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35on 2vaoul 2lucrnheimer (Wien)

Jeder trägt ein anderes Kreuz durchs Leben,
und die arme Gritt hatte Ellern. Sie war fünf-
undzwanzig Jahre alt, also immerhin schon groß-
jährig, Witwe, kinderlos und bildhübsch. Daß
sie unter solchen Umständen als einziges Kind
ihrer Eltern bei diesen wohnte, war eigentlich
natürlich, unnatürlich aber war, daß die Eltern
dieses Zusammenwohnen ausnützten, um sie zu
bewachen, zu bevormunden, und ihr ununter-
brochen im Genick zu sitzen. Gritt beklagte sich oft
darüber, wenn eine Freundin bei ihr war und
Mama für einen Augenblick aus dem Zimmer ging;
was übrigens nur in Ausnahmsfällen geschah.

Dieser unerträgliche Zustand ließ sich erklären.
Paga war Rentner, er hatte keinen Beruf und
von Früh bis Abend nichts anderes zu tun, als
der Frau und Tochter im Weg zu stehen. Mama
jedoch, die zu ihrer Zeit selbst eine gefeierte Schön-
heit gewesen war, und jetzt, in Liebreiz alternd,
Gritt als einen störenden Anachronismus etnpfand,
hätte sie schon aus diesem Grunde am liebsten in
halblangen Röcken, mit einem fliegenden Mozart-
zopf im Haus herumgehen sehen.

Dazu kam, daß die Eltern Gritt zu verheiraten
wünschten, mit einem Manne, den sie seit seiner
und ihrer Jugend kannten, achteten und schätzten,
und der ihnen eine in jeder Hinsicht pupillar-
sichere Versorgung ihrer Tochter anbot. Es war
dies der Bankdirektor Weißenstein.

Herr Weißenstein, selbst ein Witwer, kinder-
los und sehr reich, war bis über beide behaarte
Ohren in Gritt verliebt und belagerte sie seit
Jahren wie eine Festung. Aber die Festung (hielt
sich, obwohl der Direktor mit Blumen und Ge-
schenken Sturm lief und Papa das Toilettegcld
in immer kleiner werdenden Rationen zuteilte:
Die Festung) war militärisch besetzt.

Gritt hatte vor ungefähr einem Jahre in Ge-
sellschaft einen jungen Hauptmann kennen gelernt,

der damals noch Oberleutnant mar. Sie lud ihn
freundlich ein und er besuchte sie gegen das Früh-
jahr zu ein paarnial. Die Eltern empfingen iht>
sehr höflich, liebenswürdig und wichen die ganze
Zeit, während er bei Gritt saß, in der zuvor-
kommendsten Weise nicht von seiner Seite. Hin
und wieder erhoben sie sich wohl, und verließen
das Zinimer, aber stets abwechselnd, nie gleich-
zeitig, und innner kamen sie nach wenigen Mi-
nuten wieder zurück, unter vielen Entschuldigungen
und Höflichkeiten, als fürchteten sie den jungen
Offizier durch ein längeres unmotiviertes Aus-
bleiben zu verstimmen.

Der Oberleutnant, deni offenbar mehr daran
gelegen war, mit Gritt allein zu sprechen, ver-
suchte ihr zu telephonieren. Es geschah in einer
Weise, die Gritt nach zahlreichen Erfahrungen
nur zu genau kannte, und deren Wirkung jedes-
mal dieselbe war. So oft nämlich ein Herr die
junge Frau anrief, gingen zunächst Papa oder
Mama ans Telephon, fragten wie er sich befinde
und ob er ihre Tochter zu sprechen wünsche (
was der junge Offizier wie seine Vorgänger be-
jahte. Hierauf tauschten sie nur noch einige wenige
gesellschaftliche Redensarten mit ihm, gaben der
Hoffnung Ausdruck, ihn bald zu sehen, entschul-
digten sich, daß sie nicht länger mit ihm plaudern
konnten und schickten ihm dann gleich Gritt.
Aber mittlerweile war deni jungen Mann die
Lust vergangen, mit ihr zu reden.

Gegen den Sommer zu telephonierte er ein
letztes Mal. Er hatte diesmal das Glück, sie ohne
den üblichen Instanzenzug sprechen zu können, und
fragte gleich, wann er sie besuchen dürfe. Aber
leider konnte ihn Gritt nicht mehr empfangen, da
sie bereits in der Abreise begriffen war. Sie er-
bat sich seinen Besuch auf dem Lande und der
Oberleutnant versprach, bestimmt zu kommen . . .
Da brach der Weltkrieg aus, und alle Besuche
unterblieben.

* * *

In den nun folgenden sieben oder acht Mo-
naten hörte Gritt nur wenig von ihrem Kur-

macher. Er schrieb ihr ein paar Feldpostkarten,
im November gratulierte sie ihm zum Haupt-
mann, im Januar kam ein etwas längeres
Schreiben von ihm, in dem er eine für seine
Truppe von Gritt eingegangene Licbesgaben-
sannnlung „gehorsamst" bestätigte und sie unter
„vielen Händeküssen" seiner „unverbrüchlichen
Verehrung" versicherte. Dann nichts mehr —
die längste Zeit.

Gritt war eine ziemlich verwöhnte kleine Frau.
Als sie anfangs Februar erfuhr, daß der Haupt-
mann unverletzt sei und lebe, daß ihn also keines-
wegs, was sie allenfalls hätte gelten lassen, der
Heldentod verhindert habe, ihre letzte Karte zu
beantworten, schrieb sie ihm auch ihrerseits nicht
mehr - und neigte sich dem Bankdirektor zu. Er
war da, der andere war nicht da, er liebte sie,
von dem anderen wußte sie es zumindest nicht
genau, und dann, wer konnte sagen, wie lange
der Krieg noch dauern würde? Man bleibt nicht
innner fünfundzwanzig.

So schien die Festung nahe daran, sich zu er-
geben — der Bankdirektor hielt sie zerniert, kam
jeden Nachmittag und blieb bis in den späten
Atiend, wie ein hiezu berechtigter Bräutigam —
als plötzlich Entsatz heranrückte.

Eines Morgens, als Gritt in der Zeitung de»
Bericht über die eben stattgehabte Enthüllung des
Eisernen Wehrmannes las, wurde sie telephonisch
angerufen: „Ein Herr, der die junge Frau per-
sönlich sprechen wolle," meldete das Mädchen.

Es war der Hauplmann, der zu ganz kurzem
Aufetithalt in Wien, wo er bienftlid) zu tun hatte,
die Gelegenheit wahrnahm, um sich bei Gritt zu
melden.

Er sprarl> bescheiden den Wunsch aus, sie zu
sehen, und die junge Frau erwiderte mit einer
schon durch die allgemeine Lage gebotenen Herz-
lichkeit :

„Aber selbstverständlich, lieber Hauptmann!
Besucheti Sie mich doch. Wir sind jeden Nach-
mittag . .




Dragoner-Patrouille

Paul Horst-Schulze (Leipzig)
Register
Raoul Auernheimer: Der Nagel
Paul Horst-Schulze: Dragoner-Patrouille
 
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