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Abend im (Duarrier

In Feindesland ein kleines enges Zimmer,
Durch die zerschoss'nen Fenster

scheint der bleiche Mond,
Dumpf rattern die Geschütze durch die Straßen
Und Huppentöne gellen ans in finstrer Nacht.
Trüb brennt die kleine Lampe.

und im matten Schein
Verschwimme» Offiziere, Uniformen,
Verschwimmen Sabel,Mützen und Gesichter —
Verschwimmen wie ganz fern die Kameraden,
Die still und ernst, die Glaser in der Hand,
Auf Stühlen, Betten, Koffern, Säcken kauern.
Und wie ein Irrlicht in dem Abenddämmer
Blitzt hie und da der gelbrot helle Schein
Verglimmender Zigarren durch den Raum.
Oer Stabsarzt rührt die Tasten,

leise präludierend.
Dort neben ihm ein simpler Landsturmmann —
Ein Sänger sonst, des Rampenlichts gewohnt.
Dem tausend Hände jubelnd Beifall klatschten -
Heut nur Soldat, wie jeder hier von uns;

Ein Kamerad, der seine Kameraden

Ans Leit und Jammer, Morten und Gefahr

Ins Reich der Töne lockend jetzt entführt.

Und alles, was von Freude und von Glück,

Von Kummer, Not und tiefem Weh
In unfern Herzen tief verborgen wohnt,

Holt er hervor mit seiner Stimme

süßen Klängen,

Aufjauchzend hell wie Glück und Siegesrausch,
Traurig verklingend, schluchzend wie in Tränen,
An junger Menschenleben offnem Grab geweint.

Dr. E. A. Heim an n
Feldarzt im Osten

pogfvm in Polen

Bon Joachim Fricdcnthal

Ganz hoch schwang die Stimme des Bor-
betcrs. Als wollte sie mit singender Inbrunst
den Himmel selber erreichen, daß ein Tor sich
auftäte und die Gnade winke, daß ein Ohr mild
würde und die Qtial mitten ins Herz Iehovahs
herüberschallc und es erzittern mache.

So schwang nie Reb Chajims Stimme mit
der uralten Melodie auf, selbst nicht an einem
Versöhnungstage.

Und die Stimmen der Männer sielen ein.
Und stürzten sich mit aitklamnteritder Gewalt in
die Höhe und in die Tiefe, wie ihre schmerzvolle
Verzweiflung zu Höhen sich türmte und unincß-
bare Tiefen aufriß. Kein kunstvoller Triller, kein
schmeichelndes Flehen, wie des Vorbeters Stimme
noch in Schmerz und Inbrunst sie fand — ein
Schrei, ein mit alten Worten gesungener Schrei
zerpeinigter Seelen kam ihm aus der Gemeinde
zurück.

Die Männer standen in weißen Sterbegcwän-
dern, wie es sich ziemte. Das silberbetreßte Gebet-
tuch hatten sie über den Kopf geschlungen, ihn zu
verhüllen in der marternden Stunde, in der dort
oben das große Gericht entschied, ob sie einge-
schrieben würden mit ihren guten Taten in das
Buch des Lebens oder ausgelöscht in die Fin-
sternis; in der aber unten, zur selben Stunde,
mordgierige Kosaken vielleicht schon standen und
nicht fragten nach dem großen Gericht und dem

Signalstation Rieh. Fiedler

(Bootsmannsmaat)

Buch des Lebens. Und die Männer warfen
betend die Arme in die Höh', ihren Gott an-
stürniend, mit ihm ringend um seine Gnade und
seine allgegenwärtige Hilfe, ihn nicht lassend auf
seinem ruhevollen Throne, denn er habe sie be-
freit und erlöst.

Jahrtausende beteten mit. Jahrtausende, die
auf dem Rücken dieser polnischen Juden lasteten
und sie gekrümmt hatten, Jahrtausende der Rot,
Schmach und Verfolgung, des ahasverischen
Fluches ewiger llmgctriebenheit — die Jahr-
tausende schienen sich an diesem geheiligten Tage
aufzurichten mit den gekrümmten Rücken und sich
emporzurecken mit den Gott anstürmenden Armen
der Beter und wiederzuhallen in den gesungenen
Worten, die von ihnen selber kündeten ....

Bon solch inbrünstiger Gewalt war das Gebet
der russischen Juden an diesem Bersöhnungstage
des Welthasses und des Krieges.

Die Frauen aber, nach altem Brauche abge-
sondert sitzend auf dem zum Altar hin hufeisen-
förmig gebogenen Baikone, getrennt noch durch
einen durchsichtigen Schleier — die Frauen aber
weinten still in sich hinein. Manchmal drängte
ein Schluchzen laut hervor und schnitt erschütternd
in die leisere Melodie des Weinens ein. Und sie
weinten lange und ohne aufzuhören, wie es die
Frauen an Gräbern pflegen. Jede hatte irgend-
ein Grab in sich, jede trug den Friedhof mit sich
herum, den großen Friedhof der Seelen mit all
dem im Aufblühen schon erstickten Leben. Ab-
glanz von der schweren Melancholie dieses Fried-
hofs der Seelen war die dunkle hoffnungslose
Weite ihrer Augen. Auch die jungen Frauen
und Mädchen, die an solchem Tage des Fastens
und Betens mit den Blicken nach Abwechslung
griffen, nach dem Blick eines Mannes, abwägend
nach deni Schmuck einer Frau — auch der
Mädchen Blicke glichen heute Tränenschleiern
über dem Friedhof. Und sie summten alle die
alten hebräischen Melodien und Liturgien mit.
Vielleicht, daß der Sinn der vermoderten Worte

nicht ihr Sinn war, vielleicht, daß ihn manche
garnicht verstanden und nur die Melodie sie
ihnen vertraut und heilig machte — cs war
doch, daß auch die vermoderten Worte Leben
wurden, weil sich ihre Herzen mit aller Kraft
in sie hineinhängten, sie zärtlich und inbrünstig
wiegten und sie ganz erfüllten mit deni fiebern-
den Odem ihrer Angst, ihrer Qual, ihrer Ver-
zweiflung. Irrte aber wirklich ein Blick ans
der tiefen Andacht ab, dann traf er nach ganz
kurzer Weile unfehlbar das versteinerte Ge-
sicht der Frau Riwkele Kalischer. Der, die
aus Klodowa zu ihrer Mutter geflohen war.
Und dann zuckte dieser Blick jäh zusammen,
senkte sich tiefer, hing sich noch flehentlicher an
die Worte, die Gott um Hilfe baten.

Frau Riwkele Kalischer aber betete die
Worte nicht mit, obgleich sich ihre Lippen un-
aufhörlich bewegten. Sie formten lautlos an-
dere Worte, die hießen: „Gehängt, weil sie
ein Drei-Rubel-Stück nicht wechseln wollten."

Und ihr Blick war starr und tot. Er drang
unempfindlich durch die festliche Lichterfülle des
Tempels und konnte sich nicht vor dem Bilde
schließen, das in ihre Seele eingegraben war.
Seit jenem Freitag Abend vor drei Wochen.
Zwei Männer hingen erschreckend und gespen-
stisch an dem Baikone ihres eigenen Hauses.
Und vierundzwanzig Stunden hatten sie und
alle Juden der Nachbarschaft, denen geboten
war, während dieser Frist die Fenster aufzu-
halten, Zeit gehabt, sich zum letzten Mal die
verzerrten Züge der beiden Männer einzu-
prägen. Und sie hatten Zeit, den Zettel zu
lesen, der auf ihren Kleidern von den Kosaken
angehefiet war: „Gehängt, weil sie ein Drei-
Rubel-Stück nicht wechseln wollten."

Nicht wollten — hatte sie nicht friedlich den
Abendtisch bereitet, mit frommem Gebete die
Lichter angezündet, das Sabbatbrot mit der
goldgestickten Decke umhüllt, während drüben,
vom Tempel her, gedämpft die liebe Weise
herüberklang: „Sei gegrüßt, Sabbat, du schöne
Braut..." Dann waren die Männer aus dem Tem-
pel gekommen, hatten eine Weile in, Nachhansege-
hen miteinander gesprochen und sich getrennt. Ihr
Mann und ihr Schwager waren gerade, sie hörte sie
schon, unten an der Tür. Da ritt ein Trupp Kosaken
um die Ecke. Ein Fragen und Fluche» — ihr
Herz erzitterte — Stoßen und Peitschen — sie
wankte in den Knieen — die Tür flog von einem
Tritt auf. Eine fürchterliche Stimme schrie nach
einem Strick. Sie begriff noch kaum: sie sollte
einen Strick — ? Für — Aber schon schleuderte
sie ein Fußtritt vorwärts. Auf den Knieen, wie
sie hingestürzt war, rutschte sie anflehend zu deni
furchtbaren Kerl hin. Er schlug ihr mit der
Knute ins Gesicht, ihr Blut taumelte davon.
Strick, Strick hörte sie, suchte wirr, fand einen.

llnb dann hingen sie dort an den: Baikone.
Die Sabbatlichter brannten noch und das Fest-
brot harrte ihres Segens — aber die Frau er-
kannte mit grausamer Deutlichkeit die verzerrten
Züge ihres Mannes und ihres Schwagers, lind
sie las die Worte erst laut und dann ohne Ton,
ohne Kraft zur Klage: „Gehängt. . ." lind ihr
Gesicht wurde steinern, ihr Blick starr und tot
und war nicht loszulöscn von dem Balkon, auf
dem zwei Männer vierundzwanzig Stunden hin-
gen. Die festliche Lichtfülle des Tempels gab
ihm keinen Glanz noch ein Leben.

Der Tag neigte sich. Die langen Kerzen
brannte» herab. Die Luft war schwer und schwül
von deni Atem der betenden Menschen. Es kam
die Stunde, da die gesanmielte Kraft der Andacht
mit letzter Stärke ben Himmel anstürmte, daß
seine Tore sich öffneten und den Sündigen ver-
geben würden. Es war die große Stunde der
llrteilsfällung.

Und siehe, cs war keiner unter den Männern,
der nicht in festlicher Reinheit vor seinen Gott
treten konnte. Es war, als ob all der Schmutz
und die Niedrigkeit ihres Lebens von ihnen ge-

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Register
Joachim Friedenthal: Pogrom in Polen
Richard Fiedler: Signalstation
E. A. Heimann: Abend im Quartier
 
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