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Abschied

(Für Fiete)

Weinen will ich. Laßt mich weinen.
Denn ich habe nie geweint.

Mag die Sonne dem erscheinen.

Der den Finsternissen feind.

Dunkel, komm, mein stiller Bruder,
Schließe mich in deinen Schoß —

Und der Freiheit Sternenruder,

Löse es vom Himmel los.

Führe du das goldne Steuer!

Treibe du das schwere Boot!

Als ein Ganzer, als ein Neuer
Steige ich ins Morgenrot.

Alfred Henßchke

Der lKahirhof

Gestern bei Nacht fuhr ich durch einen einsamen
Bahnhof.

Niemand kennt diesen Ort. Seine schwarzen
Häuser kauern mit wimperlosen Auge», niedrigen,
aussatzbedeckten Wänden. Es sind die Heimstätten
der Arbeiter, die Schlafkammern, in denen die
Werkführer und Wachtposten wohnen, die ewig
hinter dem Fenster ihres Ausgucks stehn und
hinausschauen auf das einsame Gleis. Sie und
ihre Frauen und Kinder, die in dem Ruh der
Asche geboren scheinen, sind das einzige Leben
an diesem Ort, der wie ein fortgcworfener Schlak
kenhaufen an der Erde verdampft.

Uber die weite Ebene aber, von allen Seiten
nahen die Schienen dem einsamen Bahnhofe,
wälzen rußgeschwärzte Dämme den endlosen
Schlangenleib und verschlingen sich zu einem un-
entwirrbaren Knäuel. Die gelben Laternenlichter
des Nachts an den Weichen schaukeln wie ge-
fangene Glühwürmer an seinen Fäden.

Hinter der finster gewölbten Stirn des Hauses
aber, das wie ei» geduckter Spinnenkopf in der
Mitte des Netzes lauert, hinter dem erhellten
Zifferauge der Uhr, wünschte ich mir, meine Kammer
zu haben. Und ich würde am Tag auf die Züge
herabschauen, die Stunde auf Stunde herannahen
über die Ebene. Die Züge, die die Herden der
Menschen hinabreißen in die Städte und aus den
Städten über Berge und Flüsse hinausschleudern
in das grenzenlose Land. Die Züge, die von
Osten nahen und gegen Süden verschwinden. Die
nie endende Reihe der Wagen, die hoch mit Gütern
bepackt daherschwankcn wie Urwelttiere. Die aus
den Feldern, den Ackern, den Bauernhöfen das
goldene Getreide, die Früchte, die Blüten, das
angstvoll rufende Vieh hinabschleppen in die bluti-
gen Schlachthöfe der Städte. Die aus den fernen
Tälern die Kinder der Bauern mit gebücktem
Haupt wie gefangene Opfer fortführen in die
rauchenden Höllen der Fabriken, in die Nacht der
Schreibstuben, der Arbeitssäle zu finsterem Tod.

Und ich würde die Gesichter der Menschen
sehen wie eilend vorübergetragene Fackeln, wenn
sie am Kreuzweg der Reise die Straße ihrer
Schienen wechseln, daß die Halle unter mir er-
braust wie eine summende Muschel. Ich hörte
das Rauschen der Rüder des Nachts wie Wasser
am Bord meines Fenster plätschernd . . . und
schaute die zahllos ausgestreute Masse der Lichter,
ein flimmerndes Sternenheer . . . und die eisernen
Schienen, die über den hohldröhnenden Boden
der Erde gespannt sind wie eherne Saiten, eine
Riesenharfe, auf der das Lied der ewigen Rast-
losigkeit seine lärmende Melodie spielt.

Um dies zu denken: jeder dieser Züge, zu
jeder Stunde des Tages und der Nacht, könnte
dich hinausführen in die Welt: jede dieser Straßen
könnte dich zu allen Schrecken und Wundern der
Erde tragen — aber du fährst sie nid)t.

Mit geschlossenen Augen lauschst du dem Puls
des Lebens, der bebend an dir vorüberrinnt.

Armin T. YOccjnec

— Christ. Neureuther —

öefetje

Von chclcnc Votgt-Dicderichs

Es ist ein letzter erwartungsvoller und zu-
gleich eisig stillstehender Augenblick

Er hat die Nacht durchwacht, hat seine Pa-
piere geordnet, alles hinter ihm liegt reinlich ab-
geschlossen da. Wenn's fein soll, mag der Vor-
hang fallen. Aber wahrscheinlich wird er es sein,
der zum Mörder wird. Sei,, Wille fordert das
so, er ist entschlossen, gut zu zielen und gut zu
treffen, der andere weiß kaum mit der Waffe
Bescheid.

Er lehnt am Fenster, in das lampengelbe
Zimmer strömt die blasse nasse Morgenluft, fau-
chend, schmerzlich fast komnit das Gurren der
Tauben vom Dach. Ganz nah, hoch aus dem
Nebel heraus, dröhnt die Domuhr.

Drei Stunden noch. Die hätten nicht mehr
sein sollen jetzt, wo alles, Arbeit und Abschluß,
hinter ihm liegt. Wird nun doch die Unsicher-
heit, gegen die er sich hat wehren müssen all die
Zeit, zur rückschauenden Klarheit eines Sterben-
den: ist nicht in Wahrheit eres, der gehen muß?

Er betrachtet die Pistole auf den, Tisch. Als
er sie in das Schubfach zurück legen will, droht
ein weißes hartes gequältes Licht von ihrem Lauf,
ganz der alte erschreckende Schein von Sinn-
losigkeit.

Ach was, zum Teufel mit euch, ihr weibischen
und verschwommenen Gedanken! Ein Mann
baut sein Leben nicht auf Gefühlen auf. Und
es ist ein Punkt, wo Verstehen Schwäche wird.
Gesetze gibt es, die unverletzlich sind, und wo sie
verletzt werden, bleibt nichts anderes als dies.

Er tritt in die Tiefe des Zimmers zurück,
fein ruhiges Auge überfliegt die Bücherreihen.
Daun prüft er die Briefe auf dem Tisch, ergänzt
mit sorgsamer Schrift eine vergessene Straßen-
nummer, richtet an den Zeigern seiner Taschen-
uhr und wendet sich von neueui dem Fenster zu.

Der Nebel liegt noch weiß. Ein Atuien kommt,
ein Seufzen geht, im zerrinnenden Grau leuchtet
groß, herbstlich grell die Krone einer Platane
auf. Und mit dem gelben Baum sind plötzlich
in einer festgefügten Reihe die Geschehnisse des
letzten Jahres da.

Da steht sie wieder, wie sie stand an dem Tage,
da er sie fand. Aus irgendeinem Traum war
sie ausgemacht, starrte mit harten Augen in die
leergewordene Welt und wandte sich voll un-
gläubiger Not von dem, der mit Schonung in
Wort und Blick zu trösten kam.

Nun ist er auch schon selber da, er, der nicht
mehr jung war, der viel Leben hinter sich hatte
und viel Menschliches mit angesehn. Menschen-
schuld und Menschenleid und ganz selten ein
ruhiges Menschenglück. Er war milde geblieben
im Verstehn und zugleich doch so hart und weise
geworden, daß er nur noch ein Lächeln hatte für
das, darum andere weinen. Und er wußte längst,
daß es nötig ist, alles was man lieb hat, einzu-
hüllen in ein Kleid von Schmerzen.

Als er das traurige Kind fand, erkannte er,
daß all seine Güte und Weisheit nur noch den
einzigen Sinn hatten, sich ihr zu schenken.

lind der Tag kaut, wo sie seiner Sehnsucht
nachgab. Nickt sich, sondern ihm zulieb. Sie
reckte sich und suchte zu wachsen, hielt sich fest
und liebte dankbar seine Arbeit, die sie nicht ver-
stand. Seine Arbeit von den große» Notwendig-
keiten, von denen immer eine aus der anderen
heraus wächst. Es war eine kalte Luft da,
uianchmal suchte sie ihm zu folgen, aber gleich
floh sie zwischen Lachen und Schaudern an den
Rand des Lebens zurück.

Immer nur bis an den Rand — er wußte
bald, daß das, was er brachte, nicht jung und
töricht genug für ihre junge törichte Jugend war.
lind als er anfiug, darunter zu leiden, nicht nur
ihretwegen, sondern auch aus dem eigenen Herzen
heraus, da wußte er auch dies andere: daß er
eine Schuld auf sich genominen in deck Augen-
blick, wo er sie gebeten hatte, auf seiner Liebe
auszuruhn.

Er stellt am Fenster und starrt in den Nebel
hinaus. Vom gelben Baum ist jetzt auch der

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Register
Armin Theophil Wegner: Der Bahnhof
Christian Neureuther: Ornamentzeichnung
Alfred Henschke: Abschied
Helene Voigt-Diederichs: Gesetze
 
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