen Kameraden um
die Wette schrie. Ja fast sie überschreien zu
wollen schien. Auch die Hühner schienen sich be-
ruhigt zu haben. Es war eben so und nicht
anders: die Philosophie der Krämerseelen. Der
Bastardhnhn hatte sich alleni Anscheine nach trotz
seines Defektes durchgesetzt.
Ein neuerlicher Guß aus meinem Fenster
brachte mir erst wieder Ruhe. Doch der Schlaf
wollte nicht mehr wiederkehren.
Und so war es am folgenden und auch am
nächstfolgenden Morgen, nur daß er noch mehr
eingebürgert schien. Man nahm ihn, wie er war,
das Abnorme war durch Gewöhnung zur Norm
geworden. Auch er selbst schien seinen Mißgesang
Schluß auf Seite 302)
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Der Patßokogische Anatom
E. Wilke
„iUctnc Herren, ich bitte diese beiden Präparate von Alninxfntzbildung ausrnerksanr zu betrachten. Ls sind dies klassisch
schöne Bilder, wie nran sie jetzt nur noch selten zu sehen bekommt, da sie heutzutage leider durch orthopädische Behand-
lung meist frühzeitig verschandelt werden."
töne. Ich hatte den neuen Wohnungsgenossen
von dieser Seite noch nicht Kennen gelernt. Aber
als er das erstemal an diesem Morgen seine
schnarrende Diskantstimme erhob, durchfuhr niich
gleich ein solcher physischer Ekel, daß ich ihn fast
zu hasse» begann. Ja, auch Tierstimmen können
Sympathien und Antipathien vom ersten Augen-
blicke an entscheiden. Aber es lag wohl noch
mehr in diesem Krähen, als bloße schnarrende
Töne. Denn es war der Buhlgesang seiner er-
wachenden Frühkraft. Und das, das war das
Widerwärtigste daran. Freilich, er hörte die Ge-
nossen ringsum ihm ihren stolzen Lockruf in die
Lüfte schmettern und das steckte ihn wohl an.
Er hat es wohl auch versuchen müssen.
Ich weiß nicht, warum mir damals der ganze
Schlaf verflogen war. Der Ekel, der mich so
ruckartig überlaufen hatte, wird ihn vertrieben
haben. Ich stand auf, ging zum Fenster und
durch die Spalten des Rolladens erschaute ich
den Hühnerhof. Richtig, dort ging er auf und
ab vor den Hühnern, die noch verschlafen und
zusammengeduckt auf den Sprossen hockten. So
oft das Antwortspiel der Stimmen auf den Nach-
barhöfen besonders rege wurde, sperrte auch er
wie in verzerrter Anstrengung den Schnabel auf,
schnellte seinen Körper hoch und ächzte seinen
jammervollen Dreiklang in die Harmonie der
Umwelt.
Dreimal sah ich ihn dies niachen und alle drei-
mal bemerkte ich, wie er beim dritten Ton jäh
abbrach, als wäre ihm das Fehlschlagen seines
Versuches zu quälendem Bewußtsein gekommen.
Er blickte dann jedesmal um sich, erstaunt und
scheu zugleich, als triebe ihn die Schani, danach
auszuschauen, ob jemand es mitangesehen habe.
Drauf schwieg er eine Weile wie vom Mißerfolg
gedüftet, bis ihn der Gesang der andern zu einem
neuerlichen Versuch verlockte.
Auch die Hühner, die mit ihm zusammenge-
sperrt waren, sahen jedesmal erstaunt, mit blödem,
stierem Blick umher und rückten aneinander. Die
Ungewohntheit einer solchen Stimme schien sie zu
verschüchtern.
Dreimal sah ich dasselbe Schauspiel mit an.
Dann nahm ich einen Krug voll Wasser und goß
es in schrägem Schwung hinab durch das Gitter
der Hühnersteige, hinter deni das Tier auf und
»iederging. Die Wasserfetzen flogen scharf in sein
Gefieder und er floh verschreckt nach rückwärts
in eine dunkle Ecke des Käfigs.
Von dann ab schwieg er an diesem Morgen.
Fast schien es, als wäre er selbst sich seiner ab-
stoßenden Bastardnatur bewußt geworden.
Aber Tiere vergessen. Die Herbheit ihres
Mißgeschicks verdämmert mit dem Augenblick.
Am nächsten Morgen begann das Spiel von
neuem. Mit seinem ersten Schrei verscheuchte er
den Schlaf von meinen Lidern. Ich war sofort
wach, so wach, als hätte ich überhaupt nicht ge-
schlafen. Und wieder zog es mich fast gegen
meinen Willen zum Fenster, um die verquälten,
ewig mißlingenden Versuche dieses Unfähigen zu
beobachten. Ich lachte beinahe über mich selbst,
als ich wieder mit aufgestütztcn Ellbogen, im
Nachtgewand hinter dem Rolladen stand und vor-
sichtig nach dem Hühnerhof ausspähte, als fürchtete
ich ertappt zu werden. Aber etwas in mir zwang
mich so zu tun.
Und tatsächlich, mir schien, als hätte das Bild
sich verändert. Die Hühner duckten sich wieder
im Halbschlaf auf der Quersprosse, auf ben Nach-
barhöfen jubelten die Hähne wieder ihre Morgen-
lieder der Sonne entgegen, und auch mein weißer
Hahn stand wieder dort, hochaufgerichtet, und
preßte feine Mißtöne mühselig aus der Kehle.
Trotzdem war etwas verändert. Es schien mir,
als wäre er heute nicht mehr so erschrocken über
ben Mißlaut, den er hervorbrachte, sondern die
Abstände zwischen seinen Krühversuchen wurden
immer kürzer, bis er schließlich in unausgesetzter
Folge mit seinen nachbarlichen Kameraden um
die Wette schrie. Ja fast sie überschreien zu
wollen schien. Auch die Hühner schienen sich be-
ruhigt zu haben. Es war eben so und nicht
anders: die Philosophie der Krämerseelen. Der
Bastardhnhn hatte sich alleni Anscheine nach trotz
seines Defektes durchgesetzt.
Ein neuerlicher Guß aus meinem Fenster
brachte mir erst wieder Ruhe. Doch der Schlaf
wollte nicht mehr wiederkehren.
Und so war es am folgenden und auch am
nächstfolgenden Morgen, nur daß er noch mehr
eingebürgert schien. Man nahm ihn, wie er war,
das Abnorme war durch Gewöhnung zur Norm
geworden. Auch er selbst schien seinen Mißgesang
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