(Marge,vittcr
Ein dumpfer Maientag — wie lange grollte
Das Wetter schon, nun dröhnt es Blitz und Schlag,
Doch schallend singt, als ob sie's bannen wollte,
Ihr Zauberlied die Nachtigall im Hag,
Und lauter nur, je schwerer Schlag und Wetter,
Zieht ihre Stimme durch den dunkeln Hain;
Bon allen Wipfeln fnU'n die Sänger ein,
Und zum Triumphgesang wird ihr Geschmetter.
Mein deutsches Volk, ich dachte Dein.
O. Crusius
Wenn die Frau verwitwete Amtsgerichtsrat
Brömmerl mit ihren Freundinnen das Cafehaus
besuchte, was regelmäßig einmal in der Woche
geschah, so legte sie falsche Haare und Zähne au
und bekleidete sich mit einer roten Sammetbluse.
Sie wurde dadurch tatsächlich zu einer anderen
Person. Denn ohne diese Zutaten glich sie einer
Aufwartsrau, grau und farblos. Sie war auch
eine Aufwartfrau, sie vermietete Zimmer an Stu-
denten, und ihre Lebensarbeit war bedienen und
den Schmutz jeglicher Art wegputzen, den diese
Herren machten.
Frau Brömnierl hatte einen Sohn Justin
Brömmerl. Justin Brönimerl empfand, das; dieses
Doppelleben seiner Mutter etwas Unwürdiges sei.
Aber er empfand das sehr unklar. Unklarheit
war überhaupt die wesentlichste Eigenschaft Justins.
Es mußte das ein Geburtsfehler sein. Justins
Hirn war augenscheinlich ein großer Brei. Oder
wenn es kein Brei war, dann lagerte doch über
allem ein dichter, schwerer Nebel. Danrit soll
nicht gesagt sein, daß Fustin etwa dumm war.
Keineswegs. Er hatte viele Gedanken, weit mehr
als irgend jemand glaubte. Aber er konnte an
keinen recht herankommen. Wenn er schon einen
kompakt zu haben meinte, da schob sich dazwischen
etwas wie ein Schleier, und Fustin gab es auf,
das Ding fest zu fassen.
Es war klar, daß bei dieser Beschaffenheit
seines Hirns Frau Brömmerls Sohn weder in
der Schule noch im Leben sonderliche Erfolge
haben konnte. Ein Freund seines Vaters, der
Rechtsanwalt Feldmeier, hatte ihn als Schreiber
in seiner Kanzlei eingestellt. Er hatte anfangs
versucht, Fustin Briefe schreiben zu lassen, Auf-
forderungen etwa 300 kg Automobilöl abzunehmen
oder Mahnungen 50 Türstockhölzer zu bezahlen.
Aber was war das, was Brömnierl da zufammen-
schrieb. Es wäre angegangen, wenn Justin Auf-
Frübgtocken
Unter dunkeln Wolkenlämniern
Ruht der alte Himmelshirt,
Eingehüllt in graues Dämmern.
Ob es niemals tagen wird?
Horch — da fängt es an zu hünrmern,
Erz auf Erz —
Glockenherz,
Hast du je so laut geschlagen?
Himmelwärts
Hallt dein Fragen, hallt dein Klagen,
Hallt dein Schmerz,
Erz auf Erz —
Glockenherz,
Hört' ich je so mild dich hämmern,
Hänimern wie in Fieberglut? .. .
Morgenschwüle, graues Dämmern,
Fern ein Saunr von rotem Blut.
Unter dunkeln Wolkenlämmern
Träumt der Himnielshirt und rut)t.
O. <1*11*1 UN
Bon Bsderich Müller
trag gehabt hätte, ein Feuilleton über Automobil-
öl oder Türstöcke zu dichten. Aber als anwalt-
schaftlicher Lärmbrief war es nichts, Sirenenklang
statt Donner des nahenden Gerichtsvollziehers.
Fustin wurde deshalb seines Postens als Droh-
briefschreiber enthoben und in dem Borraum der
Kanzlei einquartiert. Dort war ein Verschlag
von Latten, ähnlich einem kleinen Stall. Da
drinnen saß er und hatte die Klienten zu empfan-
gen. Auch hatte er die Gebühren zu berechnen,
drei Zehntel, sechs Zehntel, acht Zehntel, wie es
die Kostenordnung für Rechtsanwälte vorschrieb.
Das tat er mit Gewissenhaftigkeit. Nebenbei
aber dachte er auch. Unklar natürlich. Das nüt
seiner Mutter stimmte nicht. Entweder sie war
Aufwartefrau, oder sie war berechtigt als Frau
Amtsgerichtsrat in einer rotsamtenen Bluse im
Cafe zu sitzen. Das mit ihm stimmte auch nicht.
Er war der Sohn eines Fustizbeamten und hatte
die Erziehung eines solchen Sohnes. Warum
saß er also in diesem Stalle? Es lag an ihm,
am Mangel an klaren, Denken, an klarem Han-
deln, am Mangel an Energie. Er unißte sich
Energie verschaffen, dann kam er aus diesem
Stall, dann wurde er etwas, dann konnte seine
Mutter immerfort und mit Recht die falschen
Haare, die falschen Zähne und die rotsamtene
Bluse tragen. —
Rechtsanwalt Feldnieier hatte eine stark auf-
geworfene Unterlippe, er war ein Genießer, und
namentlich hielt er es mit der Liebe. Wenn er
gut aufgelegt war, so ermahnte er Fustin Bröm-
inerl, daß er sich aufraffen müsse, und der Schluß
dieser Vorlesung war ständig der gleiche. Er
lautete: „Junger Mann, diese Duselei geht nicht
so weiter. Verlieben Sie sich gründlich, Sie solle»
sehen, wie Sie das zusammenreißt. Liebe gibt
Rückgrat, Liebe gibt Kraft, Liebe ist das kost-
barste Geschenk des Himmels!"
Der Nebelflor wird aufgerollt,
Die Hinmielstür steht offen,
Schon leuchtet hell das Morgengold
Von weißen Firnen und Schroffen.
Durch Ahornwipfel fließt der Schein,
Durchs Fenster auf meine Decke —
Eine Strahlensäule! Fch greif' hinein,
Wie ich mich dehn' und strecke.
Ziehklimm! So laß mich, Sonnenlicht,
Auf deinem Rückgrat reiten —
Oh Trauuigesicht, oh Traumgedicht,
Oh himmelblaue Weite»!
O. CriiMiuM
Fustin bezweifelte das nicht. Aber so lange
Feldmeier seinem Schreiber nicht zugleich auch
ein konkretes Liebesobjekt zuführte, mußte die
ganze Ermahnung leeres Gerede und graue Theorie
bleiben. Denn Brömmerl kannte keine Dame
und hatte and) nicht die Fähigkeit, sich mit irgend
einer bekannt zu machen. —
Fustin kam auf seinem Gange zur Kanzlei
häufig am Kabarett „zum langen Docht" vorüber.
Eines Tages fand er dort rote und grüne Plakate :
„Großartig, phänomenal!"
„Adriana, das geheinmisvolle Rätsel,"
„Adriana, die konkurrenzlose Märchenerscheinung."
„Aktuell, sensationell!"
Zugleich stellte sich in einem Schaukasten
Adriana im Bilde vor, als Mondfee, als Aphro-
dite, als Undine und als Königin der Naä>t. Es
war ein schwaches, knabenhaft gebautes Fraucn-
zinimer, soweit man überhaupt aus den Bildern
etwas erkennen konnte, denn diese waren technisch
miserabel. Überdies aber vor einem Vorhang
ausgenommen, was fraglos das angekündigte
Geheimnis bedeutete.
Eine Baricte-Nuunner wie hundert andere
auch, dachten die meisten Passanten.
Nicht so Justin Brömmerl. Seine Welt lag
hinter Schleiern und Nebel. _ Fn ihm wurde eine
seltsame Sympathie für diese mysteriöse Person
wach, hier fühlte jemand gleich ihm, ein Wesen
nur Hauch und Duft mit schlanken, fast unkörper-
lichen Gliedern.
Am Abend saß er in, „langen Docht". Wahr-
haftig, er wurde nicht enttäuscht. Schleier in allen
Farben zogen über die Bühne, dahinter zeigte
sich Adriana in ihren Verwandlungen, aber was
sie auch tat und vorstellte, imuier blieb sie ein
verträumtes Märchen, gleichgültig gegen ihre Um-
welt, gleichgültig gegen das Publikum, das vor
Begeisterung tobte. Ruhig hob sie ihre dunklen
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Ein dumpfer Maientag — wie lange grollte
Das Wetter schon, nun dröhnt es Blitz und Schlag,
Doch schallend singt, als ob sie's bannen wollte,
Ihr Zauberlied die Nachtigall im Hag,
Und lauter nur, je schwerer Schlag und Wetter,
Zieht ihre Stimme durch den dunkeln Hain;
Bon allen Wipfeln fnU'n die Sänger ein,
Und zum Triumphgesang wird ihr Geschmetter.
Mein deutsches Volk, ich dachte Dein.
O. Crusius
Wenn die Frau verwitwete Amtsgerichtsrat
Brömmerl mit ihren Freundinnen das Cafehaus
besuchte, was regelmäßig einmal in der Woche
geschah, so legte sie falsche Haare und Zähne au
und bekleidete sich mit einer roten Sammetbluse.
Sie wurde dadurch tatsächlich zu einer anderen
Person. Denn ohne diese Zutaten glich sie einer
Aufwartsrau, grau und farblos. Sie war auch
eine Aufwartfrau, sie vermietete Zimmer an Stu-
denten, und ihre Lebensarbeit war bedienen und
den Schmutz jeglicher Art wegputzen, den diese
Herren machten.
Frau Brömnierl hatte einen Sohn Justin
Brömmerl. Justin Brönimerl empfand, das; dieses
Doppelleben seiner Mutter etwas Unwürdiges sei.
Aber er empfand das sehr unklar. Unklarheit
war überhaupt die wesentlichste Eigenschaft Justins.
Es mußte das ein Geburtsfehler sein. Justins
Hirn war augenscheinlich ein großer Brei. Oder
wenn es kein Brei war, dann lagerte doch über
allem ein dichter, schwerer Nebel. Danrit soll
nicht gesagt sein, daß Fustin etwa dumm war.
Keineswegs. Er hatte viele Gedanken, weit mehr
als irgend jemand glaubte. Aber er konnte an
keinen recht herankommen. Wenn er schon einen
kompakt zu haben meinte, da schob sich dazwischen
etwas wie ein Schleier, und Fustin gab es auf,
das Ding fest zu fassen.
Es war klar, daß bei dieser Beschaffenheit
seines Hirns Frau Brömmerls Sohn weder in
der Schule noch im Leben sonderliche Erfolge
haben konnte. Ein Freund seines Vaters, der
Rechtsanwalt Feldmeier, hatte ihn als Schreiber
in seiner Kanzlei eingestellt. Er hatte anfangs
versucht, Fustin Briefe schreiben zu lassen, Auf-
forderungen etwa 300 kg Automobilöl abzunehmen
oder Mahnungen 50 Türstockhölzer zu bezahlen.
Aber was war das, was Brömnierl da zufammen-
schrieb. Es wäre angegangen, wenn Justin Auf-
Frübgtocken
Unter dunkeln Wolkenlämniern
Ruht der alte Himmelshirt,
Eingehüllt in graues Dämmern.
Ob es niemals tagen wird?
Horch — da fängt es an zu hünrmern,
Erz auf Erz —
Glockenherz,
Hast du je so laut geschlagen?
Himmelwärts
Hallt dein Fragen, hallt dein Klagen,
Hallt dein Schmerz,
Erz auf Erz —
Glockenherz,
Hört' ich je so mild dich hämmern,
Hänimern wie in Fieberglut? .. .
Morgenschwüle, graues Dämmern,
Fern ein Saunr von rotem Blut.
Unter dunkeln Wolkenlämmern
Träumt der Himnielshirt und rut)t.
O. <1*11*1 UN
Bon Bsderich Müller
trag gehabt hätte, ein Feuilleton über Automobil-
öl oder Türstöcke zu dichten. Aber als anwalt-
schaftlicher Lärmbrief war es nichts, Sirenenklang
statt Donner des nahenden Gerichtsvollziehers.
Fustin wurde deshalb seines Postens als Droh-
briefschreiber enthoben und in dem Borraum der
Kanzlei einquartiert. Dort war ein Verschlag
von Latten, ähnlich einem kleinen Stall. Da
drinnen saß er und hatte die Klienten zu empfan-
gen. Auch hatte er die Gebühren zu berechnen,
drei Zehntel, sechs Zehntel, acht Zehntel, wie es
die Kostenordnung für Rechtsanwälte vorschrieb.
Das tat er mit Gewissenhaftigkeit. Nebenbei
aber dachte er auch. Unklar natürlich. Das nüt
seiner Mutter stimmte nicht. Entweder sie war
Aufwartefrau, oder sie war berechtigt als Frau
Amtsgerichtsrat in einer rotsamtenen Bluse im
Cafe zu sitzen. Das mit ihm stimmte auch nicht.
Er war der Sohn eines Fustizbeamten und hatte
die Erziehung eines solchen Sohnes. Warum
saß er also in diesem Stalle? Es lag an ihm,
am Mangel an klaren, Denken, an klarem Han-
deln, am Mangel an Energie. Er unißte sich
Energie verschaffen, dann kam er aus diesem
Stall, dann wurde er etwas, dann konnte seine
Mutter immerfort und mit Recht die falschen
Haare, die falschen Zähne und die rotsamtene
Bluse tragen. —
Rechtsanwalt Feldnieier hatte eine stark auf-
geworfene Unterlippe, er war ein Genießer, und
namentlich hielt er es mit der Liebe. Wenn er
gut aufgelegt war, so ermahnte er Fustin Bröm-
inerl, daß er sich aufraffen müsse, und der Schluß
dieser Vorlesung war ständig der gleiche. Er
lautete: „Junger Mann, diese Duselei geht nicht
so weiter. Verlieben Sie sich gründlich, Sie solle»
sehen, wie Sie das zusammenreißt. Liebe gibt
Rückgrat, Liebe gibt Kraft, Liebe ist das kost-
barste Geschenk des Himmels!"
Der Nebelflor wird aufgerollt,
Die Hinmielstür steht offen,
Schon leuchtet hell das Morgengold
Von weißen Firnen und Schroffen.
Durch Ahornwipfel fließt der Schein,
Durchs Fenster auf meine Decke —
Eine Strahlensäule! Fch greif' hinein,
Wie ich mich dehn' und strecke.
Ziehklimm! So laß mich, Sonnenlicht,
Auf deinem Rückgrat reiten —
Oh Trauuigesicht, oh Traumgedicht,
Oh himmelblaue Weite»!
O. CriiMiuM
Fustin bezweifelte das nicht. Aber so lange
Feldmeier seinem Schreiber nicht zugleich auch
ein konkretes Liebesobjekt zuführte, mußte die
ganze Ermahnung leeres Gerede und graue Theorie
bleiben. Denn Brömmerl kannte keine Dame
und hatte and) nicht die Fähigkeit, sich mit irgend
einer bekannt zu machen. —
Fustin kam auf seinem Gange zur Kanzlei
häufig am Kabarett „zum langen Docht" vorüber.
Eines Tages fand er dort rote und grüne Plakate :
„Großartig, phänomenal!"
„Adriana, das geheinmisvolle Rätsel,"
„Adriana, die konkurrenzlose Märchenerscheinung."
„Aktuell, sensationell!"
Zugleich stellte sich in einem Schaukasten
Adriana im Bilde vor, als Mondfee, als Aphro-
dite, als Undine und als Königin der Naä>t. Es
war ein schwaches, knabenhaft gebautes Fraucn-
zinimer, soweit man überhaupt aus den Bildern
etwas erkennen konnte, denn diese waren technisch
miserabel. Überdies aber vor einem Vorhang
ausgenommen, was fraglos das angekündigte
Geheimnis bedeutete.
Eine Baricte-Nuunner wie hundert andere
auch, dachten die meisten Passanten.
Nicht so Justin Brömmerl. Seine Welt lag
hinter Schleiern und Nebel. _ Fn ihm wurde eine
seltsame Sympathie für diese mysteriöse Person
wach, hier fühlte jemand gleich ihm, ein Wesen
nur Hauch und Duft mit schlanken, fast unkörper-
lichen Gliedern.
Am Abend saß er in, „langen Docht". Wahr-
haftig, er wurde nicht enttäuscht. Schleier in allen
Farben zogen über die Bühne, dahinter zeigte
sich Adriana in ihren Verwandlungen, aber was
sie auch tat und vorstellte, imuier blieb sie ein
verträumtes Märchen, gleichgültig gegen ihre Um-
welt, gleichgültig gegen das Publikum, das vor
Begeisterung tobte. Ruhig hob sie ihre dunklen
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