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Der alte Wald

Der alte Fichtenwald ist voll von Bangigkeit
Des Lebens, das noch nicht sich helltezum Gedanken
In stumpfem Warten stehn die Stämme hingereiht.

Sie harren ja so lang seit mancher Menschenreil
Im Dämmermoos, darin viel frühere versanken.

Ein leises Flüstern streift durchs oberste Geäst:

Da rittert Baum um Baum, als hört' er ein Derheisten
Doch wieder schon verstummt es tief, und überlästt
Die Stillen ihrem Traum vom reichern Lebensfest,
Indessen flackernd schwankt ein goldnes Lichtergleisten.

Wohl schrillt ein Dogelschrei, wohl huscht's in Furcht und Gier
Durchs wuchernde Gestrüpp die Alten stehn und schweigen:
Sie spüren: sinnlos blieb dies Jagen durchs Revier
Sie achten nicht darauf. Kein Freies ist noch hier.

Im ewigen Vergehn ein Dauerndes in zeigen.

Doch dumpfes Sehnen füllt und dehnt sie hoffnungsschwer —
Wann wirb in ihrem Mark ein innres Licht erglimmen?

Die Sonne sinkt, und kalt schon bunkelt's wieder her
Da fühlen schauernd sie ein Rieundnimmermehr,

And lassen ihr Gezweig in schwarze Nacht verschwimmen.

Sanns von Gumvpenbers

flßafcarow

Das war damals im Herbst, als Makarow
nach Deutschland kam — in die Freiheit, wie er
sagte, denn er kam aus Sibirien — an Leib und
Seele zerschunden, mit zwei gebrochenen Rippen
und einer Wunde am Hinterkopf, die ein präch-
tiger Barometer war. Es war keine sonderlich
große Wunde, in knapper Talergröße etwa, aber
sie hatte dafür die Eigenschaft, nie zu heilen, 1111b
schliesslich — für unsere Bedürfnisse reichte sie aus.

Wir waren im grasten ganzen über alles
orientiert, was wissenswert war; wir scherten uns
den Teufel um das Minimum bei Island oder
bei Irland, sondern ganz einfach — plötzlich beim
Tee stöhnt Makarow auf, wird kreidebleich, krallt
die Hände ins Tischtuch und sinkt bewußtlos
vornüber....

„Makarow," sage ich, „Makarow" . . .

Ja, ich will offen gestehen, das; ich in der
ersten Zeit erschrak.

Nach einer Weile aber kommt Makarow zu
sich, lächelt mühsam und sagt:

„Nichts, Bruder, nichts... Es gibt Sturm
und Regen..."

Und richtig, um Mitternacht beginnt es zu
blasen, die Aste vor den Fenstern schwanken und
stöhnen und es gießt in Strömen. Nun bi""
hatten wir unter diesen Verhältnissen Berech-
nungen nötig?

Trotzdem traten Sturm und Regen eigent-
lich nicht sehr häufig ein, sondern cs war ein
linder Herbst mit warmen, sonnigen Tagen
und die Wunde registrierte das mit dump-
fem Bohren.

Makarow war glücklich.

„Wie schön," sagte er, „wie schön . . .
Vielleicht ja, vielleicht könnte ich mich
doch noch erholen. . .?"

„Bagatelle," sage ich, „natürlich erholst
Du Dich."

„Oh," sagte Makarow zaghaft, „Du weißt
ja nicht, Bruder..."

Ich wußte nicht —.

Und Makarow sprach nicht: seine ganze
Seele lag offen vor mir da, von manchen
Dingen aber sprach er nicht, es war, als hin-
derte ihn daran eine stolze, vornehme Scham;
und stets, wenn er sich ankleidete oder schlief,
hielt er sein Zimmer ängstlich verschlossen:
einmal aber — ja, einmal, da sah ich ihn
doch, und ich verriet mich, denn ich mußte
stöhnen: da warf er hastig ein Laken um,
und ich tat, als sei nichts geschehen. . .

„Weil er keine Haut hat," durchfuhr es
mich, „deshalb also . . . ."

Denn er hatte nur Narben und Striemen.

Das war damals im Herbst, als wir
unten im Grunewald wohnten, in einer win-
zigen, grünen Villa, und gerade in Berlin
einen brasilianischen Vogel gekauft hatten, ein
närrisches Tier, dessen prächtiger Schweif Ma-
karow entzückt hatte. Er ging durch die
Straßen wie ein beglückter Schuljunge, das
Bauer mit dem Vogel in der Hand, und ward
nicht müde, ihn zu bewundern.

Von Werner Peter Larsen

„Brasilien," sagte er, „im Urwald .... ja,
da wächst so was .... sieh doch bloß diese
Farben, dies Blau! Ist Dir etwas Ähnliches

In diesem Augenblick tauchte er auf.

Ich vergesse es nie, wie er daherkam: ein
kleiner, gleichgültiger Herr, wie tausend andere,
mit flinken grauen Äuglein und rotblondem
Schnurrbart. Er kam langsam heran, hob den
Blick — für den Bruchteil einer Sekunde —
ging vorüber ....

„Was ist denn los?" sageich. „Makarow?"
Aber Makarow beißt sich nur auf die Lippen
und schweigt.

Da gibt es ja wohl auch Kolibris?" sagt er
dann mit einemmal unvermittelt.

„Wo?"

„In Brasilien . . . ."

Ich fühle, wie seine Gedanken wirbeln, und
irgend etwas fieberhaft in ihm wühlt und arbeitet.

„Kolibris . . . ."

Dann aber rollt ein Wagen vorüber, für dessen
Insassen Makarow sich interessiert: er blickt hin-
über. bleibt stehen ... er wendet den Kopf und

DER. WÄCHTER Willi. Stumpf

ich sehe, wie er unauffällig hineinspäht ins Hasten
der Straße.

Kam» hundert Schritt entfernt steht der gleich-
gültige Herr. Er steht vor einem Schaufenster,
ruhig und selbstverständlich, als gehöre er just
dahin, als bestehe die ganze Welt für ihn einzig
in dieser Auslage von Hemden und Krawatten.

„Komm," sagt Makarow und taucht ins
Gedränge.

Elster da mit einemmal kommt auch Leben in
den kleinen, gleichgültigen Herrn, die Hemden
interessieren ihn nicht mehr, er tut ein paar Schritte,
verwickelt sich in ein Menschenknäuel und ist ver-
schwunden.

„Auto!" ruft Makarow.

lind wir sausen davon.

Wir hatten zwei Stunden zu tun, um ihn
loszuwerden, denn er jagte mit Passion, so leiden-
schaftlich, daß er selbst die Vorsicht vergaß. Gegen
Abend aber hatte er Pech: sein Auto kam nicht
weiter: es war unrettbar eingekeilt in einem Ge-
wirr von Wagen - eine, vielleicht zwei Minuten
lang ....

Makarow hatte gesiegt.

tim die nächste Dämmerung aber schlich
jemand ums Haus, drückte sich in den
Schatten, witterte und schnupperte ....

Menschenfleisch ....

„Ich habe noch jemanden in Lausanne,"
sagt Makarow, „jemanden, den ich liebe: den
muß ich noch einmal sehen. Ich glaube, ich
muß mich eilen . . . ."

An diesem Abend sah ich Makarow zum
letztenmal. Es war, als er in den Nachtzug
stieg, der ihn nach Lausanne bringen sollte,
zu jemandem, den er noch einmal sehen wollte,
weil er ihn lieble. Er stand aui Fenster, das
Gesicht im Dunkel, und rang um ein Lächeln.

„Leb' wohl, Bruder. Und mach' Dir keine
Sorgen. Nitschewo . . . ."

Dann zieht die Lokomotive an, die Wagen
gleiten vorbei — —

Ich atme auf, Makarows Waggon ist be-
reits aus der Halle.

Da plötzlich stehe ich wie versteinert.

Im letzten Coupe steht ein Herr, ein kleiner,
gleichgültiger Herr, mit zusammengekniffenem
Mund und rötlichem Schnurrbart. Ich sehe
ihn ganz deutlich, ich starre zu ihm hinüber
— will etwas rufen — schreien. . .

Da ist er verschwunden.

. . . Ich stürze aufs Telegraphenamt. Ich
schicke eitle dringende Depesche ab.

Und nach einer Stunde eine zweite, eine
dritte. . .

Aber die Nacht vergeht. Und schließlich
auch der Tag. Und noch viele Tage und
Nächte. . .

— Makarow ist nie angekouimen.
Register
Werner Peter Larsen: Makarow
Wilhelm Stumpf: Der Wächter
Hanns Theodor Karl Wilhelm Frh. v. Gumppenberg: Der alte Wald
 
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