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fallen fei, als ob sie alle, bis zu dem kleinsten Scha-
cherer und Schächer herab, Verwandelte feien. Die
Getretenen waren von einem fremden und hohen
Glanz umhüllt und standen aufgerichtet. Und
mancher war nicht wiederzuerkennen, weil die Züge
seines Gesichts in dieser Stunde ganz anders waren,
als wie man sie in dumpfen Läden sah: freundlich
verzerrt zu kriecherischer Demut oder erhitzt von
der Erregung des Profits. Und es erschien mit
wundersamer Deutlichkeit also, daß unter diesem
in allen Wandlungen treuen und tiefen Volk noch
in jedem Schacherer ein Priester und geweihter
Märtyrer lebe. Aber keiner war zu erkennen,
dessen Abstammung sichtbar auf die Makkabäer
hinwies, die hochgemut auszogen und die Über-
macht der Feinde schlugen. Und keiner atmete
ihres Helden Simson heroischen Geist der Rache
mehr; der an den Säulen des Philistertempels
betete, daß ihm noch einmal die Kraft würde und
er sich mit ihnen unter den Säulen begrabe. Be-
tete keiner, daß er jener Russen, die ihrer spotteten
und ihnen die Kraft der Augen und der Bewe-
gung nahmen, Herr würde und die Säulen ihrer
Macht zerbreche und sie unter den Trümmern er-
schlage, auch wenn er mit ihnen fiele? Zeder
betete um sein Leben und um das Verderben der
Bedrücker. Und es war Fanatismus in ihrem
Gebet.

Run aber war es, daß die Posaune des Ge-
richts rief, wie in der Stunde der Auferstehung,
und alles Volk stehend mit dem Wort des Be-
kenntnisses siebenmal antwortete, wie in der
Stunde des Sterbens. Siebemnal rief alles Volk
das gewaltige Wort, in dem Jahrtausende er-
zittern, in dem uralter Kampf und Rot und
Völkerschicksal erschütternd ringen, das ihnen aus
Triumph und Sieg zur Schmach und Verdammnis
unter den anderen Völkern wurde und das immer
wieder aufsteht und sich selber verkündet — sieben-
mal, steigernd die Kraft des Tones, rief alles
Volk wie aus einem Munde: „Höre Israel, der
Ewige, unser Gott, der Ewige ist einzig!" Und
die Schofar-Posaune ertönte schallend Und durch-
dringend mit unheimlichem, sagenhaftem Klang,
wie am Tage des jüngsten Gerichts. Es erschien
allen, daß Gottes Stimme, die in dem gleichen
Posaunenklang Ierichows Mauern umgestürzt
hatte, selber ertönt war im Mund der Posaune;
Verzeihung den Sündern, Erlösung und Gnade
machtvoll zu künden. Und alles Volk zitterte
wie in der Stunde des großen Sterbens.,

Aber der Schall der Posaune war noch nicht
ausgeklungen, die Gnade des Ewigen, ihres Gottes,
hatte noch nicht ganz die Stirnen der Beter be-
rührt — da gellte jäh ein Schrei dazwischen, ein
Knabenschrei:

„Die Kosaken! Die Kosaken! Sie haben 'n
Tempel umzingelt!"

Der grelle Knabenschrei fiel wie ein Richt-
schwert. Dem Borbeter schnitt es die Stimme im
süßesten Tone ab. Totenstille angehaltener Herzen
war einen Augenblick. Dann stürzten Fragen
bebender Angst durcheinander. Stimmen über-
schlugen sich. Arme krampften sich durcheinan-
der in milder Erregung. Ein Körper fiel dumpf.
Und auf den Schall hin, da die Blicke ihm nach-
flogen wie ein Schwarm verängstigter Vögel
vor dem Slurmstoß, sah man eine Frauen!,and
sich in die zurückgerissene Gardine des Bal-
kons krallen. Jemand schrie, man solle sich
verstecken. Und alle duckten, losgerissen aus
jeder Andacht, die sie schön geuiacht und er-
höht hatte, mit entstellten Gesichtern schnell die
Köpfe, instinktiv, ohne zu wissen wohin.

Da legte sich die Stimme des alten Rab-
biners Zaddik wie eine beruhigende Hand auf
ihre Stirnen. Er sagte, sie sollten getrost sein
und weiterbeten und ihren Gott nicht im Stich
lassen in dieser heiligen Stunde, so werde er
auch sie nicht im Stich lassen. Auch werde
ihnen nichts geschehen. Denn höchstens sei er
selber es, den die Kosaken suchten, nicht die
anderen, er aber sei in Gottes Hand wie alle.

Und während der erste Satz noch von den
Fragen und Rufen zerrissen war, hörte man die
übrigen in Stille an. Denn die Worte kamen
ihnen von einem Manne, den sie wie einen Hei-
ligen verehrten, da er voll der Weisheit des Tal-
muds war und unter ihnen wirkte wie einer
der biblischen Richter in Israel.

Schon hatte Reb Chajim, auf den Wink des
Rabbis hin, sich geräuspert, seine Stimme in me-
lodische Fassung gebracht und den betenden Ge-
sang einen Ton tiefer ausgenommen da, wo er
unterbrochen war — schon fielen, unsicher noch,
verstört und abgelenkt, die Antworten der Ge-
meinde ein — da donnerten Kolbenstöße gegen
das Tor. Das war der Donnerschlag des Jüng-
sten Gerichts. Keine Gnade war! Keine Gnade!
— Lippen erstarrten im Wort. Augen traten
weit heraus. Kein Ton aber ward gehört. Nicht
einmal die Köpfe wandten die Männer, denn
schon in der Wendung konnten sie fallen.

Aber in der aufgerissenen Türe klirrten schon
Bajonette, reihten Kosaken sich Mann an Mann
zur Kette. Und einer schritt mit anderen vor, in
den breiten Mittelgang, zum Altar hin. Im
Schreiten rief er, der Hauptmann, ob das da
oben der verfluchte Verräter, der Rab —

„Höre Israel, der Ewige, unser Gott, der
Ewige ist einzig!" Eine in Todesangst irre Stim-
me würgte so dem Hauptmann das Wort ab,
bevor er es zu Ende sprechen konnte; aus dem
Hintergrund kam sie und erfüllte den Raum ganz
mit solch einer wehen, nie gehörten Klage, daß
alle jetzt erst aus ihrer Starrheit tief erzitterten,
und alle insgesamt riefen der irr klagenden Stimme
das Schlußwort nach: „Der Ewige ist einzig!"
Und es war, um eine letzte Mauer aufzurichten
gegen das Fürchterliche.

Wütend aber gebot der Hauptmann Stille.
Und die irre Todesklage erstickte und verzitterte
nur noch auf krampfhaft sich bewegenden Lippen.

Der Rabbiner sagte: Herr, sie beten, ob er
vielleicht nicht wisse, daß heute der höchste Fest-
tag der Juden sei. — Der Offizier entgegnete:
das sei ihm gleich, für Verräter gewähre er keinen
Festtag. Er, der Rabbiner Zaddik, sei angeklagt,
die österreichischen Truppen begünstigt zu haben.
Er sei ihnen vor vierzehn Tagen, vor ihrem Ein-
zug, entgegen gegangen und habe ihnen allerhand
Aufklärungen gegeben. Das genüge. — Der
Rabbiner erwiderte mit rührender Fassung: er
sei wohl den verbündeten österreichischen und
deutschen Truppen entgegengegangen, aber zu-
sammen mit dem polnischen Probst und ange-
sehenen Bürgern der Stadt, es sei geschehen, wie
er wohl wisse und erfahren könne, allein, um die
Truppen um schonende Behandlung der Ein-
wohner zu bitten. — „Lüge," tat der Offizier die
Worte ab, die Begünstigung sei erwiesen und
verurteilt, auch sei ein geheimes Telephon dort
oben im Altarfchrank, mit dem Posaunenruf eben,
deutlich hätten sie es gehört, wollte man dem Feind
ein Zeichen gebe». „Packt ihn! Der Rabbiner

Eduard Zimmermann

wird gehängt, und elf andere dazu, von den An-
gesehenen, dort aus den vordersten Reihen, damit
das Dutzend voll ist. Und ihr anderen werdet
fortgejagt, ihr Hunde, hier ist der Ausweisungs-
hefehl vom Gouverneur."

Ein Wehgeschrei von solcher Wildheit erhob
sich, daß man nicht glauben konnte, er könne aus
menschlichen Kehlen kommen.

Die Kosaken waren schon beim Befehl „Packt
ihn!" mit plumpen Stiefeln auf den Altar ge-
sprungen, rissen nun den Rabbiner zusammen,
andere den Vorbeter, andere griffen blind, wahl-
los, nach links, nach rechts — mit einem jähen
Ruck hatten sich die Männer in den vordersten
Reihen zur Seite geworfen, übereinander hin.
„Erbarmen, Erbarmen — nicht mich — ich bin
unschuldig — weih, mein Mann — Vater —
Jakob —" wirr schrieen so Männer und Frauen
durcheinander.

Der Hauptmann zählte: „Eins, zwei, drei, vier,
fünf — — Die Stricke her!" — da gellte eine
wahnwitzige Frauenstimme (elf zählte der Haupt-
mann gerade) von oben dazwischen: „Ich hol'
schon die Stricke! Ich hol' schon die Stricke!" —
Man sah einen Augenblick weit aufgerissene irre
Augen, einen über die Brüstung schwingenden
Körper mit flehentlich aufgerichteten Armen —
dann ein dumpfer Fall mitten unter die Männer
auf den Steinboden. Frau Riwkele Kalischer
röchelte vor ihnen: „Ich hol' schon die Stricke!"

„Dann also bloß die elf," sagte der Haupt-
mann kurz, „aber schnell, schnell." — Und die
Kosaken richteten an den acht Säulen des Altars
mit geübten Händen den Galgen.

Während die Frauen zum Herzbrechen weinten
und unaufhörlich „Erbarmen" schrieen, verhüllten
die Männer, in die Ecken zusammengeweht, weiß
in ihrem Sterbegewand, das Haupt ganz mit
dem Gebettuch, um nicht das Fürchterliche zu
sehen. Und alles Volk rief siebenmal, nun wirk-
lich, wie es in ihr Brauch war, zur großen Sterbe-
stunde, aus einem Munde das Wort der Gewalt,
das gewaltige Wort: „Höre Israel, der Ewige,
unser Gott, der Ewige ist einzig!"

All ihre Rettung war es, all ihr Trost, all
ihre Pflicht.

Und der Schrei der Gemarterten, der erstickte
Schrei der Gehängten klang mit in ihr Wort und
war auch kein anderes als dieses letzte frommer
Juden: „Höre Israel . . ." Eine Totenklage
(das große Sterbegebet), so fürchterlich und so
im Blute weihevoll Hub darauf an, daß Herzen
nicht menschlich mehr und sonder Inbrunst und
Mitleidens sein mußten, um nicht erfaßt zu werden
von dieser betenden Gewalt.

Aber die Mörder stampften auf dem Altar
herum und sie brachen den heiligen Schrein auf,
warfen die geweihten Torarollen lachend hinaus
auf die Erde, suchten und klopften in dem Schrein
herum, ohne etwas zu finden, und raubten statt
dessen das Gold- und Silbergerät.

Immer noch beteten die Juden verzweifelt
das große Sterbegebet für die elf Gehängten.
Da gebot der Hauptmann aufs neue Stille:
sie sollten jetzt dem Befehl folgen und die
Stadt verlassen, die sie dem Feind verraten
hätten. Auf der Stelle, so wie sie seien (Ko-
saken wieherten vor Lachen) sollten sie aus-
ziehen, Männer und Frauen und Kinder,
keiner solle wagen, zu fliehen oder sich zu
verstecken.

Bitten rangen auf, Fragen: ob sie nicht
erst nach Hause dürften. Frauen riefen her-
unter, sie hätten Unmündige in der Wiege und
Kranke daheim; andere, daß sie seit gestern
Abend den Tag über gefastet hätten, ohne
Bissen, ohne Schluck Wassers, und Nahrung

mitnehmen wollten, auch einiges Hab, Gut-

da lachten Kosaken höhnischer noch: „Sucht
euch's nur, alles verbrannt, alles weg!"

Und sie stießen die wehklagenden Juden
mit den Kolben zu Scharen aus dem Tempel,
(Schluß auf Seile 395)
Register
Eduard Zimmermann: Reproduktion einer Plastik
 
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